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Schwerpunkt
Der Ballengang im Kindesalter
Wann und wie therapieren?
Eltern sind oft besorgt wegen des Gangbildes ihres Kindes. Der Zehenspitzenoder korrekterweise Ballengang ist beim Kleinkind im Rahmen der Entwicklung häufig anzutreffen. Bei mehr als drei Viertel der Kinder mit idiopathischem Ballengang verliert sich diese Gewohnheit bis zum 10. Lebensjahr ohne Therapie, sodass jegliche Behandlung sehr kritisch hinterfragt werden muss.
Von Efe Akyildiz und Hanspeter Huber
Auf den Zehenspitzen stehen und schon ist die Welt grösser.*
Von einem Ballengang sprechen wir, wenn das Kind beim Gehen länger als 6 Monate die überwiegende Zeit (> 50%) nur den Vorfuss belastet. Davon sind rund 15 Prozent der Kinder betroffen. Die Kinder selbst nehmen diesen Umstand kaum wahr. Oft können aber deswegen erhebliche familiäre Spannungen auftreten, weil sie wiederholt von den missmutigen Eltern angewiesen werden, normal zu gehen. Hier sind Geschick und Wissen des Arztes gefragt, um die Situation zu entspannen.
Das normale Gangbild
Dass sich der Fersenballengang durchgesetzt hat und der Ballengang beim Gehen im Erwachsenenalter kaum mehr anzutreffen ist, lässt sich mit der Energieeffizienz erklären. Der Fersenballengang ist eine sehr energieeffiziente Art der Fortbewegung, wozu die Verlagerung der Kräfte von der Ferse bis zum Ballen über die Schrittabfolge massgeblich beiträgt. Das Gehen kann als ein kontrolliertes Nach-vorn-fallen-Lassen des Körpers verstanden werden. Das nach vorn geführte Bein fängt das Gewicht im Bereich der Ferse auf. In dieser Phase sind die Fuss- und Zehenheber aktiv, welche das nach unten gerichtete Drehmoment des Fusses abbremsen, gleichzeitig aber den Unterschenkel nach vorn beschleunigen. Ein Gangbild mit vom Boden abgehobenen Fersen verbraucht im Gegensatz dazu rund 53 Prozent mehr Energie für dieselbe Strecke (1), weil der zuerst auf die Unterlage treffende Vorfuss über das Anspannen der Wadenmuskulatur den Unterschenkel und damit das ganze Bein nach hinten beschleunigt (Abbildung 1). Das Gehen im hohen Ballengang, wie es bei Kindern öfters, anzutreffen ist, benötigt sogar 83 Prozent mehr Energie. Die Schrittlänge beim Ballengang wird kürzer, und die Kadenz muss für die gleiche Geschwindigkeit erhöht werden.
Beim Laufen/Joggen hingegen verändert sich die gesamte Kinetik, sodass der Energieverbrauch für diese schnellere Fortbewegungsart beim Fersenballengang und beim Ballengang vergleichbar ist (1) und beide Gangarten häufig anzutreffen sind.
Anamnese und Untersuchung
In der pädiatrischen Praxis ist der idiopathische Ballengang höchstwahrscheinlich am häufigsten anzutreffen. Da es sich dabei aber um eine Ausschlussdiagnose handelt, gilt es, durch eine gezielte Anamnese und Untersuchung andere relevante Ursachen auszuschliessen. Die Inspektion des Gangs soll nach Möglichkeit schon vor dem Untersuchungszimmer beginnen, wenn sich das Kind noch weniger beobachtet fühlt. Ein Ballengang kann sich aufgrund der Anspannung des Kindes vor der Konsultation deutlich verstärken. Nur sehr selten gehen Beschwerden mit dem Ballengang einher oder werden vom Kind selbst als störend empfunden. Der Beginn des Gehens verrät viel über den Entwicklungsstand des Kindes. Der Ballengang manifestiert sich für gewöhnlich vor dem 2. Lebensjahr. In den kommenden Jahren reift das Gangbild, und ein Grossteil der Kinder verlässt den Ballengang. Die Persistenz kann auf neuromuskuläre oder neurologische Pathologien hinweisen, ebenso verdächtig ist es, wenn der Ballengang erst bei einem älteren Kind erstmals auftritt. Auf eine Familienanamnese sollte nicht verzichtet werden. Pomarino et al. (2) berichten über eine positive Familienanamnese (Eltern) in 42 Prozent der Fälle mit idiopathischem Ballengang. Das Erreichen der altersadäquaten Meilensteine der kindlichen Entwicklung, sowohl motorisch als auch kommunikativ, ist zu überprüfen. Des Weiteren sollte der Fokus auf dem Alltag des Kindes liegen. Läuft das Kind gelegentlich auch mit fla-
*Zitat der Lyrikerin Anke Maggauer-Kirsche
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Abbildung 1: Unterschiede in der Krafteinwirkung beim Fersen- oder Ballengang. Beim Abrollen über die Ferse (links) führt die Bodenreaktionskraft (weisser Pfeil) zu einem Plantarflexionsmoment (gepunkteter Pfeil). Dieses wird durch die Fussheber abgebremst, was gleichzeitig den Unterschenkel nach vorn beschleunigt (roter Pfeil). Beim Ballengang (rechts) führt die Bodenreaktionskraft zu einem Dorsalflexionsmoment. Die resultierende Anspannung der Wadenmuskulatur führt zu einer Beschleunigung des Unterschenkels nach hinten.
