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Schwerpunkt
Kriterien für gute Kinderschuhe
Anforderungen gemäss Alter und Aktivitäten bedenken
Minderwertige Schuhe verschlechtern ein anatomisches oder funktionelles Defizit des Fusses. Vorteilhafte Schuhe hingegen können Defizite ausgleichen. Sie verhindern meist, dass überhaupt Beschwerden entstehen. Es ist deshalb wichtig, bereits in der Kindheit eine gute Schuhwahl zu etablieren. Dieser Artikel erläutert die Kriterien für gutes Schuhwerk.
Von Carlo Camathias
Seit es Menschen gibt, werden Schuhe getragen. Die funktionellen Aspekte, wie Schutz vor Kälte oder Hitze, waren wohl die wichtigsten Gründe, weshalb diese Kleidungsstücke überhaupt erfunden wurden. Neben dieser Funktion trat, zunehmend wichtiger, die Mode in das Bewusstsein des Homo sapiens. Sie treibt mitunter seltsame Blüten. Die Funktion des Schuhs wird zwar auch heute noch als bedeutsam angesehen, insbesondere wenn es sich um Arbeitsschuhe handelt, die schützen und die Füsse trocken halten sollen. Die Mode wird jedoch immer wichtiger. Der Schuhkauf richtet sich mehr nach dem jeweiligen Trend und den Vorlieben der Kunden als nach den Bedürfnissen der Füsse. Minderwertige Schuhe verschlechtern jedoch ein anatomisches oder funktionelles Defizit des Fusses. So aktiviert ein Knick-Senk-Fuss beispielsweise vermehrt den M. tibialis posterior in der Standphase. Gleichzeitig vermindert sich die Aktivität der M. peronaeus longus, und der M. tibiales anterior wird früher und stärker aktiv (1). Mit diesen Aktivitäten möchte der Körper den KnickSenk-Fuss besser stabilisieren. Werden aber gleichzeitig zu weiche Schuhe getragen, welche zu stark dämpfen oder im Bereich des Rückfusses keine Stabilität aufweisen, knickt der Fuss mit dem Schuh noch weiter ein. Diese zusätzliche Instabilität ist für den Fuss zu viel – er beginnt zu schmerzen. Die Beschwerden treten typischerweise auf der Innenseite des Fusses auf, teilweise um den Malleolus medialis, oder sie ziehen auf der Innenseite des Unterschenkels hoch zum Kniegelenk. Durch weitere Kompensationsmechanismen ist sodann die laterale Seite des Oberschenkels, vor allem der M. tensor fasciae latae schmerzvoll betroffen. Vereinzelt schmerzt der Rücken lumbal. In diesem Zusammenhang sollten bei Patienten mit Schmerzen an den Füssen oder an den Kniegelenken immer auch die Schuhe untersucht werden. Nicht selten sieht man dort die Ursache des Übels (Abbildung 1). Schuhe sollen den Fuss schützen. Diesem Paradigma wird
Abbildung 1: Beispiel für schlechte Schuhe mit zu weicher Sohle und ohne stabilisierten Rückfuss. Der Fuss knickt mit dem Schuh stärker ein als barfuss.
kaum widersprochen. Wie und ob ein Schuh die Entwicklung des Fusses im wachsenden Skelett beeinflusst, wird teilweise heftig debattiert. Soll man besser barfuss laufen oder mit Schuhen? Die Datenlage ist eher dünn. Es finden sich minimale Unterschiede zwischen häufigen Barfussläufern und Schuhträgern: Die Schrittlänge ist grösser, die Kadenz kleiner, und gewisse Muskeln (M. tibialis anterior) werden häufiger in Schuhen gebraucht. Die Krafteinwirkung scheint beim Barfussläufer geringer zu sein als beim Schuhläufer. Zusammenfassend notiert die aktuelle Literatur, dass Schuhe sehr wohl die Gangparameter beeinflussen. Wie diese Parameter auf lange Sicht wirken bzw. den Fuss beeinflussen und ob damit klinische Beschwerden ausgelöst werden, bleibt unklar (2, 3). Wer braucht denn nun Schuhe und wer nicht? Welche Schuhe sollten es sein?
