Transkript
Rheumatologie
Könnte es JIA sein?
Unklare Hemiparese – ein Fallbericht
Ein 3½-jähriger Knabe kommt mit einem unsicheren Gangbild in die Praxis. Mehrere Gelenke sind geschwollen und nur eingeschränkt beweglich. Das Kind weist Schonhaltungen, Fehlstellungen und Ausgleichsbewegungen auf, und es bestehen Kontrakturen und Muskelatrophien. Wie lautet Ihre Diagnose?
Von Moritz Klaas, Ute Mendes und Hermann Girschick
Der 3½-jährige Knabe, das mittlere Kind gesunder Eltern, wurde im Rahmen der SPZ-Sprechstunde interdisziplinär vorgestellt. Die Eltern berichteten, dass er seit dem 4. Lebensmonat eine unklare Bewegungsstörung habe, beginnend mit einer Schonhaltung des rechten Ellenbogens. Zum Ende des 1. Lebensjahres habe sich eine Progredienz der Symptomatik gezeigt, mit zunehmenden Bewegungseinschränkungen und Fehlstellungen weiterer Gelenke, welche zuletzt unter dem Eindruck der Rechtsseitenbetonung als Hemiparese unklarer Genese eingeordnet wurde. Laboruntersuchungen, Röntgen von Ellenbogen rechts und HWS, wiederholte MRT des Kopfes und neurophysiologische Untersuchungen waren nicht wegweisend. Unter den Arbeitsdiagnosen einer übergeordneten neurologischen Erkrankung, einer Atlasblockade oder einer Radiusköpfchenluxation erhielt er Physiound Ergotherapie, manuelle Therapie sowie wiederholte Ruhigstellungen des rechten Ellenbogengelenks per Oberarmgipsschiene.
Befund
Bei der körperlichen Untersuchung zeigte sich ein unsicheres, staksiges Gangbild mit fehlender Abrollbewegung. Zahlreiche Gelenke wiesen Schonhaltungen und Fehlstellungen auf. Das Kind führte Ausgleichsbewegungen aus, und es bestanden Kontrakturen und Muskelatrophien. Rotation und Reklination der HWS waren
Wesentliches für die Praxis
● Die juvenile idiopathische Arthritis (JIA) wird klinisch definiert. Die klinische Symptomatik kann zunächst vieldeutig sein, anfängliche Fehldiagnosen sind möglich.
● Bildgebende Verfahren und Laboranalysen können den Befund näher zuordnen und Differenzialdiagnosen ausschliessen.
● Eine frühe und konsequente Therapie kann die Prognose bei JIA entscheidend beeinflussen.
aktiv und passiv eingeschränkt. Es bestanden Schwellungen und Bewegungseinschränkungen beider Ellenbogengelenke, deutliche Bewegungseinschränkungen der Handgelenke mit residualer Wackelbeweglichkeit, tastbare Verdickung und Bewegungseinschränkungen mehrerer Fingergelenke, Rotationseinschränkungen beider Hüftgelenke, Kontrakturen beider Kniegelenke mit begleitender Muskelatrophie und Beinlängendifferenz, Schwellungen und Bewegungseinschränkungen beider Sprunggelenke, Rötung und Schwellung der 4. Zehe rechts und Hypotrophien der Zehen 2 und 3 rechts sowie 2 links (Abbildung). Mittels Sonografie war in mehreren Gelenken eine Synovialitis darstellbar. Laborchemische Inflammationsparameter, antinukleäre Antikörper, Rheumafaktoren und HLA-B27 waren unauffällig. Eine Uveitis war auch im weiteren Erkrankungsverlauf nicht nachweisbar.
Diagnose JIA
In diesem Fall sprechen Anamnese, klinischer Befund und Zusatzuntersuchungen für eine juvenile idiopathische Arthritis (JIA), Subtyp seronegative Polyarthritis. Als JIA wird eine Arthritis unklarer Genese bezeichnet, die mehr als 6 Wochen anhält und vor dem 16. Geburtstag beginnt. Nach der aktuellen Klassifikation der International League of Associations for Rheumatology werden auf der Basis von klinischen Merkmalen (z. B. der Zahl befallener Gelenke, dem Vorhandensein von Rheumafaktoren) 7 Subgruppen kategorisiert, von denen die Oligoarthritis mit Abstand am häufigsten auftritt (1). Die Arthritis wird klinisch definiert. Bildgebende Verfahren und Laboranalysen ermöglichen die weitere Einordnung sowie den Ausschluss von Differenzialdiagnosen. Es zeigen sich Schwellungen an Sehnen und Gelenken, aber auch Fehlstellungen, Funktionseinschränkungen und Schonhaltungen. Bei der Diagnosestellung muss eine Vielzahl an Differenzialdiagnosen bedacht werden (Tabelle). An extraartikulären Manifestationen und Komplikationen der JIA sind hervorzuheben:
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Rheumatologie
rechts
links
Etanercept. Die Physiotherapie wurde intensiviert und die Familie zum regelmässigen Üben angeleitet. Eine anhaltende Remission unter Medikation konnte im Alter von 4½ Jahren erzielt werden. Der Knabe wurde altersgerecht eingeschult und liess sich für sportliche Aktivitäten begeistern. Das Wachstum (Länge und Gewicht) des nun 8-Jährigen verläuft entlang der 50. Perzentile. Somit beobachten wir trotz der eher späten Diagnosestellung und der damit verzögerten Therapieeinleitung einen recht erfreulichen Verlauf. Viele Fehlstellungen haben sich im Lauf der Jahre korrigiert. Jedoch sind weiterhin eine leichte Einschränkung bei Reklination des Kopfes, ein unvollständiger kleiner Faustschluss im Bereich der Finger 3 rechts und 2 und 4 links wie auch eine gewisse Rigidität bei passiver Bewegung der Sprunggelenke in Supination erkennbar. Zudem war bislang die Beendigung der Etanercept-Therapie nicht möglich.