Abbildung 2: Unterschiede in der Fusskonfiguration zwischen einem Ballengänger (links) mit schmaler Ferse und fehlender Verhornung und einem Kind mit Fersenballengang (rechts)
chem Auftreten des Fusses? Wie gross ist der prozentuale Anteil des ausschliesslichen Ballengangs? Leidet das Kind unter Beschwerden oder einer deutlich schnelleren Ermüdbarkeit? Kann es rennen und mit anderen Kindern mithalten? Macht das Kind stetig motorische Fortschritte? Da ein persistierender Ballengang gehäuft im Rahmen von Autismusspektrumstörungen auftreten kann (3), sollte das Spielverhalten und der Umgang mit anderen Kindern erfragt werden. Beim konzentrierten Gehen im Untersuchungszimmer zeigt sich oft ein korrektes Abrollen des Fusses. Klinisch sollte eine relevante Beinlängendifferenz ausgeschlossen werden, welche ursächlich für einen Ballengang sein kann. Unbedingt sollte der Fersengang überprüft werden, das heisst, ob dieser ohne Kompensationsmechanismen (ohne starke Oberkörpervorneigung) realisiert wer-
den kann. Die Beweglichkeit des oberen Sprunggelenks sollte in Kniebeugung, insbesondere aber in Kniestreckung untersucht und dokumentiert werden. Sofern eine Dorsalextension im oberen Sprunggelenk von sicher 10 Grad in Kniestreckung möglich ist, liegt keine relevante Verkürzung des Triceps surae vor. Die Inspektion der Planta pedis gibt Informationen über die Belastungszonen des Fusses. Ein Kind, das auf den Zehenspitzen geht, hat einen breiten Vorfuss mit vermehrter Hornbildung im Vergleich zu den Fersen (Abbildung 2). Die körperliche Untersuchung des Kindes sollte zwingend einen Neurostatus beinhalten. Veränderte Reflexe oder ein erhöhter Muskeltonus lenken die Aufmerksamkeit auf bestimmte neuromuskuläre oder neurologische Erkrankungen. Kinder unter 5 Jahren sollten aufgefordert werden, aus dem Sitzen auf dem Boden in den Stand zu wechseln. Falls die Arme beim Aufrichten des Rumpfes an den Oberschenkeln abgestützt werden müssen, spricht man von einem positiven Gower-Zeichen (4) als Ausdruck für eine proximale Muskelschwäche. Bei einem älteren Kind kann eine Hohlfüssigkeit insbesondere in Kombination mit Krallenzehen auf eine periphere Neuropathie hindeuten. Im Falle einer fraglichen muskulären Schwäche kann durch eine einfache kapilläre Blutentnahme mit Bestimmung der Kreatinkinase zumindest die häufigste Form der Muskeldystrophie (Typ Duchenne) mit hinreichender Sicherheit ausgeschlossen werden. Bei Auffälligkeiten in der neurologischen Untersuchung ist die Überweisung zu einem Kinderneurologen zu erwägen. Eine Bildgebung der Neuraxis kann oft die endgültige Diagnose liefern. Nennenswert sind in diesem Zusammenhang neurologische Ursachen wie Zerebralparese, «tethered cord syndrome» oder Tumoren des zentralen Nervensystems (5).
