Transkript
Schwerpunkt
Komplexe Fussprobleme sehen und besser verstehen
Wenn es am Fuss offensichtlich ein Problem gibt
Die meisten Fussfehlstellungen sind entweder angeboren oder erworben. Komplexe Fehlstellungen können meist sowohl konservativ als auch operativ behandelt werden. Die Wahl der Therapie hängt von den Beschwerden, dem funktionellen Anspruch und dem voraussichtlichen natürlichen Verlauf der jeweiligen Erkrankung ab.
Von Bernhard Speth
Ein komplexes Fussproblem ist auf den ersten Blick wesentlich einfacher zu erkennen als ein einfaches Fussproblem. Erschwert wird die Unterscheidung durch die Tatsache, dass der Übergang vom einfachen zum komplexen Problem fliessend ist und dass es nicht einmal eine einheitliche Definition dafür gibt, was ein «normaler» Fuss ist. Je nach Ausprägung kann sich auch aus einer anfangs einfachen Fehlstellung ein komplexes Problem entwickeln. Ein gutes Beispiel hierfür ist der neurogene Klumpfuss. Kinder mit Erkrankungen des Nervensystems oder mit neuromuskulären Erkrankungen werden mehrheitlich mit normalen Füssen geboren. Im Laufe der Entwicklung
können krankhafte Einflüsse auf den Fuss (z. B. Spastik, Lähmung, verändertes Knochenwachstum) funktionelle Änderungen und schliesslich strukturelle Verformungen der Füsse bewirken. Anfänglich ist eine Fehlstellung oft noch flexibel. Wenn sie unbehandelt bleibt oder trotz Behandlung fortschreitet, kann sie zu einer strukturell fixierten Deformität werden. In manchen Fällen ist eine neu beobachtete Fussfehlstellung das erste Symptom einer möglichen zugrunde liegenden Erkrankung. So sollte beispielsweise eine neu aufgetretene Hohlfussstellung im Kindes- und Jugendalter stets differenzialdiagnostisch an eine neurologische oder neuromuskuläre Ursache denken lassen.
Tabelle 1:
Glossar der Bewegungsrichtungen mit Beispielen
Bewegungsrichtung Definition
Beispiele
Abduktion Adduktion
Plantarflexion/ Dorsalextension
Valgus/Varus Eversion Inversion
Der Vorfuss zeigt in der Transversalebene von der Mittellinie weg.
Der Vorfuss zeigt in der Transversalebene zur Mittellinie hin.
Bezeichnet die Bewegung des Vorfusses in der Sagittalebene von der Tibia weg bzw. zur Tibia hin.
Kippung des Rückfusses in der Frontalebene nach medial bzw. nach lateral
OSG in Dorsalextension, USG in Supination und Innenrotation
OSG in Plantarflexion, USG in Pronation und Aussenrotation
Abduktions-Knick-Senk-Fuss, angeborener Plattfuss (Talus verticalis), Arthrogrypose, infantile CP
Sichelfuss, Klumpfuss, Serpentinenfuss, CP
Plantarflexion eingeschränkt: Hakenfuss/Plattfuss, symptomat. Os trigonum, Coalitio, schlaffe/spastische Lähmung; Dorsalextension eingeschränkt: Spitzfuss, ventrales OSG-Impingement, schlaffe/spastische Lähmung
Valgus: physiologisch, Pes planovalgus, Pes calcaneovalgus, Talus verticalis; Varus: Pes cavovarus, Klumpfuss
Abduktions-Knick-Senk-Fuss
Klumpfuss, Kompartmentsyndrom
CP: Zerebralparese; OSG: oberes Sprunggelenk; USG: unteres Sprunggelenk
Einteilung nach Anatomie, Funktion und Form
Zur Unterscheidung und zum Verständnis der einzelnen Fussprobleme können diese nach ihrem klinischen Erscheinungsbild klassifiziert werden. Von der subtilen Auffälligkeit bis zur grotesken Fehlstellung oder Fehlbildung gelten dabei die gleichen Grundsätze für deren Erkennung und Verständnis. Der Fuss kann anatomisch in Sprunggelenk, Rückfuss, Mittelfuss und Vorfuss untergliedert werden. Zwischen den einzelnen Segmenten sind physiologischerweise bestimmte Bewegungen möglich. Dadurch können die Füsse bestimmte Stellungen beziehungsweise Fehlstellungen einnehmen. Ist eine Fehlstellung flexibel, handelt es sich um ein funktionelles Problem. Ist der Fuss in der Fehlstellung fixiert, ist von einem strukturellen Problem auszugehen. Die Nomenklatur kann in diesem Zusammenhang sehr verwirrend sein. Abbildung 1 und die Tabellen 1 und 2 geben eine Übersicht über die Nomenklatur der wichtigsten Bewegungsrichtungen und der häufigen Fussfehlstellungen. Die komplexen Fussdeformitäten können für ein besseres Verständnis in folgende Hauptformen eingeteilt werden: ● Spitzfuss ● Klumpfuss
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● Hohlfuss ● Abduktions-Knick-Senk-Fuss ● Fussfehlbildungen.
