Transkript
Schwerpunkt
Flexibler Knick-Senk-Fuss nach Gehbeginn – ein «Normalbefund»?
Bei der Beurteilung von Fussform und -funktion scheint die Abgrenzung des «Normalen» vom Pathologischen oft anspruchsvoll. Dies trifft insbesondere beim kindlichen Knick-Senk-Fuss zu. Hier wird der Behandler zudem mit einer gewissen Erwartungshaltung der Bezugspersonen konfrontiert. Konkrete Ideen, ob und wie behandelt werden müsse, sind regelmässig bereits vorhanden. Das Ziel dieses Artikels ist es, in dieser Situation möglichst klar für oder gegen eine Therapie argumentieren und die grundsätzlichen Therapieoptionen einordnen zu können.
Von Manuel Kraus
Der alleinige Aspekt eines flexiblen Knick-SenkFusses ohne Symptome entspricht bis zum Alter von 8 bis 10 Jahren meist einem Normalbefund. Bis zu diesem Alter begradigt sich die Rückfuss-
achse, und das Fussgewölbe akzentuiert sich (1, 2).
Die Evidenz dafür, dass bei einem zwar persistierenden,
jedoch asymptomatischen Knick-Senk-Fuss mittel- bis
langfristig negative Effekte drohen, ist sehr gering.
Am naheliegendsten wäre hier noch eine mögliche Über-
lastung des M. tibialis posterior als wesentlichem Stabili-
sator des Fusslängsgewölbes sowie der das Fussgewölbe
stabilisierenden Ligamente. Bislang konnte selbst hier
kein klarer Zusammen-
Die Evidenz dafür, dass bei einem persistierenden, asymptomatischen KnickSenk-Fuss mittel- bis langfristig negative Effekte drohen, ist sehr gering.
hang zwischen dem Ausgangsbefund im Kindesund Jugendalter und dem Befund im Erwachsenenalter belegt werden. Auch in Bezug auf die Entwicklung einer Arth-
rose der Fuss-, Sprung-,
Knie- oder Hüftgelenke ist die wissenschaftliche Grund-
lage ungenügend. Studien, welche sich explizit mit dieser
Thematik befassen, finden teilweise Assoziationen zwi-
schen der Fussform und der Lokalisation einer Arthrose.
So konnten Reilly et al. ein vermehrtes Vorliegen von
Knick-Senk-Füssen bei medialer Gonarthrose sowie ein
vermehrtes Vorliegen von Hohlfüssen bei Coxarthrose
beschreiben (3). Die Frage, ob die Fussform hier die Ursa-
che der Arthrose, ein Kompensationsmechanismus bei
Arthrose oder lediglich eine unabhängige Koinzidenz ist,
konnte jedoch nicht geklärt werden.
Somit ist es legitim, sich von dem Begriff Normalbefund
zu lösen und das Vorliegen von Symptomen, die Flexibili-
tät des Fusses und das Ausmass der Fehlstellung in den
Abbildung 1: 12-jähriger Junge, Füsse von dorsal
Vordergrund zu stellen. Dadurch vereinfachen sich Beurteilung und Therapieentscheid.
Symptomatik
Beschwerden im Bereich von Fussinnenrand, Sprunggelenk, Fusssohle oder Unterschenkel während oder nach Belastung, eine verminderte Ausdauer mit Reduktion von Gehzeit und Gehstrecke, das Einknicken von Sprunggelenk und Knie vorwiegend bei sportlicher Belastung oder die intensive Beschwielung von üblicherweise unbelasteten Anteilen des Fusslängsgewölbes beziehungsweise des Fussinnenrands mit begleitender Rötung oder Blasenbildung können als Symptome gewertet werden.
Klinische Befunde
Bei der Inspektion im Stehen fällt von dorsal betrachtet ein erhöhter Rückfussvalgus (Knick) mit Prominenz des Fussinnenrands auf (Abbildung 1). Letztere geht mit einem abgeflachten oder aufgehobenen Fusslängsge-
8 Pädiatrie 3/22
Schwerpunkt
Die Online-Version dieses Artikels wurde am 7. Juli 2022 korrigiert.
