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Wenn alles zu viel wird
Hilfe bei grenzwertiger psychischer Belastung in der Praxis
Schwerpunkt
Foto: RBO
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Wie kann man sich vor Burn-out in der Praxis schützen? An der Jahrestagung von pädiatrie schweiz vermittelte die Psychologin Dr. Sonja Weilenmann praktische Tipps für den Alltag, und Dr. med. Urs Zimmermann stellte gemeinsam mit Dr. med. Mirjam Tanner das Schweizer Ärztenetzwerk ReMed vor, das Hilfe in Krisensituationen anbietet.
Wenn es in Umfragen um beruflichen Stress und Burn-out geht, belegen Ärzte häufig Spitzenplätze. Bei den Pädiatern schwanken die Angaben über den Anteil von Kollegen mit einem erhöhten Burn-out-Risiko je nach Umfrage zwischen 20 und 50 Prozent, bei Ärzten im Allgemeinen sind es 30 bis 40 Prozent. In einer kürzlich publizierten Übersichtsarbeit zur psychischen Belastung von Ärzten in der Schweiz wird von Hinweisen auf eine steigende Prävalenz berichtet, wobei jüngere Ärzte stärker betroffen sind (1). Unter psychiatrischen Erkrankungen, vor allem Depressionen oder Angststörungen, leiden gemäss Selbstauskunft 20 bis 30 Prozent der Schweizer Ärzte. Im Vergleich mit einer repräsentativen Gruppe gleichaltriger Personen sei die Prävalenz für Depressionen und Angststörungen unter Assistenzärztinnen und -ärzten 2- bis 7-mal höher, sagte die Psychologin und Erstautorin der genannten Übersichts arbeit, Dr. phil. Sonja Weilenmann, Universitätsspital Zürich. Darüber hinaus geben mindestens 50 Prozent der Schweizer Ärzte an, keine gute Work-Life-Balance zu haben, und die durchschnittliche Wochenarbeitszeit von Assistenzund Oberärzten beträgt im langjährigen Mittel 56 Stunden pro Woche. Kein Wunder also, dass 10 bis 40 Prozent der Schweizer Ärzte schon einmal daran gedacht haben, ihren Beruf aufzugeben – obwohl die Mehrheit von ihnen mit ihrer Tätigkeit trotz aller Widrigkeiten einigermassen bis sehr zufrieden ist (1).
Probleme anders bewerten
Überlastung und Burn-out im ärztlichen Alltag seien kein Zeichen individueller Schwäche, sondern ein Problem widriger Umstände im Gesundheitssystem, betonte Weilenmann. Weil sich an den Arbeitsbedingungen nicht so einfach etwas ändern liesse, sei der Aufbau psychischer Widerstandsfähigkeit (Resilienz) umso wichtiger. Beispielsweise könne man bei Belastungen versuchen, die Perspektive auf das Problem zu ändern. «Einmal mit anderen Augen und etwas mehr Abstand betrachtet, wiegen Dinge oft nicht mehr so schwer, wie wenn man sich mittendrin befindet», so die Referentin. Gerade bei starker Selbstkritik könne es hilfreich sein, zu überlegen, was man einem guten Freund in derselben Situation raten würde, da man dann auch gutmütiger gegenüber sich selbst sei. Auch seien Menschen dazu veranlagt, Nega
tives stärker wahrzunehmen als Positives, was auf die Stimmung drücke. «Wenn man sich regelmässig bewusst die positiven Erlebnisse vor Augen führt, die man persönlich erlebt hat, kann man dem entgegenwirken», sagte Weilenmann.
Psyche und Körper
«Nutzen Sie auch den Körper, um Emotionen zu regulieren», sagte Weilenmann. Die Forschung zum sogenannten Embodiment zeigt, wie eng die Wechselbeziehung zwischen Psyche und Körper ist. So sind zum Beispiel Körperhaltung und Mimik nicht nur ein nonverbaler Ausdruck innerer Zustände, sondern eine bestimmte Körperhaltung oder Mimik (z. B. eine bewusst aufrechte Haltung, Lachen) können eine Veränderung der Emotionen bewirken. Das Prinzip des Embodiments demonstrierte Weilenmann für alle Anwesenden anschaulich und fühlbar, indem sie das Auditorium in zwei Gruppen aufteilte, die beim Betrachten eines spassig gemeinten Fotos unterschiedliche Muskelgruppen im Gesicht anspannten, die mit dem Lachen zusammenhängen. Bei der anschliessenden Beurteilung, ob dieses Foto nun tatsächlich als lustig empfunden wurde oder nicht, zeigte sich ein Unterschied zwischen den beiden Gruppen. Auch körperliche Aktivitäten und Bewegung wirkten sich auf unsere Psyche aus, und Studien zeigten, dass Sport mitunter gleich wirksam oder wirksamer sein könne als eine Psychotherapie, sagte Weilenmann. Nichtsdestotrotz empfahl sie belasteten Ärztinnen und Ärzten, frühzeitig professionelle Unterstützung zu suchen. Dabei sei es fundamental für den Therapieerfolg, dass Therapeut und Klient zueinander passten: «Brechen Sie nicht die Psychotherapie ab, sondern versuchen Sie es mit einem anderen Therapeuten, wenn Sie das Gefühl haben, nicht vorwärts zu kommen oder es nicht ganz für Sie stimmt.»