Viele Fussdeformitäten folgen in ihrer Ausrichtung den physiologischen Bewegungsrichtungen der einzelnen Segmente. Oft sind bei einer Fussdeformität mehrere segmentale Fehlstellungen kombiniert vorhanden. Der Klumpfuss und der Abduktions-Knick-Senk-Fuss sind jeweils ein Beispiel für die Extremform einer Kombinationsfehlstellung in Pronation beziehungweise Supination (Abbildungen 1–3). Anhand einzelner Beispiele werden im Folgenden die häufigsten komplexen Fehlstellungen dargestellt.
Spitzfuss
Der Begriff Spitzfuss bezeichnet eine Fussstellung mit erhöhter Plantarflexion im oberen Sprunggelenk (OSG). Man unterscheidet den funktionellen, beweglichen Spitzfuss (z. B. kompensatorisch bei Beinlängendifferenz, habitueller Spitzfuss, Spitzfuss bei Muskelschwäche) vom strukturell fixierten Spitzfuss. Während der funktionelle Spitzfuss in der klinischen Untersuchung eine Beweglichkeit im OSG bis mindestens in die Neutralstellung zulässt, ist die Fehlstellung beim strukturellen Spitzfuss in Richtung Plantarflexion verschoben. Der funktionelle Spitzfuss kann zum Beispiel kompensatorisch durch eine Überaktivität der spastischen Wadenmuskulatur, durch Muskelschwäche oder ein Schonverhalten wegen Schmerzen entstehen. Der strukturelle Spitzfuss ist mit einer Verkürzung der Wadenmuskulatur oder Fibrosierung der Weichteile vergesellschaftet. Untersuchung: In der klinischen Untersuchung beurteilt man deshalb einerseits die aktive und andererseits die passive Beweglichkeit im OSG. Hierbei gilt es vor allem zu unterscheiden, ob eine Verkürzung des gesamten Musculus triceps surae oder einer seiner einzelnen Anteile vorliegt. Mit dem Silverskjöld-Test können die jeweils verkürzten Anteile des M. triceps surae untersucht werden. Die Dorsalextension bei gebeugtem Knie mit in Supination blockiertem unteren Sprunggelenk (USG) ergibt die Länge des M. soleus. Die Dorsalextension bei gestrecktem Knie und durch Supination blockiertem USG ergibt die Länge der Musculi gastrocnemii, da es sich dabei um zweigelenkige Muskeln handelt. Die Dorsalextension bei gestrecktem Knie und freiem USG ergibt ligamentäre und kapsuläre Einschränkungen. Behandlung: Funktionell führt der Spitzfuss zu einer ausschliesslichen Belastung des Vorfusses ohne Fersenkontakt. Die dadurch verminderte Standfläche führt zu einer Instabilität mit Auswirkungen auf die Körperkontrolle und das Gleichgewicht. Der Spitzfuss kann mit einem Absatz am Schuh oder an der Orthese einfach korrigiert werden. Dadurch wird ein Fersenkontakt und somit ein effizienteres Gehen ermöglicht. Erkennt man, dass sich eine Kontraktur entwickelt, sollte dem durch frühe therapeutische Massnahmen entgegengewirkt werden. Im Vordergrund stehen die Behandlung mit Physiotherapie, die Schienung mit Orthesen zur funktionellen Gangverbesserung und zur Vermeidung der Progression sowie die Therapie mit Botulinumtoxin bei Vorliegen einer spastischen Ursache. Zur Verbesserung der Gelenkbeweglich-
Tabelle 2:
Glossar der Fussfehlstellungen mit Beispielen
Fussdeformitäten Definition
Beispiele
Pes equinus
Pes calcaneovalgus
Pes cavovarus
Pes planovalgus Pes equinus excavatus adductus et supinatus
Der Fuss steht in Plantarflexionsstellung (Spitzfuss), oft ist die Ferse zusätzlich nach innen gekippt. Der Vorfuss steht höher als die nach aussen gekippte Ferse (Hakenfuss). Die innere Fusslängswölbung ist verstärkt, oft ist die Ferse zusätzlich nach innen gekippt.
