Transkript
Schwerpunkt
Was hilft bei Schlafproblemen?
Normale und weniger normale Schlafmuster im Kindesalter
Ein strukturiertes, schrittweises Vorgehen mit Objektivierung des Schlafverhaltens durch ein Schlafprotokoll, eine Rhythmisierung des Tagesablaufs und eine Anpassung der Bettzeit an den individuellen Schlafbedarf verbessert die meisten verhaltensbedingten Schlafstörungen erheblich. In diesem Artikel wird sowohl die normale kindliche Schlafentwicklung skizziert als auch das Zürcher 3-Stufen-Beratungskonzept anhand von Fallbeispielen aus der Schlafsprechstunde vorgestellt.
Von Rabia Liamlahi
Abbildung 1: Zwei-ProzessModell der Schlafregulation
Der kindliche Schlaf ist ein wichtiges Thema in vielen Familien, und es wird im Rahmen der kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen häufig angesprochen. Eine Umfrage unter Praxispädiatern und Praxispädiaterinnen im Kanton Zürich ergab, dass sich jede fünfte kinderärztliche Vorsorgeuntersuchung und 2 Prozent aller Notfallkonsultationen um das Thema Schlaf drehen (1). Die Eltern fragen dabei unter anderem, ob das Schlafverhalten ihres Kindes normal sei, sowohl in Bezug auf nächtliche Wachphasen, die Schlafdauer, den Einschlafzeitpunkt und die Einschlafdauer als auch in Bezug auf das selbstständige Einschlafen und das Alleinschlafen-Können. Und natürlich geht es auch um die Frage, was die Eltern tun können, damit ihr Kind «besser» schläft. Eine gute Kenntnis der Schlafentwicklung des Kindes ist essenziell, um zu verstehen, was in welchem Alter normal sein kann, und um die Eltern bestmöglich zu beraten. In der Beratung sollte es auch darum gehen, den Eltern zu helfen, die Bedürfnisse ihres Kindes zu erkennen, und ihnen aufzuzeigen, wie sie es bei der Bewältigung von Entwicklungsaufgaben unterstützen können. In diesem Artikel wird zunächst die normale kindliche Schlafentwicklung skizziert und im Anschluss daran anhand von Fallbeispielen aus der Schlafsprechstunde mit dem Zürcher 3-Stufen-Beratungskonzept dargestellt, was bei verhaltensbedingten Schlafproblemen hilft. Auf organisch bedingte Schlafstörungen wird in diesem Artikel nicht eingegangen.
Grundlagen der Schlafentwicklung
In den ersten Lebensmonaten passen sich die kindlichen Schlaf-Wach-Phasen dem Tag-Nacht-Rhythmus an. Die Wachphasen werden länger und regelmässiger, und das Kind lernt, mehrere Stunden am Stück zu schlafen. Ab dem Alter von etwa 24 Monaten beginnen die ersten Kinder, auf den Mittagsschlaf zu verzichten. 50 Prozent aller Kinder brauchen mit 3 Jahren noch einen Mittagsschlaf, und im Alter von 4 Jahren sind es noch etwa 15 Prozent aller Kin-
der, die täglich einen Mittagsschlaf halten (2). Welche physiologischen Voraussetzungen sind notwendig, damit es einem Kind im Laufe seiner Entwicklung gelingt, immer länger wach zu bleiben, nachts durchzuschlafen und schliesslich ohne Mittagsschlaf auszukommen? Zwei-Prozess-Modell der Schlafregulation: Einen Erklärungsansatz bietet das Zwei-Prozess-Modell der Schlafregulation von Borbély (3). Dieses besagt, dass zwei biologische Prozesse den Schlaf und das Wachsein beim Menschen steuern, der zirkadiane Rhythmus und die Schlafhomöostase (Abbildung 1). Zirkardianer Rhythmus: Der zirkadiane Rhythmus, auch innere oder biologische Uhr genannt, ist schlafunabhängig und in den suprachiasmatischen Kernen des Hypothalamus lokalisiert. Er wird laufend mit äusseren Zeitgebern, wie zum Beispiel dem Tageslicht, dem Umgebungslärm, den sozialen Kontakten oder der Nahrungsaufnahme, synchronisiert. Der Chronotyp eines Menschen (also ob wir beispielsweise eine «Lerche» [Morgentyp] oder eine «Eule» [Abendtyp] sind) wird durch den zirkadianen Rhythmus bestimmt. Bereits im Kindesalter zeigt sich dieser Chronotyp, und er bleibt ein Leben lang bestehen. Der zirkadiane Rhythmus ist bereits ab Geburt funktionstüchtig, jedoch in den ersten Lebensmonaten noch unreif, und er muss mit dem TagNacht-Rhythmus synchronisiert werden. Schlafhomöostase: Die Schlafhomöostase ist unabhängig von der Tageszeit. Je länger ein Mensch wach ist, desto grösser wird sein Schlafdruck, und die Schlafbereitschaft nimmt zu. Im Schlaf wird der Schlafdruck wieder abgebaut. Je grösser der Schlafdruck ist, desto kürzer ist die Einschlaflatenz (Zeit bis zum Einschlafen) und desto tiefer der nachfolgende Schlaf. Optimalerweise sind der zirkadiane Rhythmus und die Schlafhomöostase gut aufeinander abgestimmt. Nimmt abends die zirkadiane Wachheit ab und ist der Schlafdruck hoch genug, gelingt das Einschlafen in der Regel gut. In den Morgenstunden fühlen wir uns trotz tiefer zirkadianer Wachheit (oder hoher zirkadianer Müdigkeit) ausgeruht,
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weil der Schlafdruck tief ist. Die Schlafhomöostase ist in den ersten Lebenswochen noch nicht funktionstüchtig. Erst ab dem 2. oder 3. Lebensmonat beginnt sie allmählich zu wirken (4). Das ist der Grund, weshalb man ein Neugeborenes oder einen jungen Säugling nicht länger wach halten kann, in der Hoffnung, dass das Kind anschliessend länger schläft. Ein Erklärungsansatz zum unspezifischen Schreien des Säuglings in den ersten 3 Lebensmonaten beruht ebenfalls auf dem Zwei-Prozess-Modell der Schlafregulation. Der Säugling ist aufgrund einer hohen zirkadianen Wachheit in den Abendstunden sehr aufmerksam und rasch überreizt, die Schlafhomöostase ist jedoch noch unreif, und der Schlafdruck wirkt dieser hohen zirkadianen Wachheit nicht entgegen. Obwohl der Säugling schon länger wach ist, gelingt es ihm nicht einzuschlafen. Er beginnt schliesslich zu schreien. Ab dem 3. Lebensmonat beginnt die Schlafhomöostase zunehmend der zirkadianen Wachheit entgegenzuwirken, und das abendliche Schreien nimmt ab (5). Je jünger ein Kind ist, desto steiler steigt der Schlafdruck an, und das Kind muss ein Schläfchen halten. Je älter ein Kind wird, desto flacher verläuft der Anstieg des Schlafdrucks und desto länger kann es tagsüber wach bleiben. Individueller Schlafbedarf: Der Schlafbedarf ist bei Kindern wie auch bei Erwachsenen individuell, und er weist eine grosse Variabilität innerhalb der Altersgruppe auf. Ausserdem nimmt der Schlafbedarf mit zunehmendem Alter ab (Abbildung 2). Schlafarchitektur: Auch die Schlafarchitektur verändert sich im Lauf der Entwicklung. Während bei Erwachsenen in der ersten Nachthälfte Leicht- (N1/2) und Tiefschlafphasen (N3) mit nur kurzen REM-Schlafphasen (rapid eye movement) vorherrschen und in der zweiten Nachthälfte längere REM-Schlafphasen zu beobachten sind, entwickelt sich diese Struktur bei Kindern erst im Laufe der Zeit (6). Der aktive Schlaf (mit dem REM-Schlaf vergleichbar) macht beim jungen Säugling etwa 50 Prozent der Gesamtschlafzeit aus. Mit zunehmendem Alter verringert sich der REM-Schlafanteil, und er macht beim jungen Erwachsenen noch etwa 17 Prozent aus (7). Auch die Schlafzyklen (Abfolge von NREM- und REM-Schlafstadien) verändern sich. Bei Kindern sind sie deutlich kürzer. Sie werden mit zunehmendem Alter länger, bis sie schliesslich etwa 90 bis 110 Minuten bei Erwachsenen betragen (8). Nach einem Schlafzyklus kommt es häufig zu einem kurzen Erwachen aus dem REM-Schlaf (4- bis 6-mal pro Nacht), meist gefolgt von einem raschen Wiedereinschlafen (8) (Abbildung 3).
