Transkript
Schwerpunkt
Impfen von Migrantenkindern
Serostatus für den ersten Impfentscheid nicht notwendig
Foto: RBO
Bei vielen Asylsuchenden ist der Impfstatus unbekannt und nur schwer zu ermitteln. Am SGP-Kongress in Bellinzona erläuterte Dr. med. Anita NiedererLoher eine ebenso einfache wie praktikable Lösung für die Praxis: Man gibt eine erste Impfung und prüft vier Wochen später den Serostatus. Danach geht das Impfen individuell weiter. Die Referentin informierte auch darüber, wie ein bekannter ausländischer Impfstatus gemäss den Schweizer Empfehlungen komplettiert werden sollte.
Dr. med. Anita NiedererLoher
Die gute Nachricht vorweg: «Die meisten Migrantenkinder kommen nicht ungeimpft in die Schweiz», sagte Dr. med. Anita Niederer-Loher, Mitglied der Eidgenössischen Kommission für Impffragen (EKIF), Oberärztin mbF Infektiologie und Spitalhygiene am Ostschweizer Kinderspital und Co-Leiterin Reisemedizin an der Klinik für Infektiologie und Spitalhygiene am Kantonsspital St. Gallen. Bei Migrantenkindern einen Impfstatus gemäss den Schweizer Empfehlungen zu erreichen, sei somit nicht allzu schwer. Bei Asylsuchenden ist allerdings häufig unklar, welche Impfungen bereits in der Vergangenheit gemacht wurden und welche nicht. Anhaltspunkte kann ein Blick in die übliche Impfpraxis im Herkunftsland liefern (Kasten 1). Ist der Impfstatus ungewiss, empfiehlt NiedererLoher ein einfaches Prinzip: «Wir geben eine Boosterdosis und schauen dann, was wir damit bewirkt haben.» Konkret bedeutet dies folgendes Vorgehen:
Erster Impftermin
● 1 × DTPa-IPV ± Hib, ± HepB (Infanrix Hexa®, BoostrixPolio®)
● 1. MMR ● ≤ 5 Jahre: PCV-13 (Prevenar13®) Empfohlen wird für alle Impflinge der hexavalente Impfstoff, auch wenn Hib über 5 Jahre nicht mehr empfohlen wird. Die Hib-Impfung sei ab diesem Alter aber auch nicht verboten oder gar kontraindiziert. Wichtiger sei vielmehr,
Kasten 1:
Wie wird andernorts geimpft?
Um sich über die üblichen Impfungen im Herkunftsland zu informieren, kann man eine WHO-Datenbank zurate ziehen: www.rosenfluh.ch/qr/impfplaene_weltweit
dass mit dem Kombinationsimpfstoff auch der Schutz gegen Hepatitis B enthalten sei. «Sie können nie zu viel impfen, Sie können höchstens zu wenig impfen, und dann ist das Kind nicht geschützt », sagte Niederer-Loher.
Zweiter Impftermin 4 Wochen später
● Blutentnahme für Serologie: Tetanus-Antitoxin IgG, Anti-HBs, Anti-HBc, HIV, VZV (falls > 11 Jahre), eventuell HCV plus grosses Blutbild (Anämie, Eosinophilie)
● 2. MMR ● eventuell PCV13, eventuell HPV, eventuell MCV-
ACWY (nach Alter, gemäss Schweizer Empfehlungen) Danach wird die Immunisierung individuell gemäss Serologiebefund und den Schweizer Empfehlungen fortgesetzt. Hierbei gelten für das Tetanus-Antitoxin IgG folgende Grenzwerte: ● > 1000 IE/l: keine weiteren dTpa-IPV-Dosen ● ≥ 500 und ≤1000 IE/l: 1 Dosis 6 Monate nach der ers-
ten Dosis ● < 500 IE/l: 2 Dosen: 2 und 6 Monate nach der ersten
Dosis. «Sie müssen nicht alle Antikörper messen», erläuterte Niederer-Loher die Anforderungen an die Serologie. Das Tetanus-Antitoxin IgG sei ein guter Surrogatmarker für die Diphterie- und Pertussis-Impfung, denn weltweit werden in der Regel keine Tetanus-Monoimpfstoffe, sondern Mehrfachkombinationsimpfstoffe für die Säuglingsimpfungen verwendet. Sie empfahl, bei der ohnehin fälligen Blutentnahme auch gleich auf die oben erwähnten Krankheiten zu screenen. Auch bei der zweiten MMR-Impfung brauche man nicht zu zögern: «Wenn schon Immunität besteht, werden die attenuierten Impfviren neutralisiert, und wenn nicht, ist das Kind dann geschützt.» Die Referentin wies darauf hin, dass die Durchseuchung mit Varizellen in Afrika viel geringer sei als hierzulande. Deshalb sei es sehr wichtig, den VZV-Serostatus zu ermitteln und Kinder über 11 Jahre zu impfen, falls sie keine VZV-Antikörper hätten (s. auch Kästen 2 und 3).