Die Fusslängswölbung ist vermindert oder aufgehoben. Klumpfussstellung mit Spitz-HohlSichelfuss mit Supination des Rückfusses
CP, Insult, habitueller Zehengang, Friedreich-Ataxie, Multiple Sklerose, Klumpfuss
Hakenfusshaltung, kongenitaler Plattfuss (Talus verticalis)
Charcot-Marie-Tooth, CP, Muskeldystrophien, periphere Nervenverletzungen, Myelomeningozele, spinale Lipome, Tethered-ChordSyndrom, Kompartmentsyndrom
Knick-Senk-Fuss, Trisomie 21, Marfan-Syndrom, Myelomeningocele
Kongenitaler/erworbener Klumpfuss
CP: Zerebralparese
Abbildung 1: Physiologische Bewegungsrichtungen am Fuss, denen auch Fussfehlstellungen häufig folgen. Bei den meisten Deformitäten ist mehr als eine Fehlstellung in Kombination vorhanden. Links: Klumpfuss mit Plantarflexion, Supination und Adduktion. Rechts: Abduktions-Knick-Senk-Fuss mit Dorsalflexion, Aussenrotation und Abduktion.
Abbildung 2: Dieser Junge mit einer spastischen Zerebralparese weist am linken Fuss eine neurogene Klumpfussstellung auf, während rechts ein Spitzfuss mit Mittelfussinstabilität besteht.
keit durch Dehnungsbehandlung der Muskulatur steht in ausgewählten Fällen die sogenannte Gipsredression zur Verfügung. Diese bietet sich nebst der Physiotherapie bei beginnenden spastischen Spitzfüssen oder beim habituellen Zehengang mit leichter struktureller Komponente an. Bei ausgeprägten Kontrakturen kommt diese Methode nicht mehr in Betracht. Bei passiv korrigierbaren und funktionell wenig störenden Spitzfussstellungen sollte man zuerst die konservative
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Abbildung 3a: Die Einzelkomponenten des Abduktions-Knick-Senk-Fusses (Bildmitte) treten in unterschiedlicher Ausprägung meist nicht isoliert, sondern in Kombination auf. Beispiel im Bild rechts: Pes planovalgus; im Bild unten: Pes calcaneovalgus.
Abbildung 3b: Der Klumpfuss (Bildmitte) umfasst im Wesentlichen 4 Einzelkomponenten, die entweder isoliert oder in Kombination auftreten können. Beispiel im Bild links: Pes cavovarus; im Bild unten: Pes equinus.
Therapie ausschöpfen. Strukturelle Deformitäten bedürfen gegebenenfalls einer Operation, wenn diese der funktionellen Verbesserung dient. Bei den operativen Verfahren gilt es zu bedenken, dass eine Verlängerung von Muskeln und Sehnen stets zu einer Schwächung führt. Eine Überkorrektur ist deshalb unbedingt zu vermeiden.
