Transkript
Schwerpunkt
Red flags im ersten Lebensjahr
Warnsignale einer verzögerten oder gestörten psychomotorischen Entwicklung spielen eine grosse Rolle, um Entwicklungsauffälligkeiten im ersten Lebensjahr erkennen, einordnen und somit von allfälligen Entwicklungsvarianten abgrenzen zu können. Quantitative Parameter müssen dabei immer auch in Relation zur qualitativen Beurteilung gesetzt werden.
Von Mark Brotzmann
Die Entwicklung im ersten Lebensjahr ist ein sehr dynamischer Prozess mit einer hohen Variabilität. Dieser Prozess orientiert sich an einem determinierten biologisch-genetischen Fahrplan, der zur Ausreifung/Veränderung der neuronalen Netzwerke führt und so den individuellen Entwicklungsverlauf bestimmt. Die Qualität der Ausreifung ist abhängig von Umwelteinflüssen und speziell von der Eltern-KindTriade. In diesem Spannungsfeld der Entwicklung können bereits früh Auffälligkeiten in allen Bereichen der psychomotorischen Entwicklung auftreten. Daher ist nicht nur die Kenntnis über den Ablauf der normalen psychomotorischen Entwicklung im Praxisalltag notwendig, sondern auch das Wissen über mögliche Warnsignale.
Motorische Entwicklung
Obwohl die motorische Entwicklung nicht das Einzige
ist, das im ersten Lebensjahr rasant fortschreitet, neh-
men viele Eltern diesen Teil am deutlichsten wahr. Es sind
die Meilensteine der Motorik, an die sich die Eltern
hauptsächlich erinnern: das erste Mal, wenn das Baby
nach den Fingern greift, sich vom Rücken auf den Bauch
dreht und natürlich der Tag, an dem es seinen ersten
Es besteht oft die Neigung, Quantitätsmerkmale fälschlicherweise höher zu gewichten als Qualitätsmerkmale.
Schritt macht. Innerhalb von nur zwölf Monaten wird aus dem hilflosen Säugling ein aufrecht gehender Mensch mit zielgerichteten mo-
torischen Fähigkeiten. Die Ent-
wicklung der Willkürmotorik befähigt den Säugling, sich
fortzubewegen und sich damit auch zu einem Menschen
zu entwickeln, der sich mit seiner Umwelt auseinander-
setzen und interagieren kann. Weniger offensichtlich ist,
dass auch die Gestik, Mimik, das Blickverhalten und die
Sprache wie auch das Zeichnen und Malen der motori-
schen Entwicklung zugeordnet wird.
Intrinsischer Prozess
Die motorische Entwicklung im ersten Lebensjahr ist überwiegend ein Reifungsprozess, der nach inneren, we-
nig zu beeinflussenden Regeln abläuft. Dies kann man zum Beispiel daran erkennen, dass ein Kind auch dann lernt, sich vom Rücken auf den Bauch und zurück zu drehen, wenn die Eltern ihm dies nie vorgemacht haben; auch das Robben oder Krabbeln benötigt keine Anleitung oder Erklärung. Die motorische Entwicklung folgt einem intrinsischen Reifungsprozess, welcher sehr variabel und individuell ist. Sie ist unabhängig von sensorischen Auslösern und basiert auf der autonom ablaufenden Reifung zentraler und spinaler Netzwerke, worauf die Ethnie keinen Einfluss zu haben scheint. Ebenso haben weder das Körperwachstum noch das Geschlecht einen signifikanten Einfluss auf die motorische Entwicklung. Dementsprechend sind geschlechterspezifische Perzentilen nicht gerechtfertigt (1). Erstaunlich ist die Beständigkeit der Abfolge der motorischen Meilensteine im ersten Lebensjahr. Zirka 86 Prozent der Kinder zeigen die Abfolge freies Sitzen, Stehen mit Unterstützung, Krabbeln im Vierfüsserstand, Laufen mit Unterstützung, freies Stehen und freies Gehen, wobei sich