Konservative Therapie
Bei mehr als drei Viertel der Patienten mit idiopathischem Ballengang verliert sich diese Gewohnheit bis zum 10. Lebensjahr ohne Therapie (6). Entsprechend sollte zuerst jegliche Therapienotwendigkeit sehr kritisch hinterfragt werden, insbesondere in Anbetracht dessen, dass Spätkomplikationen nur sehr selten auftreten. Wir sind der Meinung, dass ein Kind, das keinen ständigen Ballengang aufweist, keine wesentliche Verkürzung der Wadenmuskulatur hat und einen Fersengang ohne Kompensationsmechanismen ausführen kann, keiner Therapie bedarf. Kinder mit verminderter Dorsalextension (< 10 Grad) haben eine schlechtere Prognose bezüglich des spontanen Sistierens des Ballengangs (7). Somit können bei Kindern mit einer mässigen Verkürzung der Wadenmuskulatur Therapiemassnahmen in Erwägung gezogen werden. Konservative Therapiemassnamen beinhalten eigenständige oder physiotherapeutisch begleitete Dehnübungen, Einlagen oder Orthesen, Botulinumtoxininjektionen in die Wadenmuskulatur sowie die Gipsredression. Leider fehlen für viele dieser Massnahmen prospektive, kontrollierte Studien. Physiotherapie: Der Nutzen einer isolierten physiotherapeutischen Behandlung ist in der Literatur unzureichend belegt. Da die physiotherapeutischen Massnahmen oft sehr heterogen sind, die Therapie über eine längere Zeit durchgeführt wird und dem Alter des Kindes
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angepasst werden muss, ist es schwierig, methodisch korrekte Studien durchzuführen. Aus persönlicher Erfahrung erscheint uns die alleinige Physiotherapie zur Behebung des Ballengangs nicht zielführend zu sein. Wir sehen die begleitende Physiotherapie jedoch als wertvolle Massnahme an. Ein bedeutender Anteil dieser Kinder hat mit dem Gleichgewicht oder der Körperwahrnehmung Probleme, die durch verschiedene Übungen verbessert werden können. Auch Alltagsaktivitäten, welche sowohl die Balance trainieren als auch ein flaches Abstellen der Füsse notwendig machen, wie zum Beispiel Skateboardfahren, sollen an dieser Stelle genannt werden. Orthesen: Bartoletta et al. (8) untersuchten 204 konservativ therapierte Kinder in einer retrospektiven Studie, wobei 103 von ihnen eine Unterschenkelorthese als Therapiemassnahme erhielten. Oft wurde diese Orthese in Kombination mit anderen Therapiemöglichkeiten eingesetzt. Bei der Nachkontrolle zeigte sich bei 55 Kindern ein erfolgreicher Verlauf mit aufgehobenem Ballengang, alle hatten eine Unterschenkelorthese verwendet. Herrin et aI. (9) verglichen in einer prospektiven, randomisierten Studie 2 verschiedene Orthesenversorgungen. Je 9 Kinder erhielten entweder eine Unterschenkelorthese mit Gelenk oder eine Fussorthese mit steifer Carbonsohle. Bis auf ein Kind war bei allen in der Fussorthesengruppe der Ballengang aufgehoben. 6 Wochen nach Weglassen der Versorgung zeigte sich in beiden Gruppen ein partielles Wiederauftreten des Ballengangs in etwa demselben Ausmass. Botulinumtoxin: Der Effekt von Botulinumtoxininjektionen in den M. gastrocnemius wurde von Engström et al. (10) bei 15 Kindern zwischen 5 und 13 Jahren untersucht. Von den 11 Kindern, die am Follow-up nach 1 Jahr dabei waren, hatten zwar alle einen gewissen Ballengang beibehalten, die Ganganalyse zeigte jedoch eine signifikante Verbesserung der Gangparameter. Die Eltern berichteten über einen aufgehobenen Ballengang bei 3 Kindern, eine Verbesserung bei 4 Kindern und einen gleichbleibenden Befund bei 4 Kindern. In einer vom selben Autor durchgeführten prospektiven, randomisierten Studie, welche die alleinige Gipstherapie gegenüber Gipstherapie und Botulinumtoxininjektion verglich, war keine weitere Verbesserung durch die zusätzliche Botulinumtoxininjektion feststellbar (11). Gipsredression: Eine von uns regelmässig angewandte Therapie beim idiopathischen Ballengang ist die Gipsredression. Diese wirkt einerseits über eine Dehnung der Wadenmuskulatur, indem der Fuss in maximal möglicher Dorsalextension eingegipst wird, andererseits führt sie dazu, dass die Kinder während der Gipstherapie gezwungen sind, über die Ferse abzurollen und sich so mit dem neuen propriozeptiven Input anfreunden können. Der Gips wird in 1- bis 2-wöchentlichen Abständen gewechselt, um die Wadenmuskulatur im Verlauf noch stärker zu dehnen. Die Kinder sind durch die Gipstherapie meist nur gering im Alltag eingeschränkt und können die Schule besuchen. Um einen guten aufrechten Gang trotz Gips zu ermöglichen, fertigen wir die Gipse oft mit einem Negativabsatz (Abbildung 3). Wegen einer vorübergehenden muskulären Schwäche fällt den Kindern das Gehen in den ersten Tagen nach dem Abnehmen des Gipses erfahrungsgemäss etwas schwerer. Eine begleitende Phy-