Klumpfuss
Der Klumpfuss kann angeboren oder im Laufe des Lebens erworben sein. Er kann isoliert oder syndromal in Verbindung mit anderen angeborenen Fehlbildungen oder Deformierungen auftreten. Er ist das Paradebeispiel für eine komplexe Fussdeformität. Ähnlich wie beim Spitzfuss können funktionelle von strukturellen Formen unterschieden werden. Auch wenn der idiopathische Klumpfuss in der Regel mit konservativen Massnahmen gut zu behandeln ist, handelt es sich dennoch um eine komplexe Fussdeformität, die sich aus mehreren fixierten Einzeldeformitäten zusammensetzt. Der lateinische Begriff Pes equinovarus, supinatus, excavatus et adductus be-
zeichnet diese einzelnen Komponenten. Es handelt sich also um einen kombinierten Spitz-Hohl-Sichelfuss mit Rückfussvarus. Das Verständnis dieser einzelnen Komponenten ist vor allem für den Behandler essenziell, da bei der Therapie der Fehlstellung diese einzelnen Bestandteile gezielt adressiert werden müssen (Abbildung 4). Behandlung: Im Säuglings- und Kleinkindesalter steht für die Behandlung die serielle Gipsredression nach Ponseti therapeutisch an erster Stelle. In etwa 90 Prozent der Fälle ist eine operative Verlängerung der Achillessehne notwendig. Zur Vermeidung von Rezidiven müssen im Vorschulalter Nachtschienen getragen werden. Bei gehfähigen Patienten führt zum Beispiel der neurogen bedingte Klumpfuss durch das Laufen auf der Fussaussenkante oder sogar auf dem Fussrücken zu einer Instabilität während der Standphase (Abbildung 2). Auch bei diesen Kindern muss im ersten Schritt überprüft werden, ob durch eine Gipsbehandlung die Situation verbessert werden kann. Weichteileingriffe (Weichteilreleases, Sehnenverlängerungen, Sehnentransfers) sind bei ausgewählten, meist neuromuskulären oder neurogenen
Abbildung 4: Klumpfüsse unterschiedlicher Ursache, aber mit gleichem Erscheinungsbild; links/Mitte: kongenitaler Klumpfuss; rechts: neurogener Klumpfuss bei M. Duchenne.
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Formen erforderlich, um einer Fixierung der Fehlstellung früh entgegenzuwirken. Knöcherne Eingriffe werden notwendig, wenn die Deformitäten störend und funktionell beeinträchtigend fixiert sind. Operative Massnahmen sollten nicht allein von der Fussform oder von kosmetischen Gesichtspunkten abhängen, sondern vor allem der Funktionsverbesserung oder der Behandlung von Problemen (z. B. Schmerzen, Druckstellen, Hygiene) dienen. Ist eine Operation nicht möglich oder unerwünscht, kann ein Klumpfuss ähnlich wie der Spitzfuss zur Funktionsverbesserung mit einer Orthese geschient werden. Dadurch soll insbesondere ein effizienteres Stehen und Laufen ermöglicht werden.
Hohlfuss
Ein Hohlfuss (Pes cavovarus) ist leicht zu erkennen. Man beobachtet eine starke Ausprägung des Längsgewölbes und gegebenenfalls eine flexible oder fixierte Kippung der Ferse nach innen (Abbildung 5). Der Hohlfuss sollte niemals als physiologische Deformität betrachtet werden. Eine neurologische Erkrankung ist immer auszuschliessen. Häufige zugrunde liegende neurologische oder neuromuskuläre Erkrankungen sind zum Beispiel die CharcotMarie-Tooth-Erkrankung (Abbildung 5), die Zerebralparese oder ein sogenanntes Tethered-Chord-Syndrom. Letzteres ist eine krankhafte Anhaftung der unteren Anteile des Rückenmarks mit Zug auf die Nervenfasern. Auch wenn das Spektrum neurologischer Erkrankungen, die zu einem Hohlfuss führen können, sehr breit ist, beinhalten sie alle eine muskuläre Dysbalance mit gestörtem Zusammenspiel intrinsischer und extrinsischer Muskeln. Der Fuss berührt den Boden nur mit der Ferse und dem Fussballen. Die Fusssohle dazwischen berührt den Boden nicht. Dadurch erhöht sich die Belastung an Ferse und Fussballen, was zu problematischen Überbelastungen führen kann, das Abkippen des Fusses nach aussen zusätzlich zu Instabilität und Gangunsicherheit. Anfangs ist die Hohlfussdeformität beweglich, wird aber, wenn sie unbehandelt bleibt, zu einer festen knöchernen Deformität. Im Verlauf der Erkrankung können durch eine Schwächung der intrinsischen Fussmuskeln zusätzlich Krallen- beziehungsweise Hammerzehen entstehen. Behandlung: Ziel der Behandlung ist es, einen plantigraden, schmerzfreien und stabilen Fuss zu erhalten. Behandlungsprinzip der konservativen Therapiemethoden mittels orthopädischer Schuheinlagen, Schuhzurichtungen oder orthopädischer Massschuhe ist die Erweiterung der stark reduzierten Belastungsfläche und der Druckumverteilung und damit die Verbesserung der Standstabilität. Zu den chirurgischen Optionen gehören Weichteil- oder knöcherne Operationen. Die Durchtrennung der Plantarfaszie oder Sehnentransfers können zu einer Verbesserung führen, wenn es sich um frühe, noch flexible Deformitäten handelt. In weiter fortgeschrittenen Fällen dienen Osteotomien und Gelenkversteifungen einer Verbesserung der Fussform und -funktion.