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Schwerpunkt
Die Eltern nicht vergessen
Oft ist bei den Asylsuchenden auch der Impfstatus der Eltern unklar. In diesem Fall kann man entweder so vorgehen, als seien diese Erwachsenen noch nie geimpft worden, und komplett impfen, das heisst: ● 3 ×: dT(pa)-IPV: dTpa-IVP (Boostrix-Polio®),
dT-IPV (Revaxis®), dT-IPV (Revaxis®) ● 2 × MMR ● 2 × VZV ● 3 × HBV. Oder man verfährt genauso wie bei den Kindern (einmal impfen, dann Serologie); diese Strategie ist bei jungen Eltern sinnvoll, denn sie wurden, je nach Herkunftsland, höchstwahrscheinlich bereits in ihrer Kindheit geimpft.
Handy-Foto zur Dokumentation
Wie bei jeder Impfung ist die Dokumentation sehr wichtig. Man sollte immer auch eine Kopie des Impfausweises in den eigenen Akten behalten. Um sicherzustellen, dass sich auch andere Ärzte über den aktuellen Impfstatus informieren können, empfiehlt es sich, den Eltern zu sagen, dass sie das Impfbuch prinzipiell immer zu jedem
Kasten 2:
Unklarer Impfstatus bei Migrantenkindern: 1 Booster dTp genügt
Am CHUV Lausanne wurden in einer prospektiven Studie von Oktober 2014 bis August 2017 208 Migrantenkinder mit unklarem Impfstatus ohne vorherige serologische Abklärung einmal mit DTPa beziehungsweise dTpa geimpft. Die Bestimmung des Tetanus-Antitoxin IgG nach dieser einen Booster-Impfung ergab eine Schutzrate von 98,5 Prozent und somit keine Notwendigkeit weiterer Impfdosen.
Fougère Y et al.: A single dose of Diphteria-Tetanus-Pertussis vaccination is sufficient to generate long-term protection in most migrant children. Präsentation am ESPID-Kongress, 6. bis 11. Mai 2019 in Ljubljana.
Kasten 3:
Serologischer Status von Migrantenkindern
Am Universitätskinderspital Genf wurde der serologische Status von Migrantenkindern im Alter von 1 bis 16 Jahren bezüglich Tetanus, Masern, Varizellen und Röteln ermittelt. In die retrospektive Studie einbezogen wurden Blutproben von 507 Kindern, die von 2012 bis 2016 untersucht worden waren: – 98 Prozent der Kinder waren gegen Tetanus geschützt. Negative Befunde waren bei
Adoleszenten etwas häufiger (4,2 vs. 1,3%). – 93,1 Prozent waren seropositiv für Masern, mit steigender Tendenz, je älter sie wa-
ren. – 68,6 Prozent waren seropositiv gegenüber Varizellen, auch hier stieg der Anteil der
seropositiven Kinder mit dem Alter. – 79,2 Prozent waren seropositiv für Röteln, Kinder aus Afrika waren jedoch über-
wiegend seronegativ (60 vs. 20,8%).
