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Schwerpunkt
Jungenmedizin in der Praxis
Spezifische Belange von Jungen verdienen mehr Aufmerksamkeit
Die spezifischen Belange von Jungen stehen in der Pädiatrie immer noch etwas im Abseits. Um hier Abhilfe zu schaffen, hat sich in Deutschland die «Jungenmedizin» etabliert. Im Rahmen eines interdisziplinären Seminars diskutierte eine Expertenrunde verschiedene medizinische Risikofaktoren bei Jungen.
Viele Beschneidungen sind nicht indiziert.
F ast alle Neugeborenen haben eine «physiologische Phimose», im Alter von 13 Jahren haben noch 8 Prozent eine normale, entwicklungsbedingte Vorhautenge. Tatsächlich sind aber mehr als 10 Prozent aller 10- bis 17-jährigen in Deutschland beschnitten. In den meisten Fällen werde eine Zirkumzision also ohne medizinische Indikation durchgeführt, beklagte Dr. Bernhard Stier, Beauftragter für Jungenmedizin und Jungengesundheit des Bundesverbandes der Kinder- und Jugendärzte. Die gesetzlichen Bestimmungen schreiben zwar im Grundsatz fest, dass das Kindeswohl durch ärztliche Eingriffe nicht gefährdet werden dürfe. Allerdings werde dies, so Stier, sogleich aufgeweicht: Für Religionsgemeinschaften sei die Beschneidung erlaubt, wenn sie lege artis durchgeführt wird. «Das Strafrecht verbietet jede Form der Beschneidung von Mädchen und Frauen, warum also nicht bei Jungen?» fragte Stier. Prof. Maximilian Stehr, Kinderchirurg aus Nürnberg, bekräftigte, dass die Behandlung einer Phimose grundsätzlich nur indiziert sei, «wenn Beschwerden vorliegen oder unmittelbar drohen». Vor dem operativen Eingriff müss-
Tabelle 1:
Therapie bei Phimose
➔ primär Kortisonsalbenbehandlung (z.B. Betamethason 0,1%) für 4 (–8) Wochen ➔ Indikation zur Zirkumzision (nur bei persistierenden Beschwerden/erfolgloser
konservativer Therapie): ● Zustand nach Paraphimose ● dauerhaftes Miktionshindernis/Miktionsbeschwerden mit persistierender
Ballonierung ● Kohabitationsbeschwerden ● Zustand nach rezidivierenden Balantiden mit Narbenbildung ● Lichen sclerosus ● rezidivierende Harnwegsinfekte und eine höhergradige Anomalie des
harnableitenden Systems (relative Indikation)
ten zudem weniger invasive Massnahmen angeboten werden, im Falle einer nicht vernarbten Vorhautenge ist die topische Steroidanwendung das Mittel der Wahl (Tabelle 1). Eine wichtige medizinische Indikation zur Zirkumzision ist hingegen eine Vorhautverengung bei Lichen sclerosus. Stehr wies darauf hin, dass immer mehr ältere Jungen mit narbigen Phimosen aufgrund eines Lichen behandelt werden müssten, da die Hauterkrankung im Säuglingsalter immer noch häufig übersehen werde. Die Zirkumzision ist laut Stehr grundsätzlich zwar kein komplikationsträchtiger Eingriff. Allerdings kommt es bei etwa 5 Prozent zu weniger gravierenden und gut beherrschbaren Komplikationen, in erster Linie zu Nachblutung oder Entzündung. Eine seltenere, aber schwerwiegende Komplikation ist die Meatusstenose. Diese kann laut Stehr insbesondere dann auftreten, wenn die Zirkumzision schon im frühen Säuglingsalter durchgeführt wird. Ältere Studien dokumentieren eine Komplikationsrate von bis zu 30 Prozent. Weniger beachtet werden bis heute mögliche langfristige psychische Folgen. Dr. med. Manfred Endres, Kinderarzt und Psychotherapeut aus München, machte darauf aufmerksam, dass ein Eingriff am Penis für den Jungen etwas Bedrohliches sei, vor allem wenn die Beschneidung zwischen dem ersten und dritten Lebensjahr durchgeführt werde – in einer Zeit, in der das Bewusstsein für die körperliche Geschlechtsidentität erwacht. Im Erwachsenenalter könnte dies als Spätfolge zu sexuellen Funktionsstörungen führen. Auch wenn dies nicht die Regel sei, müsse daran gedacht werden. Eine Zirkumzision sollte laut Endres stets einfühlsam durchgeführt werden, eventuell unter psychotherapeutischer Begleitung. Bei Jungen aus einem Kulturkreis, in dem die Beschneidung Teil der Identität sei, müssten psychische Folgen allerdings möglicherweise anders beurteilt werden. Diese Jungen nehmen sich in ihrer Kultur eben nicht als Ausnahme wahr. Ein Sitzungsteilnehmer warf die Frage auf, ob das Kindswohl bei diesen Jungen nicht vielmehr durch Verweigerung der Beschneidung gefährdet würde.
