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Schwerpunkt
POx-Screening in der Schweiz
Früherkennung kritischer angeborener Herzfehler – Update 2019
Das POx-Screening bezeichnet die Messung der transkutanen Sauerstoffsättigung aller Neugeborenen in der Schweiz am ersten Lebenstag. In diesem Artikel werden aktuelle Fragen und Antworten zur Notwendigkeit und Durchführung des POx-Screenings beantwortet.
Von Oliver Niesse1, Lydie Beauport2, Christian Balmer1 und Romaine Arlettaz3
Die meisten Kinder mit kritischen Herzfehlern entwickeln sich in der Schwangerschaft gut. Auch direkt postnatal sind viele dieser Kinder zunächst asymptomatisch. In den folgenden Tagen kommt es durch die physiologische Kreislaufumstellung mit Verschluss des Ductus arteriosus Botalli (DA) bei einigen dieser Kinder zu einer akuten postnatalen Verschlechterung mit Zeichen eines kardiogenen Schocks beziehungsweise kritischer Hypoxämie. Trotz pränataler Ultraschalluntersuchung und sorgfältiger klinischer Untersuchung nach der Geburt werden diese Kinder zum Teil nicht rechtzeitig diagnostiziert. Dies liegt zum einen am diagnostischen Fenster (solange der DA noch offen ist), zum anderen an der Tatsache, dass eine milde Zyanose auch für erfahrene Kliniker oftmals schwer zu erkennen ist. So werden nach verschiedenen Studien bis zu 30 Prozent aller Neugeborenen mit kritischen angeborenen Herzfehlern als vermeintlich gesund nach Hause entlassen (1–3). Die frühe Erkennung dieser Kinder verbessert die Prognose, da durch eine intravenöse Prostaglandininfusion der Ductus arteriosus offen gehalten und das Kind so in stabilem Zustand in ein Zentrum verlegt werden kann. Es handelt sich hierbei um Herzfehler, die in den ersten vier Lebenswochen mittels Herzkatheter oder einer Herzoperation behandelt werden müssen.
Wie viele Kinder mit einem kritischen Herzfehler werden jährlich in der Schweiz geboren?
Die Inzidenz dieser kritischen Herzfehler beträgt zirka 2 pro 1000 Lebendgeburten. Das bedeutet also in der Schweiz eine Anzahl von zirka 150 Neugeborenen pro Jahr, welche theoretisch von diesem Screening profitieren können. Ein Teil dieser Kinder kann bereits vorgeburtlich in der Ultraschalluntersuchung diagnostiziert und geplant in ein Zentrum für Kinderherzmedizin verlegt werden.
Wie funktioniert das Screening?
An einem der beiden Füsse (postduktal) wird die transkutane Sauerstoffsättigung (SpO2) gemessen. Für ein gutes Signal ist wichtig, dass das Neugeborene schläft oder zumindest ruhig ist. Man wartet, bis das Signal stabil ist und notiert den besten Wert der Sauerstoffsättigung. Wenn der Wert über oder gleich 95 Prozent beträgt, ist das Screening bestanden und weitere Massnahmen sind nicht notwendig (vgl. Algorithmus, Abbildung).
1 Abteilung für Kardiologie, UniversitätsKinderkliniken, Zürich 2 Néonatologie, Département Femme Mère Enfant, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois CHUV, Lausanne 3 Klinik für Neonatologie, Universitätsspital Zürich
Was passiert, wenn der SpO2-Wert weniger als 95 Prozent beträgt?
Unter einer SpO2 von 95 Prozent gilt das POx-Screening als positiv. Nun gibt es zwei Möglichkeiten: ● Bei einem Wert unter 90 Prozent ist eine rasche ärztli-
che Beurteilung und Echokardiografie indiziert. ● Wenn der Wert zwischen 90 und 95 Prozent beträgt,
kann bei einem klinisch unauffälligen Kind eine Kontrolle in 1 bis 2 Stunden erfolgen. Falls dieser Wert weiterhin unter 95 Prozent liegt, besteht auch hier die Indikation zu einer ärztlichen Untersuchung/Echokardiografie (vgl. Abbildung).
Das Wichtigste in Kürze
● 30 Prozent aller Kinder mit einem kritischen angeborenen Herzfehler werden als vermeintlich gesund nach Hause entlassen.
● Bei einer transkutanen Sauerstoffsättigung unter 95 Prozent gilt das POx-Screening als positiv.
● Zusammen mit der klinischen Untersuchung erreicht das POx-Screening eine Sensitivität von 82,8 bis 100 Prozent für die Diagnose kritischer angeborener Herzfehler.
● Das POx-Screening wird auch bei Hausgeburten und in Geburtshäusern angewendet.
● Der optimale Zeitpunkt des Screenings liegt zwischen 6 und 24 Stunden nach der Geburt.