Abbildung 2: Fuss rechts von medial
Abbildung 4: Füsse von anterior
Abbildung 5: Füsse von dorsal im Zehenspitzenstand (vgl. Abbildung 1)
Abbildung 3: Füsse von plantar auf Podoskop
wölbe einher, welches bei Betrachtung von medial oder auf einem Podoskop zusätzlich beurteilt werden kann (Abbildungen 2 und 3). Knick- und Senkfusskomponente müssen nicht in gleichem Ausmass vorliegen. So kann bei gut akzentuiertem Gewölbe durchaus ein deutlicher Rückfussvalgus bestehen. In diesen Fällen zeigt sich auf dem Podoskop nicht zwingend eine Ausweitung der belasteten Fläche, da durch das Einknicken der Fussaussenrand bereits entlastet werden kann, noch bevor Fussinnenrand oder mediales Gewölbe den Untergrund berühren. Bei starker Pronation und Abduktion des Fusses im Talonavikulargelenk kann der Fussöffnungswinkel erhöht sein (Abbildung 4). Rötungen, Blasenbildung oder eine atypische Beschwielung können vorliegen. Des Weiteren ist das asymmetrische Ablaufen der Schuhsohle auf der Innenseite häufig ein Indiz für den Knickfuss. Noch aus dem Stand kann die Flexibilität der Hauptkomponenten beurteilt werden. Beim passiven Anheben der Grosszehe durch den Untersucher unter Belastung des Fusses sollte sich durch Tonisierung der Plantarfaszie das Fussgewölbe beim flexiblen Fuss akzentuieren (Hübscher-Manöver). Denselben Effekt hat der aktive Zehenspitzenstand des Patienten mit dann üblicherweise zusätzlich deutlich sichtbarer Varisierung der Rückfüsse (Jack’s Test Abbildung 5). Tritt eine gewisse Korrektur der Hauptkomponenten ein, darf von einem flexiblen KnickSenk-Fuss ausgegangen werden.
Bei ausbleibender Korrektur, bei Asymmetrie oder atypi-
schem Beschwerdebild muss weiter nach Ursachen eines
rigiden Knick-Senk-Fusses im Sinne einer Coalitio gesucht
werden (Abbildung 6). So kann der Patient zusätzlich
aufgefordert werden, auf dem Fussaussenrand zu gehen.
Ist dies deutlich erschwert oder unmöglich, erhärtet das
den Verdacht. Eine Druckdolenz im Bereich des Sinus
tarsi mit gegebenenfalls Beschwerden ebendort bei Ver-
wringung des Mittel- und Vorfusses gegen den fixierten
Rückfuss lässt den Rückschluss auf eine mögliche Coalitio
calcaneonavicularis zu.
Eine Druckdolenz und Prominenz wenig distal des Mal-
leolus medialis und somit über dem medialen Gelenk-
spalt des unteren Sprung-
gelenks sind eher Grund zu der Annahme, dass eine Coalitio talocalcanearis vorliegen könnte. Einen weiteren Hinweis
Der radiologische Befund ist einer guten klinischen Untersuchung oft nicht zwingend überlegen.
kann eine insbesondere im Seitenvergleich reduzierte
Beweglichkeit des unteren Sprunggelenks liefern, wel-
che gut reproduzierbar in Bauchlage mit 90 Grad ge-
Abbildung 6: 13-jähriger Junge mit rigidem Knick-Senk-Fuss links (Jack’s Test)
3/22 Pädiatrie
9
Schwerpunkt
Kasten 1:
Laterales Fussröntgen stehend
● Ebenfalls kann im lateralen Röntgen bestimmt werden, wo das Alignement der ansonsten geraden Reihe Taluslängsachse – Os naviculare – Os cuneiforme mediale und Os metatarsale I am stärksten gestört ist. Ueki et al. haben hier die Beschreibung eines Durchhängens (engl. sag) dieser knöchernen Reihe von Tachdjian modifiziert und radiologisch wie sonografisch 3 Formen abgeleitet (2, 5). So kann die stärkste Störung der Integrität talonavikular (T-N sag), naviculocuneiform (N-C sag) oder in Kombination beiderorts (mixed sag) vorliegen (Abbildung 8).
Abbildung 7: Relevante Winkel im lateralen Fussröntgen stehend
● Talus-Metatarsale-I-Winkel (sog. Meary-Winkel oder lateraler TMT-I-Winkel): Normal sind 0 ± 4 Grad, bei Neugeborenen 20 Grad (– 9 bis – 31 Grad), bei 8-Jährigen 5 Grad (–10 bis –18 Grad).
● Talokalkanearer Winkel: Normal sind 40 Grad (25 bis 55 Grad). ● Costa-Bartani-Winkel: Normal sind 120 bis 125 Grad. ● Kalkaneusneigungswinkel (calcaneal pitch):
Normal sind 20 bis 30 Grad (Kinder 17 ± 6 Grad). ● Zusätzlich zu den genannten ausgewählten Winkeln der
erwähnten Leitlinie ist die Messung des Talusneigungswinkels sinnvoll: Normal sind 20 Grad (14 bis 36 Grad).
