Transkript
Schwerpunkt
Folsäurestatus und -prophylaxe
Was bringen Supplemente und die Anreicherung von Lebensmitteln?
Wie wichtig Folate für die fetale Entwicklung sind, ist seit Langem bekannt. Prof. Berthold Koletzko erläuterte an der DGKJ-Tagung in Leipzig den Stand des Wissens zur Folsäuresupplementierung im Zusammenhang mit der Prävention von Neuralrohrdefekten und im Hinblick auf andere Fehlbildungen. Darüber hinaus ging er auf Sicherheitsfragen zur Anreicherung von Lebensmitteln mit Folsäure ein.
F olate spielen im Stoffwechsel eine zentrale Rolle, vor allem für die Synthese von Aminosäuren, aber auch für die Bildung von Purinen und Pyrimidinen und damit letztlich für den Stoffwechsel der Nukleinsäuren DNA und RNA: «Insgesamt spielen sie eine zentrale Rolle für das Wachstum und die Multiplikation von Zellen», sagte Prof. Dr. med. Berthold Koletzko, Leiter der Abteilung für Stoffwechsel und Ernährung an der Kinderklinik im Dr. von Haunerschen Kinderspital, Universitätsklinikum München. Als Folate bezeichnet man die natürlich vorliegende Form des Vitamins B9. Die in Gemüse, Obst, Hülsenfrüchten, Leber, Weizenkeimen und anderen Nahrungsmitteln enthaltenen Folate sind relativ instabil, ein grosser Anteil geht während der Zubereitung der Speisen verloren. Für die Anreicherung von Produkten wird deshalb die stabilere Folsäure verwendet, die vom Organismus in die aktive Form, das 5-Methyl-Tetrahydrofolat (5-MTHF, Metafolin), überführt wird; für die individuelle Supplementierung sind neben den üblichen Folsäuretabletten auch Präparate verfügbar, die Metafolin enthalten.
Folsäure in der Schweiz
In der Schweiz werden Lebensmittel nicht standardmässig mit Folsäure angereichert. Es sind jedoch zahlreiche Produkte mit Folsäurezusatz erhältlich. Eine Übersicht über in der Schweiz verfügbare angereicherte Lebensmittel sowie Folsäure- und Metafolinpräparate bietet www.stiftung-folsäure.ch. Für Frauen mit Kinderwunsch werden pro Tag 400 µg Folsäure beziehungsweise Metafolin als Supplement zur Ergänzung einer folatreichen Ernährung empfohlen, spätestens einen Monat vor der Konzeption und im ersten Trimester der Schwangerschaft. Die Stiftung Folsäure Schweiz empfiehlt, bereits drei Monate vor der Schwangerschaft mit der Folsäureprophylaxe zu beginnen. Gemäss MOSEB (Monitoring-System Ernährung und Bewegung) haben 2013 über drei Viertel der Schwangeren in der Schweiz täglich Folsäure eingenommen, allerdings geht aus den publizierten Daten nicht hervor, ob und wie lange sie damit vor der Konzeption begonnen hatten (9).
Zentrale Rolle für das Wachstum
Die zentrale Rolle der Folsäure für das Wachstum wurde in einer Studie in den Niederlanden deutlich. Eine Folsäuresupplementierung (400 bis 500 µg/Tag) während der Schwangerschaft, insbesondere wenn sie präkonzeptionell begonnen wurde, war mit einem geringeren Risiko verbunden, ein für das Gestationsalter zu kleines Kind zu gebären (SGA: small for gestational age). Mütter mit Supplementierung brachten im Durchschnitt grössere Kinder zur Welt, wobei dieser Effekt bei Frauen, die bereits ein Kind geboren hatten, wesentlich ausgeprägter war als bei Frauen, die ihr erstes Kind bekamen (1).
