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ADHS-Therapie in Schweizer Kinderarztpraxen
In einer Umfrage unter Schweizer Pädiatern ging man der Frage nach, wie die Diagnose und Therapie in der Praxis hierzulande ablaufen und welche Herausforderungen es dabei zu meistern gilt. Im Folgenden werden die Resultate dieser Umfrage sowie wesentliche Aspekte einer detaillierten Leitlinie zur medikamentösen ADHS-Therapie zusammengefasst.
Mit einer Prävalenz von 3 Prozent in der Schweiz und 5 bis 8 Prozent weltweit sei ADHS ein bedeutendes gesundheitliches Problem, dessen Auswirkungen nicht nur die Patienten, sondern auch deren familiäres und gesellschaftliches Umfeld betreffen, so die Autoren einer Umfrage unter Schweizer Pädiatern (1). Ziel ihrer Umfrage war es, die Behandlungspraxis sowie spezifische Herausforderungen und Probleme in der Schweiz zu erfassen. Alle nicht pensionierten Mitglieder der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie (SGP) wurden eingeladen, an der Online-Umfrage teilzunehmen. Die Beteiligung war mit 9,3 Prozent niedrig. Von den angefragten 1620 Pädiatern klickten 201 die Online-Umfrage an, und 151 von ihnen beantworteten alle oder einen Teil der Fragen. Demnach braucht es für die ADHS-Diagnose und den Behandlungsentscheid im Durchschnitt drei Konsultationen. 83 Prozent der Umfrageteilnehmer nutzten ADHSspezifische Screeningmethoden, aber nur 46 Prozent
In der Praxis spielt für den Therapieentscheid das subjektive Leiden des Kindes die grösste Rolle.
differenzialdiagnostische Hilfsmittel. Als wesentliche diagnostische Herausforderungen wurden Subjektivität und mangelnde Eindeutigkeit der AHDS-Kriterien genannt sowie Schwierigkeiten, von den Kindern und Eltern notwendige und nützliche Informationen zu erhalten. Auch Vorurteile und eine ablehnende Haltung gegenüber der Diagnose ADHS von Eltern, Lehrern und der Gesellschaft seien problematisch. In der Praxis spielt für den Therapieentscheid das subjektive Leiden des Kindes die grösste Rolle. 97 Prozent der Umfrageteilnehmer gaben an, dass dieses Kriterium für sie wichtig oder sehr wichtig sei. Am häufigsten wird eine medikamentöse Therapie verordnet, vor allem Psycho- und Ergotherapie. Beklagt wird die mangelnde Verfügbarkeit von Coaching und Psychotherapie für ADHS-Patienten und ihre Familien sowie fehlende Kostenübernahmen für die interdisziplinäre Kooperation von Fachleuten und das Fallmanagement. Eine weitere grosse Herausforderung sei die langfristige Therapietreue der betroffenen Familien.
Leitlinie zu Medikamenten bei ADHS
In einer detaillierten Leitlinie zur medikamentösen Therapie bei ADHS werden je nach Alter, Begleitumständen und Präferenzen des Patienten und seiner Familie unterschiedliche medikamentöse Behandlungen empfohlen, falls die nicht medikamentösen Massnahmen nicht ausreichen (2, 3). Bei Kleinkindern raten die Experten zur Vorsicht. Kindern unter 6 Jahren sollte man gar keine oder nur in seltenen Ausnahmefällen ADHS-Medikamente verordnen (off-label; zugelassen sind diese Medikamente frühestens ab 6 Jahren). Zuvor gelte es, alle erdenklichen nicht medikamentösen Strategien einzusetzen. Ab dem Schulkindalter ist für die Leitlinienautoren, wie auch für die Teilnehmer der Schweizer Umfrage, entscheidend, wie massiv die Symptome und wie schwerwiegend die Beeinträchtigungen durch ADHS im Alltag sind. Prinzipiell sollte die Indikation für eine medikamentöse ADHS-Therapie immer von einem Spezialisten mit entsprechender Qualifikation gestellt werden. Es spreche aber nichts dagegen, dass der Patient in der Folge durch seinen Haus- oder Kinderarzt weiterbehandelt wird. Zu Beginn der Behandlung sind engmaschige Kontrollen (1-mal wöchentlich) bezüglich der Nebenwirkungen sinnvoll. Ist der Patient einmal auf das Medikament eingestellt, sind die Kontrollintervalle länger. Es wird empfohlen, mindestens alle 6 Monate einen Kontrolltermin beim Spezialisten zu vereinbaren. Jedes Jahr soll ein Auslassversuch gestartet werden, um die weitere Notwendigkeit der ADHS-Medikation zu