Abbildung 8: Beschreibung der Lokalisation der grössten Subluxation in der Reihe Taluslängsachse – Os naviculare – Os cuneiforme mediale und Os metatarsale I (nach [2]) (a) Norm: Taluslängsachse deckt sich mit Metatarsale-I-Schaftachse; (b) Talonaviculare Subluxation (T-N sag): Taluslängsachse schneidet lediglich die plantaren Anteile des Os naviculare, Os cuneiforme mediale und Metatarsale I nicht gegen Os naviculare subluxiert; (c) Naviculocuneiforme Subluxation (N-C sag): Taluslängsachse schneidet Os naviculare zentral, Os cuneiforme mediale und Metatarsale I gegen Os naviculare subluxiert; (d) gemischte Subluxation (mixed sag): Taluslängsachse schneidet lediglich die plantaren Anteile des Os naviculare, und Os cuneiforme mediale und Metatarsale I sind gegen Os naviculare subluxiert.
10
beugtem Kniegelenk und neutral hinsichtlich Dorsalextension und Plantarflexion eingestelltem oberen Sprunggelenk durch passive Eversion und Inversion des Rückfusses getestet werden kann. Hier wäre bei einer Coalitio eine aufgehobene oder im Seitenvergleich deutlich reduzierte Beweglichkeit im unteren Sprunggelenk zu erwarten, gegebenenfalls mit der Provokation von Beschwerden. Im Weiteren liegt der Fokus auf dem flexiblen KnickSenk-Fuss. Im Stehen und mit exakt geradeaus gerichteten Patellae wird die Beinachse beurteilt. Der Abstand der Innenknöchel bei vollständig angenäherten Femurkondylen kann bei den weitaus häufigeren Genua valga als klinischer Verlaufsparameter dienen. Je nach Körpergrösse sollten hier 6 bis 8 cm nicht überschritten werden. Dieser Befund wird durch Übergewicht und dynamisch durch eine erhöhte femorale Antetorsion akzentuiert. Eine stehende Bildgebung der ganzen Beine wäre insbesondere vor Wachstumsabschluss bei auffälligem Befund zur Objektivierung der Genua valga sinnvoll.
Aufgrund der valgischen Rückfussachse nimmt die Achillessehne unter Last beim Knick-Senk-Fuss einen kürzeren Weg als üblich. So ist auf Dauer eine Verkürzung des M. triceps surae möglich. Bei voll gestrecktem Kniegelenk sollte bei in leichter Supination blockiertem unteren Sprunggelenk eine Dorsalextension im oberen Sprunggelenk von mindestens 10 Grad, gemessen zwischen Unterschenkellängsachse und Fussaussenrand, erreicht werden. Der Silfverskjöld-Test kann weiter zwischen den einzelnen Anteilen des Muskels differenzieren. Bei ausgeprägtem flexiblen Knick-Senk-Fuss sollte eine generalisierte Gelenkhypermobilität ausgeschlossen werden. Die dynamische Beurteilung beim Gehen und unter intensiverer Belastung wie beispielsweise Rennen oder Springen sowie die Beurteilung des Torsionsprofils ergänzen die klinische Untersuchung bei Bedarf.
Stellenwert der Bildgebung
Es gibt Hinweise darauf, dass Faktoren wie Übergewicht, Genua valga, eine deutliche Verkürzung der Wadenmuskulatur, das Vorliegen eines symptomatischen Os navicu-
Pädiatrie 3/22
Schwerpunkt
lare cornutum oder Os tibiale externum und eine radiologisch starke Ausprägung des Knick-Senk-Fusses ein geringeres Potenzial zur Korrektur des Knick-Senk-Fusses im Wachstumsalter haben (1, 2). Bei klinisch milder bis moderater Ausprägung des flexiblen Knick-Senk-Fusses ist eine weiterführende Bildgebung somit nicht indiziert. Bei symptomatischen Patienten mit therapierefraktären Symptomen, Patienten mit eindrücklichen Symptomen bei Erstvorstellung sowie asymptomatischen Patienten mit klinisch jedoch sehr ausgeprägtem Knick-Senk-Fuss wird zur Objektivierung des Befunds eine Röntgendiagnostik als sinnvoll erachtet. Die Basis stellen stehend aufgenommene Röntgenaufnahmen der Füsse lateral (Kasten 1, Abbildungen 7 und 8) sowie dorsoplantar (Kasten 2, Abbildung 9) dar.
Kasten 2:
Dorsoplantares Fussröntgen stehend
● Talus-Metatarsale-I-Winkel (dorsaler TMTI-Winkel, dorsoplantar): Normal sind 0 bis 20 Grad (Kinder 10 ± 7 Grad ).