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Wochenbettstation (4) sowie auch in Geburtshäusern und bei ambulanten Geburten. Das POx-Screening wurde in der Schweiz gut akzeptiert und umgesetzt. Allerdings wird diese Diagnostik gemäss einer Umfrage drei Jahre nach Einführung weiterhin bei zirka 15 Prozent der Neugeborenen nicht angewendet (5).
Gibt es das Screening auch in anderen Ländern?
In vielen europäischen Ländern, in Kanada und den USA sowie in China wird ein POx-Screening als Standarduntersuchung durchgeführt. Auch in diesen Ländern konnte gezeigt werden, dass diese Untersuchung einfach, effizient und kostengünstig ist. In einigen Ländern (Schweden, Grossbritannien) wird ein komplizierteres Testverfahren mit transkutaner Messung der präduktalen (rechter Arm) und postduktalen Sauerstoffsättigung (Fuss) durchgeführt. Statistisch konnte jedoch bisher kein Unterschied zwischen den beiden Verfahren bezüglich Sensitivität und Spezifität festgestellt werden (6). Daher halten wir in der Schweiz an der einfachen und gut etablierten Methode mit alleiniger postduktaler Messung fest.
Abbildung: Algorithmus zum POx-Screening bei Neugeborenen (Grafik: Susanne Staubli)
Wann sollte das Screening erfolgen?
Die Durchführung des Screenings erfolgt in den ersten 24 Stunden nach der Geburt, am besten nach 6 Lebensstunden. Vorher ist die Kreislaufumstellung noch nicht vollständig abgeschlossen, was zu einer höheren Anzahl von falschpositiven Befunden führen kann.
Seit wann gibt es in der Schweiz das POx-Screening?
Das Screening wurde vor 14 Jahren flächendeckend in der gesamten Schweiz eingeführt und gehört heute zur täglichen Routine im Gebärsaal beziehungsweise auf der
Tabelle:
Liste der kritischen angeborenen Herzfehler: Zielgruppe des Screenings
● hypoplastisches Linksherzsyndrom ● Pulmonalatresie mit intaktem Ventrikelseptum ● D-Transposition der grossen Arterien ● unterbrochener Aortenbogen ● Aortenisthmusstenose ● Aortenklappenstenose ● Pulmonalklappenstenose ● Fallot-Tetralogie ● Pulmonalatresie mit Ventrikelseptumdefekt ● total falsch mündende Lungenvenen
Werden mittels POx-Screening alle Herzfehler erkannt?
Das ist leider nicht möglich, allerdings auch nicht Ziel dieses Screenings. Es geht nicht darum, relativ harmlose Herzfehler, wie einen Ventrikelseptumdefekt, ohne unmittelbare Konsequenz zu erkennen, sondern sich auf in den ersten Lebenswochen potenziell lebensbedrohliche Herzfehler zu fokussieren. Diese Herzfehler sind in der Tabelle aufgelistet. Kürzlich ist hierzu ein grosser Cochrane-Review (6) von 21 Studien mit insgesamt fast 500 000 Neugeborenen erschienen. Die Sensitivität des POx-Screenings wird darin mit 76,3 Prozent, die Spezifität mit 99,9 Prozent angegeben. Insgesamt ist von zentraler Bedeutung, dass das POx-Screening eine ausführliche klinische Untersuchung keineswegs ersetzen, sehr wohl aber äusserst effizient ergänzen kann. Zusammen mit der klinischen Untersuchung erreicht das POx-Screening eine Sensitivität von 82,8 bis 100 Prozent für die Diagnose kritischer angeborener Herzfehler (7–12).
Kann es auch bei herzgesunden Neugeborenen auffällige Ergebnisse geben?
Die Rate falschpositiver Befunde ist mit 0,14 Prozent sehr gering. Das bedeutet, dass die Untersuchung kaum unnötige Kosten durch eine Echokardiografie verursacht. Den wenigen Fällen falschpositiver Befunde liegen zudem oftmals andere potenziell lebensbedrohende Pathologien zugrunde (Sepsis, Atemnot, pulmonale Hypertension), welche anderenfalls nicht so frühzeitig entdeckt würden (6). Somit kann das Screening auch in diesen Fällen Gutes tun und nicht kardiale, gut behandelbare Neugeborenenerkrankungen durch rasche Diagnosestellung einer Therapie zuführen.
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Wie verhält es sich mit Akzeptanz und Durchführbarkeit des POx-Screenings ausserhalb des Spitals?