Unterstützungsnetzwerk ReMed
ReMed ist ein seit mehr als 10 Jahren bestehendes Peer-Netzwerk von Ärzten für Ärzte, das Rat und Hilfe in Krisensituationen anbietet. Waren es 2012 erst 93 Fälle pro Jahr, zählte man im vergangenen Jahr 253 hilfesuchende Ärztinnen und Ärzte, die sich per Mail oder telefonisch mit ReMed in Verbindung setzten. Angesichts der von Weilenmann genannten Daten zur psychischen Be-
Dr. Sonja Weilenmann Dr. med. Urs Zimmermann
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lastung von Ärzten in der Schweiz sei davon auszugehen, dass sich viele Kollegen offenbar noch scheuten, Hilfsangebote anzunehmen, sagte Dr. med. Urs Zimmermann, Spital Bülach, der als Mitglied im ReMed-Netzwerk aktiv ist. Man spüre bei der Erstberatung immer noch die Scham und die Zurückhaltung bei einem grossen Teil der Rat suchenden Kolleginnen und Kollegen, sagte Dr. med. Mirjam Tanner, Psychiaterin und Mitglied im Leitungs ausschuss von ReMed. Die FMH trägt die Kosten für 2 Stunden Erstberatung. ReMed ist eine ärzteeigene, von der FMH finanzierte, unabhängige Organisation und orientiert sich in seiner Vorgehensweise an den gesetzlichen Rahmenbedingungen sowie an der Standesordnung der FMH, heisst es auf der Homepage von ReMed (2). «Es gehen keine Daten von Ratsuchenden an die FMH», betonte Zimmermann. Der ratsuchende Arzt gilt als Patient. Er hat die entsprechenden Rechte, und die ReMed-Berater unterliegen der Schweigepflicht. Die Kontaktaufnahme mit ReMed kann per Mail oder telefonisch erfolgen: • remed@hin.ch • 0800 0 73633 (24-Stunden-Hotline). Bei Kontaktaufnahme per Mail meldet sich ein Erstberater innert 72 Stunden. Die ReMed-Hotline ist an allen Tagen rund um die Uhr erreichbar. Sie vermittelt den Kontakt mit einem Erstberater ebenfalls innert 72 Stunden, veranlasst jedoch in Krisensituationen ein rascheres Ein greifen.
Weitere Berater gesucht
Zimmermann und Tanner warben um neue Berater für ReMed. Oft wäre nach der Erstberatung eine weitere Begleitung sinnvoll, sodass man weitere Berater benötige. Wer sich engagieren möchte, wird gebeten, ein Motivationsschreiben, seinen Lebenslauf sowie die Referenz eines Kollegen oder eines ReMed-Mitglieds an ReMed zu senden (info@swiss-remed.ch). Die Voraussetzungen, um als Berater bei ReMed mitzumachen, sind nicht genau festgelegt. Ziel ist ein möglichst breites Spektrum an Beratern mit verschiedenen Kompetenzen. «Je mehr Netzwerker mitmachen, umso grösser wird die Auswahl an Beratern und umso zahlreicher die Möglichkeiten, den Ratsuchenden zu helfen», sagte Zimmermann.
Renate Bonifer
Session: Ärzt:innen an der Grenze der psychischen Belastbarkeit. Jahresversammlung pädiatrie schweiz am 15. Juni 2023 in Interlaken.
Literatur: 1. Weilenmann S et al.: 20 Jahre Forschung zu Burn-out und anderen Belastungs indikatoren bei Schweizer Ärztinnen und Ärzten. Prim Hosp Care. 2023;23(4):114-120. 2. https://remed.fmh.ch (abgerufen am 2. August 2023).
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