● Talokalkanearer Winkel: Normal sind 25 Grad (15 bis 35 Grad), bei Neugeborenen 40 Grad (25 bis 55 Grad).
● Winkel zwischen lateraler Kalkaneuskontur und Metatarsale V: Normal sind 0 Grad.
● Talonavikulare Abdeckung (talonavicular coverage) angegeben in Prozent oder als Winkel: Normal sind 20 ± 9,8 Grad.
Abbildung 9: Relevante Winkel im dorsoplantaren Fussröntgen stehend
Abbildung 10: TMT-Index nach Hamel und Kinast (6) = Summe aus TMT-I-Basiswinkel im dorsoplantaren Fussröntgen (a) sowie dem lateralen TMT-I-Winkel (b) (nach [1])
Es gibt zahlreiche Parameter, mit welchen radiologisch
die Komponenten des Knick-Senk-Fusses bilanziert wer-
den können. Eine klinisch sinnvolle Auswahl an Winkeln
mit den entsprechenden Normwerten wurde zur Erstel-
lung einer Leitlinie von Hell et al. 2018 getroffen (4). So
können der Ausgangsbefund sowie die Dynamik einer
statischen Veränderung bei Bedarf dokumentiert sowie
bedingt Therapieentscheide untermauert werden.
Die Normwerte für laterale und dorsoplantare Röntgenauf-
nahmen des Fusses sind in den Kästen 1 und 2 zusammengefasst. Beide radiologischen Projektionen berücksichtigt der TMT-In-
Eine orthopädietechnische Versorgung muss regelmässig auf ihre Notwendigkeit überprüft werden.
dex nach Hamel und Ki-
nast (6), bei welchem der laterale TMT-I-Winkel und der
Talus-Metatarsale-I-Basiswinkel (TMTB-I-Winkel), gemes-
sen in dorsoplantarer Projektion, addiert werden (Abbil-
dung 10). Der TMTB-I-Winkel ergibt sich aus der Talus-
längsachse sowie einer Geraden durch das geometrische
Zentrum des Taluskopfes und die Mitte des TMT-I-Gelenks.
Bei den zugrunde liegenden Winkeln ist zu beachten, dass
diese bei Abduktion des Fusses und bei Senkfuss negative
Vorzeichen tragen. Bei Heranwachsenden entspricht ein
leicht negativer Messwert dem Normalbefund. Der TMT-In-
dex schliesst die Komponenten des Knick-Senk-Fusses in
verschiedenen Ebenen ein und kann deshalb die Fussdefor-
mität in ihrer Schwere besser beschreiben als die anderen
genannten Winkel. Ab dem 6. Lebensjahr liegt der Norm-
bereich des Indexes zwischen –10 und – 30 Grad (1).
Die genannten Messungen objektivieren die Fussstatik
unter Last. In den Standardprojektionen muss des Weite-
ren auf das Vorliegen begleitender Entitäten wie bei-
spielsweise das Os naviculare cornutum und das Os
tibiale externum sowie auf eine eventuell erhöhte Vor-
fusspronation mit Lateralisierung der Sesamoide plantar
der Grosszehe geachtet werden.
Sollen die häufigsten Lokalisationen tarsaler Coalitios
ebenfalls beurteilt werden, wären calcaneonavicular die
unbelastete Schrägaufnahme des Fusses und talocalca-
near (Harris View) eine stehende Schrägaufnahme zur
Darstellung insbesondere der medialen Facette des unte-
ren Sprunggelenks sinnvoll.
3/22 Pädiatrie
11
Schwerpunkt
Flexibler Knick-Senk-Fuss beim neurologisch gesunden Kind nach Gehbeginn
Nein
Symptomatisch?