hinterfragen. Ein EKG vor dem Start der ADHS-Medikation wird für Patienten empfohlen, bei denen die (Familien-)Anamnese und die körperliche Untersuchung Hinweise auf eine Herz-Kreislauf-Erkrankung beziehungsweise eine entsprechende genetische Prädisposition liefern. Auch im weiteren Verlauf einer medikamentösen ADHS-Therapie sind Herz-Kreislauf-Parameter im Auge zu behalten. So sollten bei jeder medikamentösen Einstellung zumindest Pulsfrequenz und Blutdruck überprüft werden. Zur medikamentösen Behandlung bei ADHS werden die Stimulanzien Methylphenidat (Concerta®, Equasym®, Medikinet®, Methylphenidat Mepha, Methylphenidat Sandoz, Ritalin®), Dexmethylphenidat (Focalin® XR) und
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Lisdexamphetamin (Elvanse®) empfohlen sowie der selektive Noradrenalin-Wiederaufnahmehemmer Atomoxetin (Strattera®) oder der Alpha-2A-Rezeptor-Agonist Guanfacin (Intuniv®). Für welches Präparat man sich entscheidet, hänge von mehreren Faktoren ab, so die Leitlinienautoren. Dazu gehören der Zulassungsstatus, die
erwünschte Wirkdauer, Komorbiditäten sowie die Präferenzen des Patienten und seiner Familie.
Renate Bonifer
Literatur auf www.ch-paediatrie.ch abrufbar.
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KOMMENTAR: Kompetenz, Ressourcen und Gespräche auf Augenhöhe
Voraussetzungen für die Behandlung von AD(H)S bei Kindern und Jugendlichen
Von Kurt Albermann
Ganz allgemein gilt: Um für das Kind und die Eltern respektive die Sorgeberechtigten eine bestmögliche Akzeptanz der aus fachlicher Sicht notwendigen Massnahmen zu erreichen, ist es wichtig, diese in den Abklärungs- und Entscheidungsprozess angemessen einzubeziehen. Insbesondere wenn das Kind in seinem Recht auf Selbstbestimmung ernst genommen und die elterliche Autonomie respektiert wird, sollten diesem Prozess die nötige Sorgfalt und Zeit gewidmet werden. Geeignete Handlungsempfehlungen zum Umgang mit AD(H)S können den Entscheidungsprozess für Eltern und Fachpersonen auf vielfältige Weise unterstützen (1). Im Hinblick auf den geplanten Einsatz einer Medikation kann dies die Compliance von Eltern und Kindern deutlich erhöhen. Immer wieder werden Eltern von der Schule oder Fachpersonen von verschiedenen Seiten geradezu bedrängt, die Diagnose AD(H)S zu vergeben oder eine AD(H)S-spezifische Medikation zu verschreiben. An dieser Stelle ist es wichtig, die gebotene Fachlichkeit zu wahren und durch eine umfassende Anamnese, bestenfalls unter Einbezug der Erfahrungen im schulischen Kontext, mögliche psychische, neurobiologische oder auch genetische Ursachen der vorliegenden Symptomatik zu erwägen beziehungsweise auszuschliessen. Zudem spielen Umwelteinflüsse, wie Haltung, Kompetenz und Erwartungen und Ressourcen von Familie, Schule, Peers und Gesellschaft, eine ganz wesentliche Rolle. Wenn das (schriftliche) Einverständnis der Sorgeberechtigten und der Kinder vorliegt, ist auch ein Bericht von Schule oder Kindergarten hilfreich, manchmal braucht es zusätzlich das persönliche Gespräch. Diese Abklärungen und interdisziplinäre Gespräche mit anderen Fachpersonen und den Familien benötigen in Abständen gewisse Ressourcen, was angesichts der Limitierung von Leistungen im Gesundheitswesen durchaus problematisch ist (2, 3). Der Verlust an Möglichkeiten des gemeinsamen Austauschs wird durch eine schlechtere Compliance und am Ende einen erhöhten individuellen Aufwand der einzelnen Fachpersonen teuer erkauft. Im Rahmen einer multimodalen Therapie lassen sich durch eine AD(H)S-spezifische Medikation, neben einer konkreten Verbesserung neuropsychologischer Funktionen, auch in den Bereichen Schule, Ausbildung und Beruf positive Veränderungen erzielen. Häufig werden dadurch auch soziale Schwierigkeiten in der Familie reduziert und der Kontakt mit Gleichaltrigen und Bezie-