Grundlegende Pfeiler der Schlafberatung
In der Schlafsprechstunde der Abteilung Entwicklungspädiatrie des Kinderspitals Zürich arbeiten wir mit dem Zürcher 3-Stufen-Konzept, welches wissenschaftlich evaluiert wurde und sich auch in der kinderärztlichen Praxis gut anwenden lässt (9, 10). Zunächst werden die Eltern gebeten, über 14 Tage ein 24-Stunden-Protokoll zu führen. 1. Rhythmisierung: In einem ersten Schritt folgt bei Kindern jeglichen Alters die Rhythmisierung. Diese wirkt sich nicht nur positiv auf die Synchronisierung der inneren Uhr mit dem Tag-Nacht-Rhythmus aus, sondern sie führt bei Säuglingen und Kleinkindern auch dazu, dass die Eltern die Bedürfnisse ihres Kindes bezüglich Schlaf und Mahlzeiten besser erkennen können.
Die Rhythmisierung ist
in den ersten Lebens-
wochen und Monaten
(bis etwa zum 6. Le-
bensmonat) die wirk-
samste und einzig an-
zuwendende Mass-
nahme, um einen Säug-
ling dabei zu unterstüt-
zen, seinen Schlaf-Wach-
Rhythmus mit dem
Tag-Nacht-Rhythmus in
Einklang zu bringen. Sie
beinhaltet regelmässige
Mahlzeiten und Schlafenszeiten, regelmässige soziale Kontakte,
Abbildung 2: Perzentilenkurven für die Gesamtschlafdauer in 24 Stunden (aus den Zürcher Longitudinalstudien) (aus [2])
Spielzeiten, Spazier-
gänge und Exposition gegenüber dem Tageslicht. Während
bei älteren Kindern das Tageslicht der wichtigste Zeitgeber
für die innere Uhr ist, scheint im frühen Säuglingsalter die
Nahrungsaufnahme als wichtigster sozialer Zeitgeber eine
grössere Rolle zu spielen (6).
2. Ermitteln des Schlafbedarfs: In einem zweiten Schritt
wird bei Kindern ab etwa 6 Monaten der Schlafbedarf an-
hand des 24-Stunden-Protokolls ermittelt (Addieren der
durchgezogenen Linien über 24 Stunden für jeden Tag und
Errechnen des Durchschnitts über 14 Tage) und die Bettzeit
an den Schlafbedarf angepasst. Gemeinsam mit den Eltern
werden neue Schlafenszeiten festgelegt, an die sich die El-
tern schrittweise annähern sollen.
Ein Kind kann nur so viel schlafen, wie es seinem Schlaf-
bedarf entspricht. Muss das Kind mehr Zeit im Bett verbrin-
gen, als es schlafen kann, wird es abends Widerstand zei-
gen, ins Bett zu gehen, lange Zeit zum Einschlafen benöti-
gen, nachts erwachen oder morgens sehr früh aufstehen
(11).
Bei der Anpassung der Bettzeit an den Schlafbedarf ist es
wichtig, mit den Eltern zu besprechen, wie lang das Kind
tagsüber am Stück wach sein kann. Den Tagschlaf zu früh
auf einen Mittags-
schlaf zu kürzen oder
ganz zu streichen,
empfiehlt sich nicht,
da Kinder mit einem
geringen Schlafbedarf
aufgrund des steilen
Anstiegs des Schlaf-
drucks und des länge-
ren Tages oft noch
länger als Kinder mit
einem höheren Schlaf-
bedarf einmal (oder zweimal) am Tag schlafen müssen. Kürzt man ihren Tages-
Abbildung 3: Schematische Darstellung des Hypnogramms (Schlafprofil) eines Kindes mit den im Verlauf der Nacht durchlaufenen Schlafstadien
schlaf zu früh, schla-
fen sie abends beim Abendessen ein und werden nachts
weiterhin wach. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass ein Schlaf-
zyklus bei Kleinkindern, die Kurzschläfer sind, oft nur 30
oder 45 Minuten dauert und sie anschliessend wieder erholt
sind (siehe Fallbeispiele). Überdies sollte man beachten, dass
das Kind am späten Nachmittag/frühen Abend kein Schläf-
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benen Tempo meist gut durchführbar. Bevor sich die Eltern zu diesem dritten Schritt entscheiden, sollten sie sich jedoch sicher und einig sein, dass sie dem Kind das Erlernen des selbstständigen Einschlafens zutrauen und sie den möglicherweise vermehrten Protest aushalten. Je selbstständiger ein Kind abends einschlafen kann, desto eher schafft es das auch ohne die Hilfe der Eltern in der Nacht. Die Einführung eines Einschlafrituals hilft dem Kind selbstständig einzuschlafen. Rituale vermitteln ihm Sicherheit und Geborgenheit, und