Ja
≤ 4 Jahre
> 4 Jahre
jede Ausprägung mild bis moderat
keine Therapie klinische Verlaufskontrolle
> 4 Jahre stark
Röntgen dp/lat stehend
Konservative Therapie nach vordergründigem Befund: - Verkürzung M. triceps surae: Dehnung - Hypermobilität: Kräftigung/propriozeptives Training, stützende Einlagen
oder Orthesen erwägen - Os naviculare cornutum/tibiale externum: Reduktion der Friktion am
Schuh, stützende Einlagen erwägen
Nein Ja
stützende Einlagen oder Orthesen nach Mass
starke Ausprägung i.S. Talusneigung ≥ 45° Sag N-C oder mixed
Beschwerden Verbesserung
> 9 Jahre, konservative Therapie möglichst optimieren
Kontrolle alle 4 bis 6 Monate
Beschwerden =/
– Trainingscompliance sowie Einlagen/Orthesen? +
Bildgebung erwägen: primär Röntgen dp/lat stehend, (Spezialaufnahmen, Sonografie, MRT, CT bei Bedarf)
klinische Verlaufskontrollen mit
kritischer Prüfung der Therapiebedürftigkeit
9–12 Jahre, TMT-Index < –35°: Arthrorise ≥ 9 Jahre, Mittelfussinstabilität: partielle Fusionen ≥ 9 Jahre, TMT-Index ≥ –35 bei isoliertem starken Rückfussvalgus: Calcaneusosteotomie ≥ 9 Jahre, symptomat. Os naviculare cornutum/tibiale externum: Resektion/bei grossem Fragment Stabilisierung In jedem Fall: Übergewicht reduzieren, Genua valga kontrollieren Abbildung 11: Behandlungsalgorithmus bei flexiblem Knick-Senk-Fuss Nach Abschluss des Fusswachstums: - Arthrorise-Osteotomie- Kombinationen - Korrekturosteotomie (tarsale Tripelosteotomie nach Hamel, calcaneal Scarf) Bei Bedarf kann die Diagnostik durch weitere konventionelle radiologische Spezialaufnahmen oder weiterführende bildgebende Verfahren ergänzt werden, wobei dies gerade beim flexiblen Knick-Senk-Fuss meist nicht notwendig ist. Hingegen ist der radiologische Befund der guten klinischen Untersuchung oft nicht zwingend überlegen. So kann zum Beispiel die Messung der Rückfussachse je nach Projektion starken Schwankungen unterworfen sein. Hier existieren zudem bei gleicher Projektion zum Teil verschiedene Messmethoden, sodass die Werte nicht ohne Weiteres verglichen werden können. Therapie Trotz häufiger Konsultationen aufgrund symptomati- scher oder asymptomatischer Knick-Senk-Füsse wird die Behandlung des flexiblen Knick-Senk-Fusses im Kindes- alter weiterhin kontrovers diskutiert. Das liegt unter an- derem an der in vielen Belangen ungenügenden Evidenz, an wirtschaftlichen Inter- Die Behandlung des flexiblen Knick-Senk-Fusses im Kindesalter wird weiterhin kontrovers diskutiert. essen sowohl auf konservativ als auch operativ therapeutischer Seite und an der eingangs bereits erwähnten Erwartungs- haltung der Bezugspersonen bei minderjährigen Patien- ten. Gern würde sich der Behandler wohl an einem Algorith- mus orientieren, welcher alle Eventualitäten abdeckt und unmissverständlich klar zum richtigen Therapieentscheid führt. So gibt es durchaus lesenswerte Literatur mit dem Versuch, diagnostische Pfade und Therapien in dieser Form aufzubereiten (1, 4, 7, 8). Es fällt leider auf, dass je nach Schwerpunkt der Autoren nicht immer das gesamte Altersspektrum abgebildet wird oder entweder die kon- servative oder die chirurgische Therapie nahezu ausge- klammert wird. Alternativ entstehen teils mehrseitige Al- gorithmen mit dem Versuch, nicht nur den flexiblen, sondern ebenso den rigiden wie neurologisch und/oder syndromal assoziierten Knick-Senk-Fuss mit einzuschlies- sen, sodass die Wegleitung letztlich gerade für die pädia- trische Praxis recht aufwendig zu lesen ist. Abb. 11 In Abbildung 11 findet sich nun ein Versuch ohne Anspruch auf absolute Vollständigkeit, aber mit dem Ziel, unter Einschluss kontroverser Punkte einen Entscheidungsbaum über das gesamte Altersspektrum hinweg zur Verfügung zu stellen. Weichteileingriffe, welche meist mit knöchernen Eingriffen kombiniert werden, sind nicht aufgeführt. Keine Symptome und allenfalls moderater KnickSenk-Fuss: Die wichtigste Frage ist zunächst, ob eines oder mehrere der bereits genannten Symptome vorliegen. Ist dies nicht der Fall und liegt eine klinisch milde bis moderate Ausprägung vor, wird keine Therapie empfohlen. Starker Knick-Senk-Fuss