Säuglinge
Solange ein Säugling nicht läuft, braucht er keine Schuhe. Einfache Socken genügen, um vor der Witterung zu schützen. Trotz allem beginnen bereits Säuglinge zu stehen oder einige Schritte zu laufen. Damit der Säugling
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auf glatten Böden nicht ausrutscht, haben sich in diesem Alter Socken mit Gumminoppen etabliert. Merke: Socken reichen!
Ab dem ersten Lebensjahr
Nach Laufbeginn werden meist die ersten Rufe nach geeigneten Schuhen laut. In dieser Phase sind «richtige Schuhe» meist nicht notwendig, sondern lediglich stärkere Socken, welche dem Abrieb standhalten. Der Fuss sollte sich darin vollständig bewegen können und jegliche Torsion ermöglichen. Der Fuss gleicht häufig einem Knick-Senk-Fuss. Dieser Eindruck täuscht, da sich auf der medialen Fussseite ein Fettgewebe befindet, das den Anschein erweckt, das Längsgewölbe sei eingesunken. Dieser Eindruck verschwindet im Verlauf der nächsten Jahre. Ein vermeintlicher Knick-Senk-Fuss ist nicht mehr vorhanden (4) (Abbildung 2). Merke: Starke Socken reichen!
Abbildung 2: 7 Monate alter Säugling. Das mediale Fettgewebe vermittelt den Eindruck eines typischen Knick-Senk-Fusses.
Ab dem 2. Jahr
Die Aktivität der Kinder nimmt ab dem 2. Lebensjahr exponentiell zu. Häufig werden erste Sportlektionen besucht. Die Füsse sollten in dieser Lebensphase so gut und so viel wie möglich belastet werden. Jetzt ist eine zu rigide Schuhform nicht optimal für den Fuss. Barfuss oder maximal in weichen Schlappen zu turnen, ist optimal für ein wachsendes Skelett. Falls Schuhe gebraucht werden, sollten diese so weich wie möglich sein und eine flache Sohle haben. Gleichzeitig steigt die Belastung auf hartem Untergrund, sodass Schuhe im Rückfussbereich mehr Stabilität brauchen. Dieser Aspekt wird erst ab dem 4. Lebensjahr wirklich wichtig und im nächsten Abschnitt diskutiert. Merke: Weiche Schlappen oder Schuhe mit flacher Sohle und hartem Rückfussbereich!
Ab dem 4. Jahr
Nun steigt die Belastung der Kinder und damit ihrer Füsse. Die Ansprüche an Schuhe steigen ebenfalls. Ein Schuh muss jetzt mit unterschiedlichen Situationen zurechtkommen. Im Gegensatz zu Erwachsenen, die einen bestimmten Schuh für eine klar definierte Tätigkeit gebrauchen, ist die Kleinkindphase mit vielfältigen Verrichtungen ausgefüllt. So wird nicht nur gerannt, sondern auch gesprungen, gerobbt, Fahrrad gefahren usw. Damit wächst der Anspruch an den Schuh und dessen Stabilität. Vor allem die stabile Rückfussführung tritt mehr in den Fokus der Aufmerksamkeit. Die Kappe, welche die Ferse umschliesst, sollte hart und eng gearbeitet sein. Die Sohle sollte nicht zu rutschig sein, damit das Kind in der Turnhalle nicht ausrutscht. Gleichzeitig sollte sie nicht zu fest am Boden kleben, damit es nicht über die eigenen Sprunggelenke knickt. Die meisten Hallenschuhe wurden nach diesen Vorgaben entwickelt. Nach wie vor braucht ein Schuh keine wirkliche Dämpfung, da die Füsse weiterhin weich sind und eine eigene Dämpfung eingebaut haben. Die Schuhe sollten flach sein, und der Vorfuss sollte sich dort biegen, wo sich die Zehengrundgelenke befinden. Knickt der Schuh weiter hinten in der Sohle ein, entstehen unphysiologische Biegebelastungen im Bereich des Mittelfusses (Abbildungen 3A und 3B ).