sie führen dazu, dass das Kind weiss, dass Schlafenszeit ist. Auch beeinflusst das Einschlafritual als sozialer Zeitgeber den zirkadianen Prozess positiv. Einschlafhilfen, wie zum Beispiel ein Nuggi, ein Kuscheltuch oder ein Kuscheltier, begleiten das Kind in den Schlaf. Bei der Einführung eines Übergangsobjekts ist es wichtig, dass sich die Eltern für ein Objekt (Tuch, Stofftier o. Ä.) entscheiden und dieses Objekt jeweils in wichtigen Situationen während des Tages und am Abend dazuholen (z. B. wenn sie das Kind trösten oder ins Bett bringen). Mit der Zeit gewöhnt sich das Kind an das Übergangsobjekt, und es vermittelt ihm Geborgenheit. Vorgehen bei Kindern mit Entwicklungsstörungen: Bei Kindern mit einer Entwicklungsstörung, wie zum Beispiel einer Autismus-Spektrum-Störung, die eine Ein- oder Durchschlafstörung haben, gehen wir zunächst nach dem gleichen Beratungskonzept schrittweise vor. Tritt nach konsequenter Durchführung der oben genannten Massnahmen keine ausreichende Verbesserung ein, besteht die Möglichkeit eines medikamentösen Therapieversuchs mit Melatonin (12). Entlastung der Eltern: Je nachdem wie ausgeprägt die Schlafstörung ist und wie lang die Vorgeschichte bereits dauert, braucht es etwas Zeit, bis sich eine deutliche Verbesserung einstellt. Sind die Eltern schon zu Beginn der Beratung sehr erschöpft, ist es wichtig, für Entlastung zu sorgen. Die Eltern sollten ermuntert werden, Hilfe von Familienangehörigen und Freunden anzunehmen. Eine weitere Möglichkeit für eine kurzfristige Entlastung bietet der Entlastungsdienst des Roten Kreuzes. Und letztlich sollte den Eltern auch die Möglichkeit einer Entlastungshospitalisation (in Absprache mit der zuständigen Kinderklinik) aufgezeigt werden, sollten sie an ihre Grenzen stossen. Die Gefahr für eine Kindesmisshandlung darf nicht unterschätzt werden.
Abbildung 4: Schlafprotokolle von Luka (Säugling, Fallbericht 1). A: erstes Schlafprotokoll (6 Monate), B: im Alter von 8 Monaten, C: im Alter von 9 Monaten
chen mehr hält, denn danach ist der Schlafdruck möglicherweise zur abendlichen Bettzeit nicht hoch genug und das Kind hat Schwierigkeiten einzuschlafen. 3. Selbstständiges Einschlafen: In einem dritten Schritt unterstützen wir die Eltern dabei, ihrem Kind zu helfen, das selbstständige Einschlafen zu erlernen. Dabei ist neben der Einführung eines regelmässigen Einschlafrituals und eines Übergangsobjekts eine schrittweise Reduktion der elterlichen Unterstützung im Sinne einer graduellen Annäherung an ein neues Verhalten in einem durch das Kind vorgege-
Fallbeispiel 1: Säugling
Luka ist 6 Monate alt. Aufgrund des jungen Alters erfolgt hier nur die Rhythmisierung. Die Mutter berichtet, dass Luka jede Nacht mehrmals erwache. Er schlafe nach einem Abendritual allein ein. Nach 2 bis 3 Stunden erwache er wieder und dann im Laufe der Nacht mit zunehmender Häufigkeit. Momentan schlafe Luka im Reisebett neben dem Bett der Mutter. Wenn Luka nachts erwache, versuche die Mutter zunächst, ihn im Bettchen zu beruhigen, oft helfe Tee im Schoppen oder Herumtragen. Luka könne tagsüber 2,5 bis 3 Stunden am Stück wach bleiben, länger schaffe er es noch nicht. Wenn er tagsüber einschlafe, werde er nach 45 Minuten oft schon wieder wach. Die Eltern haben schon vieles versucht, um Lukas Schlafverhalten zu verbessern (u. a. Osteopathie, Kinesiologie, Homöopathie, Simeticon, laktosefreie Milch), bisher ohne Erfolg. Lukas Zwillingsbruder (dizygote Zwillinge) schlafe seit der 14. Lebenswoche durch. Die persön-