FM 2: Cisier D, Posfay-Barbe K: Immunization coverage against tetanus, measles, rubella and varicella among migrant children. Swiss Med Weekly 2019; 149(Suppl 235): 2S. Annual Meeting Swiss Society of Paediatrics, 6./7. Juni 2019.
Arztbesuch mitbringen sollen. Und: «Lassen Sie die Eltern die Impfdokumentation auch immer mit dem Handy fotografieren!», riet Niederer-Loher, denn das Handy gehöre zu den ganz wenigen Dingen, die fast jeder immer bei sich trage.
Im Ausland geimpfte Kinder nach Schweizer Regeln weiterimpfen
Wenn ein Kind im Ausland seine ersten Impfungen nachweislich bereits erhalten hat und mit seinen Eltern in die Schweiz kommt, stellt sich die Frage, wie der Impfschutz komplettiert werden soll. Die Referentin erläuterte das Vorgehen in solchen Fällen am Beispiel eines 14 Monate alten Knaben aus dem Vereinigten Königreich (UK), der mit seinen Eltern für einige Jahre in der Schweiz leben wird. Für den Entscheid, welche Impfungen zu welchem Zeitpunkt durchzuführen sind, gelten die vier Grundregeln des Impfens: 1. Anzahl noch nötiger Dosen = Anzahl gemäss Alter
und Impfplan empfohlener Dosen minus erhaltene Dosen. 2. Jede Dosis zählt! Man muss also nicht wieder von vorn anfangen, egal wie lange die letzte Dosis zurückliegt. 3. Man muss unbedingt Minimalintervalle zwischen den Impfdosen einhalten, damit das Intervall lang genug ist, um ein immunologisches Gedächtnis aufzubauen, welches man dann boostert. Für die meisten Impfungen gilt: zuerst ein kurzes Intervall von 1 bis 2 Monaten und danach ein langes Intervall, je nach Antigen, von 4 bis 12 Monaten, zwischen der 2. und 3. Dosis. 4. Das Impfschema wird durch das Alter bei Impfbeginn definiert. Dies bezieht sich beispielsweise auf das 2- Dosen oder 3-Dosen-Schema für die Impfungen gegen Hepatitis B oder HPV bei Jugendlichen. Kassenpflichtig werden nur diejenigen Impfungen ergänzt, die auch gemäss Schweizer Impfplan vorgesehen sind. Der Knabe aus UK erhielt die erste, dort übliche Meningokokken-B-Impfung. Diese ist in UK zwar eine Basisimpfung (wegen der dort wesentlich höheren Meningokokkenprävalenz), nicht aber in der Schweiz. Die Meningokokkenerkrankungen gehen hierzulande seit Jahren zurück. Überdies sei der Einfluss der Meningokokken-B-Impfung auf Kolonisation und Herdenschutz unklar, sagte Niederer-Loher. Theoretisch würde man nur sehr wenige Meningokokken-B-Fälle pro Jahr in der Schweiz vermeiden: «Wenn wir 70 000 Kinder pro Geburtskohorte impfen, könnten wir 3 bis 5 Fälle verhindern», so die Referentin. Für das Kind aus UK bedeutet dies, dass die Eltern entweder beim nächsten Besuch die noch fehlende Impfung veranlassen oder den Impfstoff (Bexsero®, Trumenba®) aus der EU importieren lassen beziehungsweise im Nachbarland selbst kaufen (Cave: Kühlkette!).
Renate Bonifer
Referat von Dr. med. Anita Niederer-Loher: «Catch-up immunizations – all you need to know» an der Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie in Bellizona, 6. bis 7. Juni 2019.
Weiterführende Literatur: Bernharda S et al.: Leitlinie zur Abklärung und Vorbeugung von Infektionskrankheiten und Aktualisierung des Impfschutzes bei asymptomatischen asylsuchenden Kindern und Jugendlichen in der Schweiz. Paediatrica 2016; 27(Spezialnummer Migranten): 11–18.
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