bei Kindern ab 4 Jahren: Bei Patienten mit eindrücklicher, starker Ausprägung des Knick-Senk-Fusses, die älter als 4 Jahre sind, ist die Bilanzierung der Fehlstellung auch radiologisch sinnvoll. Aufgrund der Hinweise in der Literatur, dass bei radiologisch stark ausgeprägter Fehlstellung insbesondere in der sagittalen Projektion eine zügigere Verbesserung der Fussstatik durch fusslängsgewölbestützende orthopädietechnische Massnahmen im Vergleich zu einem nicht behandelten Kollektiv erreicht werden kann, ist eine Versorgung mit orthopädischen Einlagen nach Mass oder bei jungen Patienten (ca. < 6 Jahre) mit hoher Rückfussfassung/Schalenfussorthesen in diesen Fällen zu rechtfertigen. Die radiologischen Kriterien sind hier primär der Talusneigungswinkel > 45 Grad oder das deutliche naviculocuneiforme beziehungsweise gemischte «sag» (s. o.) im Röntgenbild. Eine in diesen Fällen vorgenommene Versorgung sollte regelmässig geprüft und in der Höhe im Verlauf gegebenenfalls reduziert werden. Spätestens mit dem 8. bis 10. Lebensjahr kann diese bei weiterhin asymptomatischen Patienten bei weitestgehend abgeschlossener Aufrichtung des Fusses sistiert werden. Mit Symptomen: Bei Symptomen ist nach umfassender klinischer Statuserhebung zu entscheiden, welche der möglicherweise auch kombiniert vorliegenden Befunde am schwerwiegendsten sind. Steht die Verkürzung des M. triceps surae im Vordergrund, ist die Instruktion hinsichtlich primär dehnender Übungen sinnvoll, wozu bei
12
Pädiatrie 3/22
Schwerpunkt
Bedarf eine Physiotherapie initiiert werden kann. Am wichtigsten wird jedoch das tägliche Trainieren im häuslichen Umfeld sein. Hypermobilität: Bei Hypermobilität ist oft die Verkürzung des M. triceps surae nicht so ausgeprägt. Vielmehr besteht eine Instabilität. Kräftigende Übungen und die Optimierung des Ansprechens der Muskulatur durch propriozeptives Training können hier die Situation verbessern. Werden die Symptome durch Gehen in unebenem Gelände besonders verstärkt, sollten knöchelübergreifende Konfektionsschuhe empfohlen werden. Bei Beschwerden insbesondere beim längeren Gehen auch auf ebenem Untergrund kann von einer Ermüdung/Überlastung der Stabilisatoren von Sprunggelenken und Fusslängsgewölbe ausgegangen werden. Diese hypermobilen Patienten können dann ebenfalls von stützenden Einlagen profitieren, wobei diese nicht extrem hoch aufgebaut werden müssen, um den Fuss für den Patienten nicht unangenehm zu stark zu korrigieren. Das ist insbesondere dann ein Problem, wenn gleichzeitig eine gewisse Verkürzung des M. triceps surae vorliegt, da in diesem Fall der Druck am Fusslängsgewölbe unter dem Taluskopf schnell zu gross wird und bei gut gemeinter hoch aufgebauter Einlage schmerzhafte Blasen und Schwielen auftreten können. Sensomotorische Einlagen: Auch wenn vereinzelt positive Effekte sensomotorischer Einlagen beschrieben werden, ist es doch schwer, den natürlichen Verlauf von den Effekten dieser speziellen Art von Einlagen zu differenzieren. Regelmässig stellt sich die Frage nach dem Kostenträger bei der Therapie des flexiblen Knick-Senk-Fusses. Orthopädische stützende Einlagen werden von der Krankenkasse mit einer geringen Zuzahlung unterstützt. Bei den sensomotorischen Einlagen ist das üblicherweise nicht der Fall. Eine Anmeldung bei der Invalidenversicherung wird in den wenigsten Fällen akzeptiert, da selten davon auszugehen ist, dass diese Diagnose die Patienten letztlich in der Berufswahl beziehungsweise der Arbeitsfähigkeit einschränken wird. Os naviculare cornutum/tibiale: Liegt ein Os naviculare cornutum/tibiale externum vor, muss zwischen Patienten differenziert werden, die nahezu ausschliesslich Schmerzen im Bereich der Prominenz am Fussinnenrand beim Tragen von Schuhwerk haben, und solchen, die bereits barfuss unter Beschwerden leiden. Erstere haben oft nur sehr lokalisierte Schmerzen unmittelbar über der medialen knöchernen Prominenz. Sie profitieren am ehesten von einer Weitung und gegebenenfalls Polsterung des Konfektionsschuhs. Schuhe mit rein textilem Obermaterial sind wider Erwarten oft weniger elastisch und passen sich somit an den Befund nicht nachhaltig an. Weite Lederschuhe wären hier zu bevorzugen. Bei bereits barfuss auftretenden Beschwerden finden sich klinisch oft eine Druckdolenz der angrenzenden 1 bis 2 cm der Sehne des M. tibialis posterior sowie eine Ausweitung der Beschwerden nach plantar. In diesen Fällen kann zusätzlich eine medial stützende Einlagenversorgung mit Aussparung der schmerzhaften Prominenz sinnvoll sein. Kontrollen: Mit klinischen Kontrollen im Abstand von 4 bis 6 Monaten kann der Therapieerfolg geprüft werden. Nebst den oben genannten Parametern Ausdauer,