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liche Anamnese von Luka ist unauffällig, ebenso die körperliche Untersuchung. Im Schlafprotokoll von Luka (Abbildung 4A) zeigt sich, dass Luka bezüglich der Mahlzeiten bereits einen regelmässigen Rhythmus hat. Die Tagschlafepisoden sind jedoch von Tag zu Tag noch sehr unterschiedlich. Gemeinsam mit der Mutter wurde ein Schlafplan festgelegt, mit regelmässigen Schlafzeiten tagsüber. Da Luka noch nicht länger als 2,5 bis 3 Stunden am Stück wach bleiben konnte, einigten wir uns auf 3 Schläfchen à 45 Minuten. Morgens sollte die Mutter Luka stets zur gleichen Zeit aufnehmen. Gleichzeitig begann die Mutter, die Menge der Tee-/Wasserschoppen in der Nacht schrittweise zu reduzieren. Nach kurzer Zeit berichtete die Mutter von einer deutlichen Verbesserung mit deutlich kürzeren und schliesslich auch deutlich selteneren Wachphasen in der Nacht (Abbildungen 4B/C).
Fallbericht 2: Vorschulkind
Anna ist 2 Jahre alt. Die Eltern berichten, dass Anna seit dem Alter von etwa 9 Monaten nachts häufig erwache. Abends schlafe sie nach einem Abendritual rasch in ihrem eigenen Bett ein. In der ersten Nachhälfte schlafe sie meist tief und ruhig. Gegen 1 Uhr nachts erwache sie in der Regel zum ersten Mal und dann immer wieder bis zum Morgen. Auf Anraten der Kinderärztin wecken die Eltern Anna seit einigen Tagen nach 45 Minuten aus dem Mittagsschlaf. Zuvor habe Anna einen längeren Mittagsschlaf (ca. 1,5 Stunden) gehalten. Die persönliche Anamnese sowie die körperliche Untersuchung von Anna sind unauffällig. Anhand des von den Eltern ausgefüllten Schlafprotokolls (Abbildung 5A) ermittelten wir den durchschnittlichen Schlafbedarf von Anna (etwa 9,5 Stunden). Zur Veranschaulichung für die Eltern zeichneten wir diesen in die Schlafperzentilen ein (unter P2) (Abbildung 5B). Anschliessend erstellten wir gemeinsam mit den Eltern einen Schlafplan unter Berücksichtigung des errechneten Schlafbedarfs, dem sich die Eltern schrittweise annähern sollten (Abbildung 5C). Die Eltern berichteten bereits nach kurzer Zeit von einer deutlichen Verbesserung der Nächte mit nur noch kurzem Erwachen, meist ein- bis zweimal pro Nacht. Nach einer kurzen Krankheitsphase mit schlechteren Nächten folgten deutlich bessere Nächte mit nur noch einmaligem kurzem Erwachen am Morgen.
Schlafberatung bei Schulkindern
Bei Schulkindern mit einem geringen Schlafbedarf stehen in der Regel Einschlafprobleme im Vordergrund. Da auch bei ihnen der Schlafbedarf häufig überschätzt wird, verbringen sie oft mehr Zeit im Bett, als sie schlafen können. Sie liegen dann lang im Bett wach (manchmal mehrere Stunden), bevor sie einschlafen können. Meist haben sie eine längere Leidensgeschichte hinter sich und über Jahre gelernt, dass sie sowieso nicht schlafen können. Die Vorgehensweise in der Schlafberatung bei Schulkindern unterscheidet sich vom Vorgehen bei Vorschulkindern. In einem ersten Schritt erfolgt neben der Einführung eines regelmässigen Abendrituals mit ausreichend Eltern-KindZeit und der Beratung hinsichtlich einer guten Schlafhygiene (Tabelle) keine schrittweise Anpassung der Bettzeit an den Schlafbedarf, sondern eine Schlafrestriktion um 30 bis 60 Minuten unter dem errechneten Schlafbedarf während 5 bis 7 Tagen. Die Schlafrestriktion führt zu einer
Abbildung 5: Schlafprotokolle und Schlafbedarf von Anna (2-Jährige, Fallbericht 2). A: erstes Schlafprotokoll, B: durchschnittlicher Schlafbedarf (rot markiert, unter P2), C: Schlafprotokoll mit Schlafplan (unter Berücksichtigung des errechneten Schlafbedarfs), dem sich die Eltern schrittweise annähern sollten (unterste Zeile)
raschen Erhöhung des Schlafdrucks und somit zu einer Verkürzung der Einschlaflatenz. Die Kinder erfahren, dass sie schnell (innerhalb von ca. 15 Minuten) einschlafen können, wenn sie müde genug sind. Nach 5 bis 7 Tagen werden in einem zweiten Schritt alle 2 bis 3 Tage 15 Minuten Schlafzeit bis zum initial errechneten Schlafbedarf zugegeben. Die Familie soll sich strikt an die vereinbarten Bettzeiten halten. Erst wenn das Kind über mehrere Wochen rasch einschlafen konnte, dürfen die Eltern die Bettzeiten ab und zu etwas lockern und das Kind zum Beispiel am Wochenende ausschlafen lassen.