Vermeidung kongenitaler Fehlbildungen
Besonders bedeutsam ist die Folsäurezufuhr jedoch kurz vor und zu Beginn der Schwangerschaft. In Ländern ohne Anreicherung von Grundnahrungsmitteln wie Mehl und Getreideprodukten werde im Durchschnitt bei 1000 Schwangerschaften 1 Kind mit einem Neuralrohrdefekt geboren, sagte Koletzko. Dies entspricht einer Grössenordnung, wie sie auch für die Schweiz genannt wird (2). Es ist seit Langem bekannt, dass das Auftreten schwerer Neuralrohrdefekte wie Spina bifida, Anenzephalie oder Zephalozele auch vom Folsäurestatus beeinflusst wird. Es könnten aber auch noch andere, häufiger auftretende Fehlbildungen durch einen guten Folsäurestatus vermeidbar sein. Anhaltspunkte hierfür lieferte eine Studie in Brasilien zu Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalten bei Neugeborenen. In die Studie wurden nicht schwangere Frauen aufgenommen, die ein erhöhtes Risiko hatten, ein Kind mit dieser Fehlbildung zu gebären. Sie hatten entweder selbst eine solche als Kind gehabt oder bereits einmal ein Kind mit einer Lippen-Kiefer-Gaumen-Spalte geboren. In zwei randomisierten Gruppen sollten die Frauen kontinuierlich 400 µg oder 4 mg Folsäure pro Tag einnehmen und dies nach Eintritt einer Schwangerschaft im ersten Trimester fortsetzen; eine Kontrollgruppe ohne Supplementation gab es nicht. Im Studienzeitraum wurden 234 Lebendgeburten gezählt, von denen 225 ausgewertet werden konnten. Das Auftreten von Lippen-
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Kiefer-Gaumen-Spalten war mit beiden Folsäuredosen gleich häufig. Betroffen waren 3 von 105 Kindern (2,9%) bei 400 µg/Tag und 3 von 120 Kindern (2,5%) bei 4 mg/Tag. Dieser Anteil war kleiner als die mit 6,3 Prozent bezifferte historische Rate an Lippen-KieferGaumen-Spalten in Brasilien (3). Ebenfalls häufiger als Neuralrohrdefekte sind auch die nicht genetisch bedingten Herzfehler bei Neugeborenen (ca. 1:100). Auch hier könnte die Folsäuresupplementierung etwas bringen, sagte Koletzko. So sank nach der Einführung der Folsäureanreicherung von Lebensmitteln in Kanada die Rate konotrunkaler Defekte bei Neugeborenen von 13,1/10 000 Geburten auf 10,1/10 000. Bereinigt um andere Faktoren, wie beispielsweise das mit der Zeit steigende Durchschnittsalter der Schwangeren, sank die Rate der nicht erblich bedingten Herzfehler bei Neugeborenen von 1990 bis 2011 um 11 Prozent; eingeführt wurde die Folsäureanreicherung von Lebensmitteln in Kanada 1998 (4).
Empfehlungen zur Folsäuresupplementierung
Als Zielwert für Frauen im generativen Alter hat die WHO ein Erythrozyten-Folat von > 400 ng/ml (> 906 nmol/l) definiert, um Kinder vor Neuralrohrdefekten zu schützen. In Deutschland erreichten diesen Wert jedoch weniger als 5 Prozent der Frauen, sodass die tägliche Einnahme von Supplementen mit 400 bis 800 µg Folsäure beziehungsweise Metafolin empfohlen werde, sagte Koletzko. Er wies darauf hin, dass auch weitere B-Vitamine in diesem Zusammenhang wichtig sind, denn das Risiko für Neuralrohrdefekte hängt nicht nur vom Folat-, sondern auch vom B12-Status ab. Beide wirken synergistisch, sodass eine optimale perikonzeptionelle Prophylaxe sowohl B12 als auch Folsäure umfassen sollte (5). Möglicherweise könnten Multivitaminpräparate zusätzlich zur Folsäure einen weiteren Nutzen bewirken. «Das Problem ist, dass Folsäure als Tablette sehr früh eingenommen werden muss», sagte Koletzko. Der Neuralrohrschluss ist bereits zwischen 21 und 28 Tagen nach der Konzeption abgeschlossen: «Wenn eine Frau bemerkt, dass sie schwanger ist, und erst dann beginnt, Folsäure einzunehmen, ist der Schutzeffekt nicht wirklich gut.» Man habe lange Zeit versucht, die regelmässige Einnahme von Folsäurepräparaten vor dem Eintritt einer Schwangerschaft zu fördern, etwa mit der Idee, nach dem Absetzen der Pille die gewohnte tägliche Einnahme mit einer Folsäuretablette fortzusetzen, berichtete der Referent: «Aber das funktioniert in der Praxis nicht.» In keinem der Länder, die auf eine Folsäuretablettenprophylaxe setzten, habe man bisher eine nachweisbare Senkung der Neuralrohrdefektrate erreichen können. Seiner Ansicht nach ist deshalb die Folsäureanreicherung von Grundnahrungsmitteln wie Mehl und anderen Getreideprodukten wünschenswert. In Ländern, die solche Massnahmen eingeführt hätten, sei die Anzahl der Geburten von Kindern mit Neuralrohrdefekten deutlich gesunken, zum Beispiel um 40 Prozent in Brasilien, um 50 Prozent in Kanada und Chile, um 60 Prozent in Costa Rica und um 30 Prozent im Iran und in Südafrika, sagte Koletzko. In den USA sei der relative Rückgang etwas be-
scheidener ausgefallen, was dadurch erklärbar sei, dass in den USA bereits vor 1998 viele Lebensmittel mit Folsäure angereichert worden seien. Als weiteres Argument für mit Folsäure angereicherte Lebensmittel nannte Koletzko eine von den US-amerikanischen Centers for Disease Control (CDC) von 1990 bis 2002durchgeführte Studie zur Entwicklung der Schlaganfallmortalität in den USA und Kanada. Wie in vielen anderen Regionen der Welt sank sie mit der Zeit, aber – und das ist für die CDC-Autoren das entscheidende Argument – ab 1998 schneller als zuvor, also ab dem Jahr, in dem auch die Anreicherung von Mehl und Getreideprodukten landesweit und umfassend eingeführt worden war. Sie verglichen den Verlauf der Schlaganfallmortalität in den USA und Kanada mit dem Verlauf in England und Wales, denn dort gab es im gleichen Zeitraum keine Folsäureanreicherung von Grundnahrungsmitteln. Aber auch in England und Wales sank die Schlaganfallmortalität, im Unterschied zu den USA jedoch kontinuierlich und ohne spezielle Beschleunigung des Rückgangs ab dem Jahr 1998 (6).