Abbildung 3: A: Der Schuh knickt zu weit hinten im Bereich des Mittelfusses. Es ensteht eine unphysiologische Biegebelastung des Fusses. B: Der Schuh knickt, wie gewünscht, im Bereich des Zehengrundgelenks.
Merke: Stabiler Rückfussbereich, Biegung des Vorfusses beim Zehengrundgelenk!
Primarschulalter, ab dem 6. Lebensjahr
Der Fuss wird zunehmend stabiler. Die Beweglichkeit hingegen nimmt ab. Der Kinderfuss wird teilweise genauso stark belastet wie beim Erwachsenen. Damit kommt erstmals die Dämpfung des Schuhs ins Spiel. Diese sollte nach wie vor nicht ausgeprägt sein. Die Schuhe dürfen keine weichen Sohlen haben, welche sich mit einem Finger eindrücken lassen. Die Sohle sollte keine «Luftmatratze» sein. Praktisch alle Schuhmodelle weisen in diesem Alterssegment einen Absatz auf, welcher eigentlich nicht notwendig wäre. Erst nach Abschluss des Wachstums darf der Absatz mehr als 1 cm betragen. Merke: Wie vorheriger Schuh, nun mit leichter Dämpfung, wenig Absatz.
Ab dem 12. Lebensjahr
Der Fuss erreicht zunehmend die finale Grösse, bei Mädchen zwischen dem 12. und 13. Lebensjahr, bei Jungen ab dem 14. Lebensjahr. Die Dämpfung ist zwar wichtiger, sollte aber dessen ungeachtet gemäss der Sportart und des Bodens ausgesucht werden. Grundsätzlich sollte so wenig wie möglich gedämpft werden. Bei harten Böden führt ein ungedämpfter Schuh jedoch häufiger zu Verletzungen. Zu viel Dämpfung kann eine Überlastung der Muskulatur nach sich ziehen. Hier gilt es, etwas auszuprobieren, bis die ideale Dämpfung gefunden wird. Meist gilt aber auch hier: Weniger ist mehr (Abbildung 4) (5). Merke: Wie vorheriger Schuh, nun mit mehr Dämpfung, je nach Sport.
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zusätzliche Öse geführt, kann der Fuss zusätzlich stabilisiert werden. Das Video «Wofür ist das 2. Loch am Sportschuh?» (https://youtu.be/vj2TDLwJxes) zeigt die genaue Technik. Welche Technik verwendet wird, um die Schnürsenkel zu binden, ist nicht so wichtig. Es sollte jedoch darauf geachtet werden, dass am Schluss ein Schifferknoten (https://youtu.be/rQSDpXlx7VU) resultiert. Ansonsten wird der Knoten früher oder später wieder aufgehen.
Abbildung 4: Moderner Sportschuh. Der Bereich des Rückfusses (Bereich A) ist sehr hart und stabil. Der Fuss kann nicht nach innen wegknicken (Pronation). B: Sprengung bzw. Absatz: Es besteht ein Unterschied zwischen dem vorderen und dem hinteren Anteil der Sohle.