siotherapie ist zu diesem Zeitpunkt sinnvoll. Bezüglich der Gipstherapie existieren viele Studien mit unterschiedlichen Ergebnissen. In einer belgischen Studie zeigten 29 von 44 Patienten ein Sistieren des Ballengangs nach beidseitiger Unterschenkelgipstherapie nach 14 Monaten Follow-up (12). Im Gegensatz hierzu war in einer Studie von Eastwood gemäss ärztlicher Beurteilung eine Normalisierung des Gangbildes lediglich bei 22 Prozent der Kinder nach erfolgter Gipstherapie feststellbar, während 51 Prozent der Eltern den Eindruck hatten, das Kind hätte den Ballengang beendet (13). Auch bei der Gipsredression scheint es keinen Konsens bezüglich des Nutzens zu geben, obwohl die Datenlage eine eher höhere Erfolgsrate im Vergleich zur Botoxinjektion nahelegt. Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Wirksamkeit der konservativen Therapie in der Literatur nicht ausreichend geklärt ist. Aus persönlicher Erfahrung kann gesagt werden, dass die subjektive Zufriedenheit der Eltern nach erfolgter Gipstherapie fast in allen Fällen gut ist, auch wenn berichtet wird, dass die Kinder in gewissen Situationen weiterhin auf den Ballen gehen.
Operative Therapie
Wenn die Fersen auch bei komplett entspannter Muskulatur den Boden nicht mehr berühren, ein Stehen nur noch auf dem Vorfuss oder nur mit einem Schuh mit deutlich erhöhtem Absatz möglich ist, besteht eine klare funktionelle Einschränkung. Es kommt zu einer schnellen Ermüdbarkeit beim Stehen und zu Problemen mit der Balance. In diesen Fällen erscheint die operative Therapie insbesondere nach Versagen konservativer Massnahmen indiziert zu sein. Die operative Therapie beschränkt sich auf die chirurgische Verlängerung der Wadenmuskulatur. Dabei werden verschiedene Operationstechniken je nach Höhe der zu verlängernden Struktur unterschieden und in Zonen eingeteilt. Es wird zwischen der Verlängerung des M. gastrocnemius (Zone I), der Verlängerung des M. gastrocnemius und der Faszie des M. soleus (Zone II) und einer perkutanen oder offenen Verlängerung der Achillessehne (Zone III) unterschieden (Abbildung 4). Der Nutzen der operativen Therapie ist deutlich besser dokumentiert als bei konservativen Therapien, weil es sich um eine klar definierte Intervention mit nachfolgend mehr oder weniger regelmässigerer Nachkontrolle handelt. In die 2021 publizierte Studie von Westberry et al. wurden insgesamt 26 Patienten mit einem durchschnittlichen Alter von 9,9 Jahren eingeschlossen. Es zeigten sich erfolgreichere Resultate mittels Zone-III-Interventionen, ohne erhöhtes Risiko für eine Schwächung der Plantarflexion oder für ein Rezidiv. 3,6 Jahre postoperativ benötigten die Kinder zusätzlich weder eine konservative noch eine operative Therapie (14). Während in dieser Studie keine nennenswerten Komplikationen im Rahmen der operativen Behandlung auftraten, dokumentiert ein systematischer Review eine Komplikationsrate von rund 7 Prozent (15). Dazu zählen eine übermässige Verlängerung der Wadenmuskulatur mit konsekutiver Schwäche, Nervenläsionen, Narbenprobleme und Wundinfektionen. Leider fehlen Berichte zum Mittel- und Langzeitverlauf, um eine genauere Aussage über das Gangbild im Erwachsenenalter treffen zu können. Die operative Therapie vermag jedoch kurz- und mittelfristig mit einem über-
Abbildung 3: Redressionsgips mit Negativabsatz
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Abbildung 4: Gastrocnemius-Soleus-Achillessehnen-Komplex eingeteilt nach Zonen. Rechts: intraoperatives Bild einer Wadenmuskelverlängerung nach Baker in Zone II. Die eingeschnittene Muskelfaszie über dem M. soleus wird auseinandergezogen und seitlich mit Nähten fixiert.