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Alle Experten lehnten diese Argumentation ab. Der Urologe Dr. W. Bühmann, Sylt, sagte: «Es gibt eine klare Rationale: Uns Ärzten ist es schlichtweg verboten, Eingriffe durchzuführen, wenn keine medizinische Notwendigkeit besteht. Andernfalls machen wir uns berufsrechtlich strafbar.» Religiöse Überzeugungen spielten dabei keine Rolle. Auch den Einwand, es sei besser, ein Urologe führe eine (religiös motivierte) Zirkumzision durch als ein «Kurpfuscher», liessen Bühmann und seine Kollegen nicht gelten.
Hodenhochstand – wann operieren?
Etwa 2 bis 8 Prozent der Reifgeborenen und bis zu 30 Prozent der Frühgeborenen weisen einen Hodenhochstand auf. Bis spätestens zum 6. Lebensmonat sollte der Hoden normalerweise deszendiert sein. Die Behandlungsbedürftigkeit hängt unter anderem davon ab, ob der Hochstand einseitig oder beidseitig auftritt. Ziel der Behandlung, so Stehr, sei die Erhaltung der Fertilität. Jungen mit einseitigem Hodenhochstand, die zeitgerecht operiert werden, haben nicht mit Einbussen ihrer Fertilität zu rechnen. Sind beide Hoden betroffen, ist eine Minderung der Vaterschaft um bis zu 40 Prozent belegt. Daraus leite sich die Indikation zur Hormontherapie mit LHRH ab, mit der im 6. bis 9. Lebensmonat eine «Mini-Pubertät» induziert wird. Die in den deutschen Leitlinien noch erwähnte Kombination von LHRH mit Beta-HCG wird inzwischen nicht mehr befürwortet. Beta-HCG steht im Verdacht, über vermehrte Apoptose möglicherweise eine Hodengewebsschädigung zu induzieren. Ohnehin gilt die Behandlung mit diesem Hormon als nebenwirkungsreich. Die Experten betonten, dass die Behandlung des Hodenhochstands inklusive Operation unbedingt bis Ende des 1. Lebensjahres abgeschlossen sein müsse. Eine Kontrolle des OP-Erfolges sollte alle drei Monate im ersten Jahr nach der OP erfolgen. Bei Jungen mit primärem Hodenhochstand sollen die Eltern darauf aufmerksam gemacht werden, dass eine spätere Entartung möglich ist. Deshalb wird Jungen ab 15 empfohlen, ihren Hoden selbst abzutasten.
Hypospadie: häufigste Fehlbildung des männlichen Genitale
Die Hypospadie ist in der Bevölkerung kaum bekannt, obwohl sie die häufigste angeborene Fehlbildung des männlichen Genitales ist. Wann eine Hypospadie behandlungsbedürftig ist, darüber gibt es durchaus unterschiedliche Aufassungen. Grundsätzlich ist man heute bei leichteren (also nicht proximalen) Formen (z.B. Hypospadia glandis) mit einem operativen Eingriff eher zurückhaltend. Eine OP-Indikation besteht dagegen unbestritten bei proximalen Formen. Die Behandlungsindikation ergibt sich bei leichten Formen aus möglichen Beschwerden, etwa wenn die Hypospadie zu einem senkrecht abgelenkten Harnstrahl führt oder eine Penisschaftdeviation nach ventral vorliegt, die allerdings erst bei Erektion erkennbar wird. Bühmann empfahl, einen hypospaden Jungen grundsätzlich einem Kinderurologen vorzustellen. Dass die Hypospadie zur Ausgrenzung und Beschämung führt, müsse verhindert werden, betonte das Panel. Deshalb sei es wichtig, offen darüber mit den Betroffenen bezie-
hungsweise ihren Eltern zu reden. Insbesondere bei Familien aus südlichen Ländern sei die Anomalie allerdings ein Tabuthema und die Eltern sehen darüber aus Scham hinweg. Es sei deshalb wichtig, schon bei der Geburt das Thema anzusprechen, das schaffe Sicherheit bei den Eltern. Eine proximale Hypospadie erfordert immer eine erweiterte Diagnostik. Ist eine Operation indiziert, soll diese zwischen dem 9. und 12. Lebensmonat erfolgen, spätestens aber bis zum 3. Lebensjahr. Durch Vorbehandlung mit Dihydrotestosteron-Creme oder -Gel kann die Komplikationsrate gesenkt werden.
Varikozele: Führt sie zu Infertilität?
Varikozelen entstehen (prä-)pubertär und können sich von allein zurückbilden. Das gilt in erster Linie für jene vom Grad 1 und 2. In diesen Fällen ist es ratsam, die weitere Entwicklung zu verfolgen, meinten die Experten. Ob es zu einer Beeinträchtigung der Hodenfunktion gekommen ist, lasse sich heute anhand des Inhibin B
viel besser feststellen als mit dem FSH-Spie- Die Behandlung des gel, erklärte Stehr. Eine Operation sei im All- Hodenhochstands gemeinen bei auftretenden Beschwerden, muss bis zum Ende etwa ein Ziehen im Sitzen oder beim Sport, des 1. Lebensjahres indiziert, sowie bei beschwerdefreien Jungen abgeschlossen sein.