Allgemeine Anforderungen an Kinderschuhe
Schuhgrösse: Ein kritischer Punkt bei der Wahl der richtigen Schuhe ist deren Grösse. Unterschiedliche Studien kommen zu dem gleichen Schluss, dass ein Grossteil der Kinder mit zu kleinen Schuhen herumläuft. Es ist deshalb wichtig, nach dem Schuhkauf immer wieder die Grösse der Schuhe zu kontrollieren. Beim Kauf sollte der Fuss im Laden ausgemessen werden. Es empfiehlt sich immer, beide Füsse auszumessen, da manchmal unterschiedliche Fussgrössen links und rechts gefunden werden. Sollte das der Fall und der Unterschied nicht allzu gross sein, wird der grössere Fuss als Massgabe genommen. Als Richtwert für die Grösse der Schuhe gilt, dass der Fuss vorn im Schuh einen Daumen breit (ca. 1,5 cm) Platz haben sollte. Nicht immer ist die Grosszehe auch die längste Zehe. Beim griechischen Fuss ist die zweite Zehe die längste. Wird in diesem Fall die Grosszehe als Richtwert genommen, wird die zweite Zehe unweigerlich früher oder später weggedrückt. Dadurch können Schmerzen und Fehlstellungen entstehen. Material und Gewicht: Kinderfüsse, vor allem die Füsse von Jugendlichen, produzieren mehr Schweiss als Erwachsene. Diesem Umstand sollte das Material des Schuhs Rechnung tragen und atmungsaktiv sein. Gleichzeitig sollten die Schuhe nicht zu schwer sein. Verschluss: Mit Schnürsenkeln lässt sich der Fuss grundsätzlich besser stabilisieren als mit Klettverschlüssen oder ganz ohne entsprechende Vorrichtung. Teilweise kann mit guten Klettverschlüssen die gleiche Wirkung wie mit Schnürsenkeln erzielt werden. In manchen Schuhen findet sich am oberen Rand eine zweite nicht benutzte Öse, die etwas weiter nach hinten versetzt ist. Wird der Schnürsenkel mit der geeigneten Technik durch diese
Tipps für den Schuhkauf
● Schuhe sollte man am Nachmittag kaufen, wenn der Fuss bereits etwas müde ist und sich ausgedehnt hat. Ansonsten werden häufig zu kleine Schuhe gekauft.
● Man sollte die gleichen Socken tragen, die man später auch in diesen Schuhen tragen möchte.
● Im Bereich der Fussballen muss Platz vorhanden sein. Wenn der Schuh drückt oder der Fuss rutscht, sucht man besser andere Schuhe, die von Beginn an passen. Die Breite des Schuhs ist wichtig: Eine Nummer grösser wird den Schuh nicht breiter machen und das Problem des engen Schuhs nicht lösen. Gleichzeitig sollte beachtet werden, dass Jungen breitere Füsse haben als Mädchen.
● Neben modischen Trends sollte immer der funktionelle Aspekt der Schuhe beachtet werden.
● Bei aktiven Jugendlichen ab dem 10. Lebensjahr empfiehlt sich ein stabilisierter Rückfuss. Die Schuhe sollten so wenig Absatz wie möglich und eine dem Sport angepasste Dämpfung besitzen.
Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Carlo Camathias Praxis Zeppelin Brauerstrasse 95 9016 St. Gallen E-Mail: carlo.camathias@hin.ch
Interessenlage: Der Autor erklärt, dass keine persönlichen oder finanziellen Interessenkonflikte bestehen.
Alle Abbildungen wurden vom Autor zur Verfügung gestellt (© C. Camathias).
Literatur: 1. Murley GS, Menz HB, Landorf KB: Foot posture influences the electromyographic activity of selected lower limb muscles during gait. J Foot Ankle Res. 2009;2:35. 2. Morrison SC et al.: Big issues for small feet: developmental, biomechanical and clinical narratives on children‘s footwear. J Foot Ankle Res. 2018;11:39. 3. Wegener C et al.: Effect of children‘s shoes on gait: a systematic review and meta-analysis. J Foot Ankle Res. 2011;4:3. 4. Camathias C: Pädiatrischer Knick-Senkfuß. Sports Orthopaedics and Traumatology. 2021;37(3):279-282. 5. Walther M et al.: Anforderungen an den Kindersportschuh vor dem Hintergrund der Entwicklung des Kinderfußes: Eine systematische Literaturübersicht. Fuß & Sprunggelenk. 2005;3:23-33.
Linktipps
Schnüren von Sportschuhen: www.rosenfluh.ch/qr/video_sportschuh
Schifferknoten www.rosenfluh.ch/qr/video-schifferknoten
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