Abbildung: Schematische Darstellung der betroffenen Gelenke
● Uveitis (Augenentzündung, bei der die mittlere Augenhaut Uvea betroffen ist, welche zunächst oft symptomlos verläuft, jedoch unbehandelt zu irreversiblen Folgeschäden führen kann – ein junges Erkrankungsalter und der Nachweis von antinukleären Antikörpern stellen einen Risikofaktor dar)
● Anämie ● Minderwuchs ● Makrophagenaktivierungssyndrom (unkontrolliert
überschiessende Entzündungsreaktion des Immunsystems mit hoher Mortalitität).
Prognose
Eine unzureichend behandelte Arthritis kann in einen dauerhaften Schaden von Gelenken und umgebenden Strukturen münden und langfristig einen Gelenkersatz erforderlich machen. Hierbei ist zu beachten, dass die Prognose der JIA vom Zeitpunkt der Diagnosestellung und des Therapiebeginns abhängt. Eine frühe, konsequente Therapie der JIA erhöht die Wahrscheinlichkeit für ein Erreichen einer medikamentenfreien Remission (2). Es stehen nicht steroidale Antirheumatika zur Behandlung akut entzündlicher Beschwerden, glukokortikoidhaltige Präparate zur lokalen Anwendung oder überbrückend zur systemischen Therapie bei schweren Verläufen sowie immunmodulierende konventionelle und biologische Präparate zur Verfügung. Nicht medikamentöse Therapieformen beinhalten Physiotherapie, Ergotherapie, physikalische Massnahmen, Hilfsmittelanwendung und gegebenenfalls eine psychologische Betreuung.
Tabelle:
Auswahl möglicher Differenzialdiagnosen
Nicht entzündliche Genese
Traumatisch/orthopädisch • Fraktur • Epiphyseolysis capitis femoris • Morbus Perthes
Neoplasien • Leukämie, Lymphom, Neuroblastom • solide Tumoren von Knochen und Muskeln
Fehlbelastungen • Hypermobilitätssyndrom
Metabolisch • Morbus Fabry
Lokalisierte oder generalisierte Schmerzver- stärkungssyndrome
Entzündliche Genese
Infektiös • bakterielle Arthritis • Ostemyelitis • Lyme-Arthritis
Autoinflammatorisch • chronische nicht bakterielle Osteomyelitis • familiäres Mittelmeerfieber
Reaktiv • Coxitis fugax
Kollagenosen • systemischer Lupus erythematodes
Vaskulitiden • Purpura Schönlein-Henoch
Korrespondenzadresse: Dr. med. Moritz Klaas Klinik für Kinder- und Jugendmedizin Vivantes Klinikum im Friedrichshain Landsberger Allee 49 D-10249 Berlin E-Mail: moritz.klaas@vivantes.de
Interessenkonflikt: Der korrespondierende Autor gibt für sich und seine Koautoren an, dass kein Interessenkonflikt im Zusammenhang mit diesem Beitrag besteht.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Zeitschrift Kinderärztliche Praxis 2/2021. Die bearbeitete Übernahme erfolgte mit freundlicher Genehmigung des korrespondierenden Autors und des Verlags Kirchheim.
Wie ging es in diesem Fall weiter?
Die Familie des hier beschriebenen Knaben bat nach gestellter Diagnose einer JIA vom Subtyp seronegative Polyarthritis um eine Zweitmeinung in einem anderen kinderrheumatologischen Zentrum, ehe sie der weiteren Behandlung zustimmte. Diese erfolgte initial mit nicht steroidalen Antirheumatika, Methotrexat (Beginn mit 3 8/12 Jahren, Ende mit 6 3/12 Jahren) und seit dem Alter von 4 1/12 Jahren mit
Literatur: 1. Petty RE et al.: International League of Associations for Rheumatology classification of juvenile idiopathic arthritis: second revision, Edmonton, 2001. J Rheumatol. 2004;31(2):390-392. 2. Minden K et al.: Time of Disease-Modifying Antirheumatic Drug Start in Juvenile Idiopathic Arthritis and the Likelihood of a Drug-Free Remission in Young Adulthood. Arthritis Care Res (Hoboken). 2019;71(4):471-481. doi:10.1002/acr.23709.
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