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Tabelle:
Schlafhygienische Massnahmen
Regelmässigkeit Aktivitäten
Elektronische Medien
Genussmittel Schlafzeiten am Tag Lichtexposition
Strukturierter Tagesablauf inkl. regelmässiger Mahlzeiten, wenn möglich gemeinsam am Familientisch.
Stimulierende Aktivitäten wie Computerspiele, auch auf Smartphones oder Tablets, oder übermässige körperliche Arbeit/sportliche Aktivitäten sollten vor dem Einschlafen vermieden werden. Etablieren eines ruhigen Abendrituals.
Fernseher, Computer oder Smartphones sollten aus dem Schlafzimmer entfernt werden. Falls das nicht durchsetzbar ist, sollte zumindest das Smartphone vor dem Zubettgehen an einem Ort ausserhalb des Schlafzimmers deponiert werden.
Kein Koffein (Kaffee, Tee, Cola, Energydrinks) 3 bis 4 Stunden vor dem geplanten Einschlafen; Vermeiden von Alkohol und Nikotin.
Sollten bei älteren Kindern (ab Schulalter) vermieden werden.
Tägliche Aktivitäten im Freien mit Sonnenexposition werden empfohlen.
Fallbeispiel 3: Schulkind
Julius ist 12 Jahre alt. Die Mutter berichtet, dass Julius schon immer ein schlechter Schläfer gewesen sei. Er sei die ersten 4 Lebensmonate ein Schreibaby gewesen und habe nur geschrien, wenn er nicht im Tragtuch geschaukelt worden sei. Julius habe immer deutlich weniger geschlafen als seine Schwester und lang gebraucht, um einzuschlafen. Er schlafe im eigenen Zimmer und schlafe durch, brauche jedoch sehr lang, bis er einschlafen könne, und sei dann morgens müde. Abends höre er ein Hörspiel und liege anschliessend wach
im Bett, bis er einschlafe. Am Sonntagabend könne er jeweils noch schlechter einschlafen, da er am Wochenende ausschlafen dürfe. In den Ferien könne er besser einschlafen, einerseits weil er später ins Bett gehe, andererseits da er sich nicht so stresse, weil er wisse, dass er morgens nicht früh aufstehen müsse. Mittlerweile wolle er schon nicht mehr ins Bett, da er sowieso nicht einschlafen könne. Tagsüber schlafe er nicht ein, auch nicht im Auto. In der Schule gehe es ihm gut. Im Schlafprotokoll von Julius (Abbildung 6A) zeigt sich insbesondere während der Schulzeit eine lange Einschlaflatenz. Julius liegt bis zu 3 Stunden wach im Bett. Zudem ist der Rhythmus unregelmässig. Am Wochenende schläft er deutlich länger als unter der Woche, und das Einschlafen fällt ihm am Sonntagabend besonders schwer. Der ermittelte durchschnittliche Schlafbedarf liegt bei etwa 8,5 Stunden (P10). Gemeinsam mit Julius und seiner Mutter legten wir einen Schlafplan fest mit regelmässigen Bettzeiten, auch an den Wochenenden, und kürzten die Bettzeit auf 7,5 Stunden (Abbildung 6B). Nach 5 Tagen telefonierten wir mit der Familie. Die Mutter berichtete, dass Julius sehr rasch (innerhalb von 5 bis 10 Minuten) einschlafe. Wir besprachen, dass Julius nun alle 3 Tage 15 Minuten früher ins Bett gehen dürfe, bis zum errechneten Schlafbedarf von 8,5 Stunden. Nach 2 Wochen telefonierten wir erneut mit der Familie. Die Mutter berichtete, dass Julius jetzt 8,5 Stunden im Bett sei. Er schlafe weiterhin sehr schnell ein. Da er abends sehr müde gewesen sei, hätten sie rascher Bettzeit zugegeben als ursprünglich mit uns besprochen, das Schlafprotokoll hätten sie nicht weitergeführt.