Abduktions-Knick-Senk-Fuss
Der Abduktions-Knick-Senk-Fuss ist gekennzeichnet durch das seitliche Wegkippen der Ferse, eine Abflachung des Mittelfusses sowie eine Abduktion des Vorfusses gegenüber dem Rückfuss. Die meisten Knick-
Abbildung 5: Patientin mit ausgeprägten Hohlfüssen bei Charcot-Marie-Tooth-Erkrankung
Senk-Füsse im Kindesalter sind gering bis mittelmässig ausgeprägt und überwiegend unproblematisch. Ist die Fehlstellung jedoch sehr ausgeprägt, besteht das wesentliche Problem des Abduktions-Knick-Senk-Fusses aus der damit einhergehenden Instabilität. Diese kann je nach Ausmass der Fehlstellung erheblich sein. Diese Instabilität folgt einer gewissen Kaskade. Durch das Wegknicken der Ferse wird auch indirekt der Mittelfuss im Talonavikulargelenk instabil. Dies führt zu einer zusätzlichen Abflachung der Fusswölbung und zum Wegknicken des Vorfusses nach aussen. Die Instabilität kann gegebenenfalls bis zu einem gewissen Grad muskulär kompensiert werden. Wenn die Kompensationsmechanismen nicht ausreichen, versagt die Hebelfunktion des Fusses. Dies führt dann entweder zu funktionellen Beschwerden durch Überlastung von Knochen, Gelenken, Muskeln und Sehnen oder zu funktionellen Auswirkungen auf Knie- und Hüftgelenke bis zu negativen Auswirkungen auf das Laufen. Unabhängig davon, ob konservativ oder operativ vorgegangen wird, ist das übergeordnete Behandlungsziel die Erlangung schmerzfreier, stabiler Füsse mit suffizientem Hebelarm in Gangrichtung unter Erhalt der Muskelkraft. Ein schmerzhafter Fuss sowie Füsse, die zu einer Instabilität beim Laufen führen, sind behandlungsbedürftig. Behandlung: Patienten mit Knick-Senk-Fuss werden überwiegend konservativ behandelt. Durch Einlagen, Orthesen oder Massschuhe kann die Fussstellung und damit die Funktion verbessert werden. Auch rigide Deformitäten können in der Regel gut geschient werden. Weichteiloperationen führen zu keiner wesentlichen Verbesserung. Knöcherne Korrekturen (z. B. Umstellungsosteo tomien, Arthrodesen) kommen in ausgeprägten Fällen vor allem dann zum Einsatz, wenn die orthetische Versorgung problematisch ist, die Fehlstellung stark progredient ist oder eine einfachere Hilfsmittelversorgung oder Orthesenfreiheit angestrebt wird.