Ist die allgemeine Folsäureanreicherung von Lebensmitteln sicher?
Während der Nutzen der Folsäuresupplementation im Zusammenhang mit der Schwangerschaft unumstritten ist, sieht das bei der standardmässigen Folsäureanreichung von Lebensmitteln anders aus. Ein Kritikpunkt ist die Sorge, dass stark erhöhte Folatspiegel das Wachstum von Tumoren fördern könnten. In Tierversuchen hatte sich gezeigt, dass hohe Folatdosen die Entstehung früher Gewebeläsionen zwar verminderten (was als potenzielle Krebsprävention gedeutet wurde), das Wachstum bereits bestehender Tumoren jedoch förderten. Auch ist seit Jahrzehnten bekannt, dass Folsäuremangel wachsende Tumoren «aushungern» und deren Wachstum stoppen kann (7). In einer 2013 publizierten Metaanalyse zeigte sich zumindest in den ersten 5 Jahren einer Dauersupplementation mit Folsäure kein krebsförderndes Potenzial. Einbezogen wurden die Daten von rund 47 000 Probanden aus 10 Studien, bei denen es um Folsäure zur kardiovaskulären Prävention ging, sowie von knapp 3000 Darmkrebspatienten aus 3 Studien zur krebspräventiven Potenz von Folsäure. Die Folsäuredosen reichten von 500 µg bis 5 mg pro Tag, in einer Studie waren es sogar 40 mg täglich. Über alle Studien hinweg war das mediane Plasmafolat bei den supplementierten Probanden um das Vierfache erhöht (57,3 nmol/l vs. 13,5 nmol/l), in der genannten Studie mit der extrem hohen Dosis gar um das Hundertfache (8).
Renate Bonifer
Quellen: Genannte Publikationen sowie Referat von Prof. Berthold Koletzko «Folsäureprophylaxe» am Symposium «Prävention in der Schwangerschaft». DGKJ-Kongress, 12. bis 15. September 2018 in Leipzig.
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Literatur: 1. Timmermans S et al.: Periconception folic acid supplementation, fetal growth and the risks of low birth weight and preterm birth: the Generation R Study. Brit J Nutr 2009; 102: 777–785. 2. Baerlocher K: Folsäure perikonzeptionell und in der Schwangerschaft. Einflüsse auf die kindliche Entwicklung. Schweiz Zeitschr Ernährungsmed 2012; 3: 9–14. 3. Wehby GL et al.: High dosage folic acid supplementation, oral cleft recurrence and fetal growth. Int J Environ Res Public Health 2013; 10: 590–605. 4. Liu S et al.: Effect of folic acid food fortification in Canada on congenital heart disease subtypes. Circulation. 2016; 134: 647–655. 5. Mills JL et al.: Homocysteine metabolism in pregnancies complicated by neural-tube defects. Lancet 1995; 345: 149–151. 6. Yang Q et al.: Improvement in stroke mortality in Canada and the United States, 1990 to 2002. Circulation 2006; 113: 1335–1343. 7. Kim YI: Will mandatory folic acid fortification prevent or promote cancer? Am J Clin Nutr 2004; 80: 1123–28. 8. Vollset SE et al.: Effects of folic acid supplementation on overall and site-specifi cancer incidence during the randomised trials: meta-analyses of data on 50 000 individuals. Lancet 2013; 381: 1029–1036. 9. MOSEB; https://www.bag.admin.ch/bag/de/home/das-bag/ressortforschungevaluation/forschung-im-bag/forschung-nichtuebertragbare-krankheiten/monitoringsystemncd/monitoring-system-ernaehrung-bewegung.html abgerufen am 24.10.2018
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