Gehzeit und Gehstrecke ist es wichtig, die Partizipation bei schulischen Aktivitäten, beim Freizeitsport und die Beeinflussung der Lebensqualität durch die Fussbeschwerden abzufragen. Bei Besserung der Beschwerden können die Abstände der klinischen Kontrollen ausgedehnt werden. Eine orthopädietechnische Versorgung sollte jedoch auch hier kein Selbstläufer sein. Sie muss regelmässig auf ihre Notwendigkeit überprüft werden. Nach 1 bis 2 Jahren Tragedauer ist bei symptomfreien Patienten zumindest bei milder bis moderater Ausprägung des Knick-Senk-Fusses ein Auslassversuch von 2 bis 3 Monaten legitim. Diese Zeit wird meist zur Beurteilung benötigt, da nach 1 bis 2 Jahren konsequenten Tragens der Einlagen eine Umgewöhnung erfolgen muss und binnen der ersten Wochen die Einlagen durchaus «vermisst» werden können. Bei ausbleibender Besserung der Beschwerden muss im Rahmen der ersten Kontrollen die Compliance im Hinblick auf Heimübungen und das Tragen eventueller Einlagen erfragt und die Qualität der Einlagen geprüft werden. Hier gilt es zu beurteilen, ob die getragenen Schuhe stabil genug sind, um den Fuss auf der Einlage zu halten. Ist die mediale Stütze zu hoch oder zu gering aufgebaut? Sind schmerzhafte Stellen ungenügend hohlgelegt oder gepolstert? Ist die Ferse ausreichend gefasst? Bestehen Blasen oder Schwielen? Knickt der Patient mit den Einlagen nun allenfalls vermehrt nach aussen um? Können Verbesserungen erreicht werden, wären weitere klinische Kontrollen indiziert. Bei ungenügendem Therapieerfolg ist eine Bildgebung sinnvoll. Sofern keine konkreten Hinweise zum Beispiel auf Sehnenläsionen bestehen, welche dann durch Sonografie oder MRI besser beurteilt werden könnten, wäre auch hier die Basis das konventionelle Röntgen beider Füsse dorsoplantar und lateral stehend.
Abbildung 12: Patient aus den Abbildungen 1 bis 5, 7 und 9 nach SESA klinisch
Abbildung 13: Patient aus den Abbildungen 1 bis 5, 7 und 9 nach SESA radiologisch
3/22 Pädiatrie
13
Schwerpunkt
Operation: Wann und wie?
Trotz anhaltender Symptome wäre man bei Patienten im Alter unter 9 Jahren im Hinblick auf chirurgische Massnahmen eher zurückhaltend. Liegt eine schwere Deformität im Sinne eines TMT-Index von weniger als –35 Grad vor, kann eine Arthrorise erfolgen. Klassische Arthrorisen bedienen sich dübelähnlicher Implantate, welche in den Sinus tarsi eingebracht werden. Aufgrund des Komplikationsprofils der üblicherweise verbleibenden Implantate arbeitete man stets an Alternativen zu diesen Techniken. Diese wurden fortwährend modifiziert. Spätestens als Maurizio De Pellegrin 2007 von seiner Erfahrung mit der Calcaneus-StoppSchraube als subtalarer extraartikulärer Schraubenarthrorise (SESA) berichtete, kam es zu einer zunehmenden Übernahme dieser Technik in die klinische Praxis vieler Chirurgen (9). Das Komplikationsprofil war mit SESA tendenziell etwas anders gelagert und in den Augen der meisten Anwender benigner als jenes der Arthrorisedübel (10). Die Stoppschraube wird bei der SESA über eine kleine Inzision am Boden des lateralen Sinus tarsi eingebracht, wobei intraoperativ der Rückfuss varisiert wird. Ein Zurückfallen in die valgisierte Ausgangsposition ist nicht mehr möglich. Kompensationsmechanismen führen wohl zu einer Veränderung der muskulären Balance. Noch knorpelige Anteile des wachsenden Fusses und Ligamente passen sich in der Folge an die neue Situation an, sodass die SESA auch als wachstumslenkender Eingriff gesehen wird. Die Effekte sind noch nicht in ihrem ganzen