mit einer Grössendifferenz der Hoden von mindestens 20 Prozent (Tabelle 2). Im Anschluss an den operativen Eingriff stellt sich meist ein Aufholwachstum des Hodens ein, die Zahl der Spermien kann sich erhöhen, das Inhibin B ansteigen. Wie sollte man vorgehen, wenn bei einem 14- bis 15jährigen Jungen eine Hodendifferenz auffällt, ohne dass Beschwerden vorliegen? In dieser Situation sei es gerechtfertigt, zunächst eine Kontrolluntersuchung nach einem Jahr zu vereinbaren. Hat die Hodendifferenz weiter zugenommen und überschreitet sie 20 Prozent, sollte dann die Operation vorgenommen werden. Zur Feststellung der Hodengrösse wird die Orchimetrie heute nicht mehr empfohlen; als zuverlässiger hat sich die Sonografie erwiesen, mit der gleichzeitig auch ein Tumor ausgeschlossen werden kann. Tumoren sind zwar selten, man sollte jedoch daran denken, meinte Stehr. Die Ultraschalluntersuchung wird im Liegen und im Stehen (mit Valsalva) durchgeführt. Seit langem wird diskutiert, ob eine Varikozele die Fertilität beeinträchtigt. Insgesamt, so Stehr, seien die Daten widersprüchlich. Ob durch einen operativen Eingriff die Fertilität nennenswert beeinflusst wird, sei nicht eindeutig geklärt. Zwar deutet das Spermiogramm bei hochgradiger Varikozele auf eine eingeschränkte Fertilität hin, aber mit Blick auf eine spätere Vaterschaft lässt sich
Tabelle 2:
OP-Indikation bei Varikozele
➔ Grad-3-Varikozele: Hier besteht zumindest die Möglichkeit, dass sie eine Infertilitätsstörung verursacht. Eine Grad-3-Varikozele bildet sich nur in 30 Prozent der Fälle von allein zurück.
➔ asymptomatische Hodenseitendifferenz von mindestens 20 Prozent ➔ abnormales Spermiogramm (nach Spermarche), Inhibin B verringert
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Studien zufolge keine wesentliche Beeinträchtigung feststellen.
HPV-Impfung auch für Jungen
Gemäss Daten des Deutschen Krebsforschungszentrums stecken sich 75 bis 80 Prozent der sexuell aktiven Menschen irgendwann einmal mit HPV an. «Wir haben es jetzt endlich geschafft, dass die HPV-Impfung auch für Jungen in Deutschland empfohlen wird», freute sich Stier. Ziel müsse nun sein, dass tatsächlich alle Jungen geimpft würden. Bei den Mädchen ist man in Deutschland mit rund 40 Prozent bisher weit unter der für einen Herdenschutz nötigen Impfquote geblieben. Dies sei ein zusätzlicher, dringender Grund, alle Jungen zu impfen, um letztlich auch die Mädchen zu schützen. «Es gibt keinen Grund, jemanden nicht zu impfen», sagte Bühmann. Die Impfung funktioniere übrigens auch noch nach dem ersten Geschlechtsverkehr, und selbst wenn man bereits infiziert ist, bringe sie noch etwas: «Sie reduziert dann das Risiko von Condylomatarezidiven um 80 Prozent», zitierte Bühmann aus einer australischen Studie. In der Schweiz gehört die HPV-Impfung für Jungen und Männer im Alter von 11 bis 26 Jahre schon seit Längerem zu den empfohlenen ergänzenden Impfungen.
Das dritte Geschlecht
Die Störung der Geschlechtsentwicklung sei in der Regel kein medizinischer Notfall und man dürfe sich als Arzt nicht unter Druck setzen lassen und vorschnell entscheiden, es sei doch ein Junge oder doch ein Mädchen, sagte Stier: «Die Betroffenen haben, wann immer es geht, ein Recht darauf, selbst zu entscheiden, welches Geschlecht sie annehmen wollen.» Die Panelteilnehmer waren sich einig in der Ablehnung verstümmelnder oder fertilitätseinschränkender Operationen, wie sie früher viel zu oft durchgeführt wurden. Stehr warnte jedoch davor, sich künftig möglicherweise auch bei Patienten mit ADS oder Hypospadie zurückzuhalten und sie mit «echten» DSD-Patienten in einen Topf zu werfen. Damit würde diesen Patienten eine einfach und leicht zu erreichende, sichere Geschlechtsentwicklung zu Unrecht verwehrt.
Uwe Beise
Quelle: Interdisziplinäre Sitzung «Risikofaktoren in der Jungenmedizin», mit Prof. Dr. med. Maximilian Stehr (Deutsche Gesellschaft für Kinderchirurgie), Dr. med. Wolfgang Bühmann (Berufsverband der Deutschen Urologen e.V.), Dr. med. Manfred Endres (Ärztliche Akademie für Psychotherapie von Kindern und Jugendlichen e.V.) und Dr. med. Bernhard Stier (Beauftragter für Jungenmedizin/Jungengesundheit des Berufsverbands der Kinderund Jugendärzte e.V.). DGKJ-Kongress 12. bis 15. September 2018 in Leipzig.
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