Fussfehlbildungen: Formations- und Segmentationsstörungen
Von den zuvor beschriebenen Fussfehlstellungen werden die Fussfehlbildungen unterschieden. Es handelt sich um Störungen der Anlage oder der Ausformung von Knochen und Weichteilen des Fusses. Diese Defekte können auf einen Formationsfehler, einen Segmentationsfehler
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Abbildung 6: A/B: Brachymetatarsie mit Verkürzung eines oder mehrerer Strahlen. Die Behandlung ist überwiegend konservativ. C: Bei der Makrodaktylie stört die vergrösserte Zehe regelmässig im Schuhwerk. Es bedarf deshalb im Laufe des Wachstums meistens einer operativen Behandlung. D: Zusätzliche Zehen stören bei der Polydaktylie durch einen breiten Fuss. Meist ist die operative Resektion überzähliger Zehen indiziert. E: Symbrachydaktylie mit Fehlanlage sämtlicher Zehen. F: Fibulärer Längsdefekt als Beispiel einer kombinierten Formations- und Segmentationsstörung. Neben Strahlaplasien liegt oft eine Formationsstörung mit Verbindung von Fersen- und Sprungbein vor (sog. Coalitio).
Abbildung 7: Dieser Patient mit einem Apert-Syndrom konnte durch die starke Supinationsfehlstellung (oben) nicht mehr ausreichend stabil laufen. Ziel der operativen knöchernen Korrektur (unten) war die funktionelle Verbesserung durch Erlangung eines plantigraden Fusses mit Fersenkontakt.
oder beides zurückzuführen sein. Formationsfehler bezeichnen einen fehlerhaften Aufbau der Knochenform oder -grössse. Knochen und Weichteile können beispielsweise verkürzt, vergrössert oder gar nicht angelegt sein. Entsprechende Beispiele hierfür sind die Brachymetatarsie, die Makrodaktylie und die fibuläre Hemimelie (Abbildung 6). Bei der Brachymetatarsie sind entweder einzelne oder mehrere Mittelfussknochen betroffen, was die Zehen verkürzt. Oft stört das die Betroffenen zwar kosmetisch, jedoch nicht funktionell. Aus diesem Grunde ist meistens keine Behandlung notwendig. Bei der Makrodaktylie hingegen stört die zu gross angelegte Zehe regelmässig im Schuh. Da im Laufe des Wachstums die Grösse der Zehe in der Regel zunimmt, wird frühzeitig zur Operation geraten. Den Segmentationsstörungen liegt eine fehlerhafte Trennung einer oder mehrerer Fussknochen zugrunde. Die Knochen sind entweder teilweise oder komplett miteinander fusioniert. Dies kann sich auf die Bewegung, die Fussstellung und die Fussfunktion auswirken (Abbildung 7). Die Therapie ist sehr individuell.
Zusammenfassung
Der Fuss kann anatomisch in verschiedene Segmente (Sprunggelenk, Rückfuss, Mittelfuss, Vorfuss) eingeteilt werden. Diese Segmente sind bei Fehlstellungen in bestimmter Weise zueinander angeordnet. Die Fehlstellungen beinhalten entweder eine oder mehrere Einzelkom-
ponenten und folgen häufig den physiologisch möglichen Bewegungsrichtungen. Die meisten Fussfehlstellungen sind entweder angeboren oder erworben. Anhand ihrer Beweglichkeit unterscheidet man funktionelle von strukturellen Fussproblemen. Neben der Erkennung der einzelnen Fussdeformitäten folgt die Behandlung ebenfalls gewissen Grundprinzipien: Komplexe Fehlstellungen können meist sowohl konservativ als auch operativ behandelt werden. Die Wahl der Therapie hängt von den Beschwerden, dem funktionellen Anspruch und dem voraussichtlichen natürlichen Verlauf der jeweiligen Erkrankung ab. Das übergeordnete Behandlungsziel jeglicher Fussprobleme ist die Erlangung schmerzfreier, stabiler Füsse mit suffizientem Hebelarm in Gangrichtung unter Erhalt der Muskelkraft.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Bernhard Speth Leitender Arzt Kinderorthopädie Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB) / Kantonsspital Aarau E-Mail: Bernhard.Speth@ukbb.ch Bernhard.Speth@ksa.ch
Der Autor erklärt, dass kein Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Beitrag besteht.
Alle Abbildungen wurden vom Autor zur Verfügung gestellt (© B. Speth).
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