Zusammenfassung
Ein strukturiertes, schrittweises Vorgehen mit Objektivierung des Schlafverhaltens durch ein Schlafprotokoll, eine Rhythmisierung des Tagesablaufs und eine Anpassung der Bettzeit an den individuellen Schlafbedarf verbessert die meisten verhaltensbedingten Schlafstörungen im Kindesalter bereits erheblich und ist die Grundlage für den dritten Schritt, das Erlernen des selbstständigen Einschlafens. Im Schulalter ist neben einem regelmässigen Abendritual die kurzfristige Schlafrestriktion wichtig, damit die Kinder das rasche Einschlafen wieder lernen. Die Schlafberatung bei Jugendlichen ist aufgrund der biologischen und psychosozialen Veränderungen in der Pubertät anspruchsvoller und setzt eine hohe Motivation der Jugendlichen voraus. Die oben genannten Schritte mit regelmässigen Bettzeiten und Anpassung der Bettzeit an den Schlafbedarf haben neben der Schlafhygiene und chronotherapeutischen Massnahmen aber auch bei Jugendlichen einen hohen Stellenwert in der Schlafberatung (13).
Abbildung 6: Schlafprotokolle von Julius (12-Jähriger, Fallbericht 3), A: erstes Schlafprotokoll, B: Schlafprotokoll mit Kürzung der Bettzeit (rot markiert)
Korrespondenzadresse: Dr. med. Rabia Liamlahi Oberärztin Entwicklungspädiatrie Universitäts-Kinderspital Zürich – Eleonorenstiftung Steinwiesstrasse 75 8032 Zürich E-Mail: rabia.liamlahi@kispi.uzh.ch
Interessenlage: Die Autorin erklärt, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
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Referenzen: 1. Bangerter A, Vock S: Die Zürcher Praxisstudie 2010, Teil 3 und 4. Dissertationen an der medizinischen Fakultät der Universität Zürich, 2015. 2. Iglowstein I et al.: Sleep duration from infancy to adolescence: reference values and generational trends. Pediatrics. 2003;111:302-307. 3. Borbély AA: A two process model of sleep regulation. Hum Neurobiol. 1982;1(3):195-204. 4. Jenni OG, Borbély AA, Achermann P: Development of the nocturnal sleep electroencephalogram in human infants Am J Physiol. 2004; 286:R528-538. 5. Jenni O: Säuglingsschreien und Schlaf-Wach-Regulation. Monatsschr Kinderheilkd. 2009;157:551-557. 6. Wiater A: Kinderschlafmedizin. Pädiatrie up2date. 2016;11(01):79-94. 7. Scholle S, Feldman-Ulrich E: Polysomnographischer Atlas der Schlaf-Wach-Stadien im Entwicklungsgang vom Säuglings- zum Jugendalter. 2. Aufl., Ecomed Verlagsgesellschaft 03/2012. 8. Mindell J, Owens J: Clinical Guide to Pediatric Sleep. A: Diagnosis and Management of Sleep Problems. 3rd Ed., Lippincott Williams & Wilkins 2015. 9. Werner H et al.: The Zurich 3-step concept for the management of behavioral sleep disorders in children: a before-and-after study. J Clin Sleep Med. 2015;11(3):241-249. 10. Benz C: Zürcher Beratungskonzept in Stufen. Kinder- und Jugendmedizin. 2019;19:159-167. 11. Jenni O, Benz C: Schlafstörungen. Pädiatrie up2date. 2007;4:309-333. 12. Hunkeler P: Melatonin bei kindlichen Schlafstörungen. Paediatrica. 2013;24:17-19. 13. Liamlahi R, Hug M, Benz C: Schlafberatung bei Jugendlichen. Paediatrica. 2019;30(1):31-34.
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