schaubaren Aufwand und insgesamt doch geringen Risiken zufriedenstellende Resultate zu erzielen.
Spezialfall Autismus
Dem Ballengang liegt nicht zwingend immer eine somatische Ursache zugrunde. Des Öfteren werden Kinder mit Autismusspektrumstörungen und damit einhergehendem Zehenspitzengang identifiziert. Die Prävalenz des persistierenden Ballengangs bei Kindern ab 10 Jahren beträgt rund 1 bis 2 Prozent, und sie ist mit Entwicklungsverzögerungen wie Sprachstörungen vergesellschaftet (6). Eindrücklicher ist die Prävalenz von Zehenspitzenläufern unter den Kindern mit Autismus, wobei diese je nach Quelle bei etwa 20 Prozent liegt. Der Grund hierfür ist weiterhin unklar. Man vermutet eine veränderte taktile beziehungsweise sensorische Wahrnehmung bei Patienten mit einem neuropsychiatrischen Grundleiden (16, 17).
Abbildung 5: Röntgenbilder und MRI-Bilder eines Jugendlichen mit persistierendem Ballengang und neu aufgetretenen Beschwerden über dem vorderen Sprunggelenk. Es zeigt sich die Verdickung des Talushalses mit neu aufgetretenem Ödem dorsalseits, da sich der Ballengang wohl zunehmend reduziert hat. Eine Normalisierung stellte sich schliesslich nach der Operation mit alleiniger Knochenresektion über dem Talushals ein.
In einer retrospektiven Datenanalyse in den USA wurde die Behandlung von Kindern mit Autismusspektrumstörungen und Ballengang mit gesunden Kindern mit idiopathischem Ballengang verglichen. Kinder mit Autismusspektrumstörungen erhielten 3-mal häufiger eine chirurgische Behandlung, und präoperativ wurde bei ihnen seltener eine Gipsredression versucht als bei den operierten Kindern ohne Autismusspektrumstörungen. Unabhängig von der Art der Behandlung und dem Vorhandensein oder Fehlen von Autismusspektrumstörungen persistierte der Ballengang bei über der Hälfte der Kinder (3). Bei Kindern mit Autismusspektrumstörungen sehen wir ausgeprägte Verkürzungen deutlich häufiger als bei anderen Kindern. Ein konservativer Therapieversuch erscheint aufgrund des Spitzfussausmasses und der zu erwartenden schwierigen Anlage von Redressionsgipsen in vielen Fällen nicht Erfolg versprechend. Deshalb führen wir – trotz der scheinbar schlechten Resultate in der Literatur – in dieser Patientengruppe gehäuft operative Massnah men durch. Das realistische Ziel einer Operation ist dann nicht das komplette Sistieren des Ballengangs, sondern eine plantigrade Belastungsfähigkeit der Füsse, was wir auch klar kommunizieren. Manche Autoren empfehlen standardmässig eine Versorgung mit Unterschenkelorthesen während des Tages, um ein Rezidiv zu vermeiden (18), was von uns jedoch nicht empfohlen wird.