Ausmass verstanden. Es ist jedoch üblich, die Schraube nach 3 bis 4 Jahren zu entfernen, da langfristig ein Stören der Schraube vermieden werden soll. Am ehesten aufgrund des postulierten wachstumslenkenden Effekts kommt es nachhaltig zu einer Verbesserung der Fussstatik über die Schraubenentfernung hinaus (11). Auch bei Athleten mit hohem Aktivitätsniveau zeigt diese Therapie zufriedenstellende Ergebnisse mit messbarer Verbesserung des Aktivitätsniveaus bei entsprechender Indikationsstellung (12). Beispielhaft zeigen die Abbildungen 12 und 13 den klinischen und radiologischen Befund nach SESA bei dem Patienten aus den Abbildungen 1 bis 5 sowie 7 und 9. Auch dieser Patient ist beschwerdefrei und sportlich auf hohem Niveau aktiv. Im Falle einer schmerzhaften Instabilität des Mittelfusses trotz konservativer Therapie muss eventuell mit partiellen Fusionen stabilisiert werden. Einen exzessiven Rückfussvalgus bei im Übrigen eher mild bis moderat ausgeprägten Komponenten kann die SESA nicht nachhaltig beeinflussen, sodass in diesen Fällen beim noch wachsenden Fuss eventuell an den Valgus korrigierende Calcaneusosteotomien gedacht werden muss. Ist ein Os naviculare cornutum oder tibiale externum fortwährend schmerz-
haft, kann eine Resektion des Befunds oder, bei ausreichend grossem Befund, eine Verschraubung vorgenommen werden. Liegt ein TMT-Index unter – 35 Grad vor bei gleichzeitig symptomatischem Os naviculare cornutum/ tibiale externum, kann zunächst nur die SESA vorgenommen werden. Nicht selten bessert sich dann die Symptomatik über dem Befund. Ist das Fusswachstum bereits abgeschlossen, kommen kombinierte Eingriffe beim fortwährend symptomatischen Patienten infrage, welche sich nach den Hauptkomponenten richten. In jedem Fall sollten bei asymptomatischen Patienten mit flexiblem Knick-Senk-Fuss das Übergewicht reduziert und hoch normale Genua valga zirka bis zum 10. Lebensjahr auf Normalisierung hin kontrolliert werden.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Manuel Kraus Oberarzt Orthopädie Universitätskinderspital beider Basel UKBB Spitalstrasse 33 4031 Basel E-Mail: manuel.kraus@ukbb.ch
Interessenlage: Der Autor erklärt, dass weder persönliche noch finanzielle Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
Abbildungen: Alle Abbildungen wurden vom Autor zur Verfügung gestellt (© M. Kraus, UKBB).
Literatur: 1. Hamel J: Foot and Ankle Surgery in Children and Adolescents. Springer, 2021. 2: Ueki Y, Sakuma E, Wada I: Pathology and management of flexible flat foot in children. J Orthop Sci. 2019 Jan;24(1):9-13. 3: Reilly KA et al.: Influence of foot characteristics on the site of lower limb osteoarthritis. Foot Ankle Int. 2006 Mar;27(3):206-11. 4: Hell AK et al.: S2-Leitlinie: der kindliche Knick-Senk-Fuß. Z Orthop Unfall. 2018;156(3):306-315. 5: Herring, JA: Tachdjian‘s Pediatric Orthopaedics: From the Texas Scottish Rite Hospital for Children. Edinburgh, New York: Elsevier Health Sciences, 2013. 6: Hamel J, Kinast C: Der TMT-Index zur radiologischen Quantifizierung von Planovalgus-Deformitäten. Fuss. 2006;4:221-226. 7: Harris EJ et al.: Clinical Practice Guideline Pediatric Flatfoot Panel of the American College of Foot and Ankle Surgeons. Diagnosis and treatment of pediatric flatfoot. J Foot Ankle Surg. 2004;43(6):341-373. 8: Labovitz JM: The algorithmic approach to pediatric flexible pes planovalgus. Clin Podiatr Med Surg. 2006;23(1):57-76. 9: De Pellegrin M: 15-jährige Erfahrung mit der subtalaren Schrauben-Arthrorise beim kindlichen Plattfuß. FussSprungg. 2007;5:12-20. 10: Vogt B et al.: Subtalar Arthroereisis for Flexible Flatfoot in Children-Clinical, Radiographic and Pedobarographic Outcome Comparing Three Different Methods. Children (Basel). 2021;8(5):359. 11: De Pellegrin M et al.: Subtalar extra-articular screw arthroereisis (SESA) for the treatment of flexible flatfoot in children. J Child Orthop. 2014;8(6):479-487. 12: Pavone V et al: Outcomes of the calcaneo-stop procedure for the treatment of juvenile flatfoot in young athletes. J Child Orthop. 2018;12(6):582-589.
14
Pädiatrie 3/22