hungspartnern verbessert. Neben einer Wirkung auf die klassischen Kernsymptome wird verschiedentlich auch ein moderater Effekt auf die emotionale Dysregulation beschrieben. Zahlreiche wissenschaftliche Studien und Metaanalysen konnten eine Wirksamkeit verschiedener pharmakologischer Interventionen gegenüber Plazebo im Hinblick auf eine Symptomreduktion und eine Verbesserung der gesundheitsbezogenen Lebensqualität bei AD(H)S belegen. Für die abklärenden Fachpersonen ist es wichtig zu wissen, dass die Symptome der AD(H)S entwicklungsabhängige Veränderungen aufweisen, sodass sich die typischen Symptomdimensionen in den verschiedenen Altersstufen in unterschiedlicher Ausprägung manifestieren können. Eine repräsentative US-amerikanische Studie belegte einen höheren Anteil von Kindern mit diagnostiziertem und behandeltem AD(H)S bei Eintritt in den Kindergarten, wenn diese Kinder im August statt im September geboren wurden, wenn der relevante Cut-off für den Kindergarteneintritt der 1. September war (4). Dies unterstreicht die Bedeutung des Anteils der kindlichen Entwicklung an der möglichen Symptomatik eines AD(H)S, der alters- und kontextabhängig eben auch bei der Diagnose- und Indikationsstellung zu berücksichtigen ist. Bei 60 bis 85 Prozent der Kinder mit AD(H)S bestehen eine oder mehrere komorbide Diagnosen (5). Auch diese müssen erfasst und bei Bedarf behandelt werden. Deshalb stimmt es nachdenklich, dass die nebenstehende Onlineumfrage zeigte, dass nur bei 46 Prozent der pädiatrischen Kolleginnen und Kollegen differenzialdiagnostische Hilfsmittel zum Einsatz kommen. Obwohl der Rücklauf nur 10 Prozent betrug, weisen die genannten Schwierigkeiten durchaus auf die Komplexität der Diagnose und der Diagnosestellung hin. Angesichts der zunehmenden – und absolut sinnvollen – Sensitivität von nicht psychologisch-psychiatrisch ausgebildeten Fachpersonen und der Gesellschaft im Hinblick auf psychische Belastungen und Störungen sind sämtliche in die Behandlung einer AD(H)S involvierten Berufsgruppen gefordert, gemeinsam mit den betroffenen Familien geeignete Lösungen dieses Dilemmas zu erarbeiten. Nicht zuletzt stehen auch Politik und Gesellschaft in der Verantwortung, für die Abklärung und die Behandlung psychischer Störungen geeignete Anreize und Rahmenbedingungen zu schaffen.
Dr. med. Kurt Albermann kurt.albermann@ksw.ch
Dr. med. Kurt Albermann, EMBA HSG, ist Chefarzt des Sozialpädiatrischen Zentrums und Stv. Direktor des Dept. Kinder- und Jugendmedizin am Kantonsspital Winterthur. Er ist Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin und Facharzt für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Psychotherapie. Literatur auf www.ch-paediatrie.ch abrufbar.
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Referenzen zum Artikel: 1. P49: von Rhein M, Albermann K, Dratva J, Wieber F, Hotz S: Diagnostics and treatment of ADHD in Switzerland: A physician perspective on practice and challenges. Swiss Med Weekly 2019; 149(Suppl 235): 28S. Annual Meeting Swiss Society of Paediatrics, June 6/7, 2019. 2. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie e.V. (DGKJP), Deutsche Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN) und Deutsche Gesellschaft für Sozialpädiatrie und Jugendmedizin e.V.: (S3-)Leitlinie Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. AWMF-Registernummer 028-045. Stand: 02.05.2017, gültig bis 01.05.2022. https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028045.html 3. Wilken B: Neue AWMF-S3-Leitlinie: ADHS im Kindes-, Jugend- und Erwachsenenalter. Kinderärztliche Praxis 2019; 90(2): 115–116.
Literatur zum Kommentar: 1. https://www.zhaw.ch/storage/hochschule/medien/news/adhs-kinder-foerdernbrosch-online.pdf [retrieved 2019-07-24] 2. https://fmh.ch/files/pdf20/20180101_Fact_Sheet_Tarifeingriff_BR_Definitive_Verordnung_D.pdf [retrieved 2019-07-24] 3. https://swiss-paediatrics.org/de/tarmed [retrieved 2019-07-24] 4. Layton, TL, Barnett, ML, Hicks, TR, Jena, AB. Attention Deficit–Hyperactivity Disorder and Month of School Enrollment. N Engl J Med 2018;379:2122-30. DOI: 10.1056/NEJMoa1806828 5. https://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/028-045l_S3_ADHS_2018-06.pdf [retrieved 2019-07-24].
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