Spätfolgen
Im Gegensatz zu Fussproblemen oder Spätfolgen aufgrund des Tragens von Schuhen mit hohem Absatz sind diejenigen wegen eines über längere Zeit bestehenden Ballengangs äusserst selten in der orthopädischen Praxis anzutreffen. Sicherlich führt ein länger dauernder persistierender Ballengang zu einer Verkürzung der Wadenmuskulatur und vice versa (19). Allerdings kann die verkürzte Wadenmuskulatur beim flachen Absetzen des Fusses zu einem deutlichen Einknicken des Fusses und der Entwicklung eine Plattfusses beitragen. Das ist sporadisch bei Kindern und Jugendlichen zu beobachten, die längere Zeit auf den Zehenspitzen gelaufen sind. Auch kommt es bei länger dauerndem Ballengang regelmässig zu einer Verstärkung der Tibiaaussendrehung, ein Umstand, welcher sich oft erst nach einer Therapie des Spitzfusses bemerkbar macht (20). Prozesse zur Anpassung des gewichttragenden Skeletts wegen einer Veränderung der Kinematik sind bekannt. Eine im Jahr 2018 veröffentlichte Arbeit von Sinclair et aI. befasst sich mit den ossären Strukturen eines Zehenspitzenläufers: Die radiologische Untersuchung von 22 Patienten mit einem Durchschnittsalter von 8,7 Jahren zeigt eine Veränderung der skelettalen Entwicklung. Hauptsächlich ist der Talus betroffen, wobei die Halskomponente aufgrund der longitudinalen Krafteinwirkung hypertrophiert. Zusätzlich kann eine Abflachung der talaren Trochlea zum Sprunggelenk beobachtet werden, was zu einer ossären Einschränkung des Bewegungsumfangs im Sprunggelenk führt (Abbildung 5) (21).
Zusammenfassung und Conclusio
Bei persistierendem Ballengang nach dem 2. Lebensjahr sollte in der kinderärztlichen Praxis an mögliche neuro-
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logische, neuromuskuläre oder neuropsychiatrische Grunderkrankungen gedacht werden. Der Ballengang tritt jedoch auch bei gesunden Kindern im Rahmen der Entwicklung häufig auf, und er verliert sich im Verlauf der Reifung des Gangbildes in der Mehrzahl der Fälle. Gelegentlich ist bei Erwachsenen mit einem idiopathischen Ballengang im Kindesalter noch ein wippendes Gangbild zu sehen, jedoch nie ein hoher Ballengang. Studien haben gezeigt, dass der Ballengang aus energetischer Sicht ineffizienter ist, ansonsten sind aber nur selten Folgekomplikationen zu erwarten. Entsprechend ist der idiopathische Ballengang in den meisten Fällen eher als kosmetisches Problem anzusehen. Aufgrund der Studienlage ist bei einer mässigen Verkürzung der Wadenmuskulatur (Dorsalextension < 10 Grad in Kniestreckung) die Prognose bezüglich spontaner Regredienz schlechter, sodass wir in diesen Fällen eine konservative Therapie anbieten. In der Regel ist das der Fall bei Kindern, die nicht – oder nur mit deutlichen Kompensationsmechanismen – auf den Fersen gehen können. Die Evidenz für den Erfolg sämtlicher konservativer Massnahmen ist ziemlich dürftig. Wir empfehlen meist eine Gipsredression über eine Dauer von 4 Wochen mit nachfolgender Physiotherapie und allfälliger nächtlicher Schienentherapie. Damit lässt sich in den allermeisten Fällen eine klare Verbesserung des Gangbildes erzielen,
auch wenn nur selten eine komplette Normalisierung eintritt. Beim Versagen der konservativen Massnahmen kann durch eine operative Verlängerung der Wadenmuskulatur respektive der Achillessehne das Gangbild gemäss Studienlage erfolgreich und risikoarm verbessert werden. Eine klare Operationsindikation sehen wir allerdings nur in Fällen mit deutlicher struktureller Verkürzung gegeben, wenn ein flaches Abstellen des Fusses nicht mehr möglich ist oder sekundäre Probleme daraus resultieren. Zuletzt sei die Frage erlaubt, ob der persistierende Ballengang nicht eher als Normvariante betrachtet werden sollte statt als Pathologie.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Hanspeter Huber Leitender Arzt, Teamleiter Kinderorthopädie Klinik für Orthopädie und Traumatologie Kantonsspital Winterthur Brauerstrasse 15 8401 Winterthur E-Mail: hanspeter.huber@ksw.ch
Interessenlage: Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte in Bezug auf diesen Beitrag bestehen.
Die Abbildungen wurden von den Autoren zur Verfügung gestellt.
Literatur unter www.ch-paediatrie.ch
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