Auch Kinder, die zu Hause, im Geburtshaus oder ambulant geboren werden, sollen von der Untersuchung profitieren können. Studien aus dem Ausland mit einem hohen Anteil an Hausgeburten zeigen, dass das Screening auch in einem solchen Umfeld leicht durchzuführen ist und eine hohe Akzeptanz bei Eltern und Hebammen geniesst (13–15). In der Schweiz gehört das Pulsoximeter zur Ausstattung jeder Hebamme, welche Hausgeburten betreut (16). Das Screening sollte am besten zwischen 6 und 24 Lebensstunden erfolgen.
Zusammenfassung
Zusammenfassend ist das POx-Screening in der Schweiz, aber auch international, bereits heute eine Erfolgsgeschichte. Aufgrund immer weiterer neuer Studien haben die Schweizer Gesellschaften für Neonatologie und pädiatrische Kardiologie in diesem Jahr das entsprechende Konsensuspapier überarbeitet. Das erfolgreiche bisherige Verfahren muss nicht geändert werden, sodass Neugeborene weiterhin von der hohen Akzeptanz des Screenings bei den Durchführenden (Hebammen, Pflegende, Ärztinnen und Ärzte) profitieren können. Durch das frühzeitige Erkennen therapiebedürftiger Herzfehler können die betroffenen Kinder zeitgerecht behandelt werden, bevor es zu schwerwiegenden bleibenden Schäden kommt.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Oliver Niesse Universitäts-Kinderspital Zürich – Eleonorenstiftung Steinwiesstrasse 75 8032 Zürich E-Mail: oliver.niesse@kispi.uzh.ch
Interessenlage: Die Autoren erklären, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Artikel bestehen.
Literatur: 1. Wren C, Reinhardt Z, Khawaja K: Twenty-year trends in diagnosis of life-threatening neonatal cardiovascular malformations. Arch Dis Child Fetal Neonatal Ed 2008; 93: F33–F35. 2. Abu-Harb M et al.: Presentation of obstructive left heart malformations in infancy. Arch Dis Child Fetal Neonatal Ed 1994; 71(3): F179–F183. 3. Mellander M, Sunnegårdh J; Failure to diagnose critical heart malformations in newborns before discharge – an increasing problem? Acta Paediatr 2006; 95(4): 407–413. 4. Arlettaz R, Bauersfeld U: Empfehlungen zum neonatalen Screening kongenitaler Herzfehler. Paediatrica 2005; 16: 34–37. 5. Külling B et al.: Pulse oximetry screening for congenital heart defects in Switzerland: most but not all maternity units screen their neonates. Swiss Med Wkly 2009; 139: 699–704. 6. Plana MN et al.: Pulse oximetry screening for critical congenital heart defects. Cochrane Database of systematic reviews 2018;1:3. 7. Hu XJ et al.: Pulse oximetry and auscultation for congenital heart disease detection. Pediatrics 2017; 140(4): e20171154. 8. Hu XJ et al.: Pulse oximetry could significantly enhance the early detection of critical congenital heart disease in neonatal intensive care units. Acta Paediatr 2016; 105: e499–e505. 9. Oakley JL et al.: Effectiveness of pulse-oximetry in addition to routine neonatal examination in detection of congenital heart disease in asymptomatic newborns. J Matern Fetal Neonatal Med 2015; 28: 1736–1739. 10. Zuppa AA et al.: Clinical examination and pulse oximetry as screening for congenital heart disease in low-risk newborn. J Matern Fetal Neonatal Med 2015; 28: 7–11. 11. De-Wahl Granelli A et al.: Impact of pulse oximetry screening on the detection of duct dependent congenital heart disease: a Swedish prospective screening study in 39821 newborns. BMJ 2009; 338: a3037. 12. Zhao QM et al.: Pulse oximetry with clinical assessment to screen for congenital heart disease in neonates in China: a prospective study. Lancet 2014; 384: 747–754. 13. Cawsey MJ et al.: Feasibility of pulse oximetry screening for critical congenital heart defects in homebirths. Arch Dis Child Fetal Neonatal Ed 2016; 101: F349–F351. 14. Miller KK et al.: Pulse oximetry screening for critical congenital heart disease in planned out of hospital births and the incidence of critical congenital heart disease in the plain community. J Perinatol 2016; 36: 1088–1091. 15. Narayen IC et al.: Accuracy of pulse oximetry screening for critical congenital heart defects after home birth and early postnatal discharge. J Pediatr 2018; 197: 29–35. 16. Berger TM et al.: Die Unterstützung der Adaptation und Reanimation des Neugeborenen. Revidierte Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Neonatologie. Paediatrica 2017; 28: 7–19. 17. Balmer C et al.: Pulsoximetrie Screening zur Erfassung von kritischen angeborenen Herzfehlern. Revidierte Empfehlungen einer Arbeitsgruppe der Schweizerischen Gesellschaften für Pädiatrische Kardiologie und Neonatologie. Paediatrica 2019; online publiziert 10. April 2019.
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