ein Überlappen verschiedener Meilensteine zeigt und nicht eine einander ablösende Abfolge. Wichtig ist, dass ein Abweichen von dieser Reihenfolge nicht automatisch als pathologisch interpretiert wird, sondern als Normvariante differenzialdiagnostisch infrage kommt. So krabbeln 4 bis 5 Prozent der Kinder nicht, sondern kommen direkt vom Sitzen über das Stehen zum Laufen (1). Die Abfolge der voranschreitenden Lokomotion ist bei gesunden Kindern weitgehend von Ethnie und Genetik unabhängig, kann aber durch äussere Einflüsse wie (chronische) Krankheiten oder Mangelernährung nachhaltig beeinflusst werden. Kulturelle Unterschiede in der Erziehung können den Zeitpunkt des Auftretens der verschiedenen Meilensteine beeinflussen. Die Spannweite für das Erreichen der motorischen Entwicklungsstufen ist sehr gross. So zeigt sich zum Beispiel für das Erlernen des freien Sitzens eine Spannweite von zirka 5 Monaten (ca. 4.–9. Lebensmonat) und für das freie Stehen eine solche von zirka 10 Monaten (ca. 7.–17. Lebensmonat) (1).
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Schwerpunkt
Quantitative Beurteilung der motorischen Entwicklung
Um zu beurteilen, ob Kinder in ihrer Entwicklung gefährdet sind, wird überwiegend das sogenannte «Meilensteinkonzept» herangezogen. Dieses Konzept bezieht sich auf die 50. Perzentile einer Gaussschen Verteilung und beschreibt, wann der Durchschnitt der Kinder ein bestimmtes Entwicklungsmerkmal erreicht hat. Da aber die Vorsorgeuntersuchungen auch dazu dienen, grenzwertige Befunde zu erheben und entsprechende therapeutische oder auch diagnostische Massnahmen einzuleiten, ist dieses Konzept ungeeignet. Hingegen bewertet das «Grenzsteinkonzept» Kinder erst als auffällig, wenn Entwicklungsziele der 90. bis 95. Perzentile nicht erreicht werden. Damit erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, Kinder mit Entwicklungsstörungen zu erkennen und die Zahl der falschpositiven Ergebnisse, die unter Anwendung des Meilensteinkonzepts zwangsläufig hoch ist, zu minimieren (2). Red flag: ● Nichterreichen der Meilensteine > 95. Perzentile.
Qualitative Beurteilung der motorischen Entwicklung
Bei der klinischen Beurteilung der Grob- und Feinmotorik sind quantitative Messinstrumente hilfreich, sie ersetzen aber die qualitative Befunderhebung der Motorik nicht. Umgekehrt kann der qualitative Eindruck einer Fertigkeit eine fragliche quantitative Pathologie relativieren, vor allem, wenn der individuelle Entwicklungsverlauf betrachtet wird. Es besteht oft die Neigung, die Quantitätsmerkmale fälschlicherweise höher zu gewichten als die Qualitätsmerkmale. Im Fokus der Untersuchung sollte die Beobachtung stehen, wobei auf die Bewegungsqualität und -freude geachtet werden soll. Dabei soll beurteilt werden, ob sich flüssige Spontanbewegungen zeigen, Asymmetrien in Haltung und Bewegung bestehen, eine Variabilität und Zunahme bezüglich des Bewegungsrepertoires vorliegt und abschliessend auch, ob die Bewegungen zunehmend raumausfüllend und zielgerichtet sind. Red flag: ● auffällige Bewegungsqualität in Kraft, Tonus, Symme-
trie, Koordination, Flüssigkeit der (spontanen) Bewegungen ● fehlende Bewegungsfreude. In der manuellen Untersuchung muss der Muskelgrundtonus beurteilt werden. Wichtig ist somit die Suche nach einem erhöhten Muskelgrundtonus, das heisst, ob das Kind zur opisthotonen Körperhaltung neigt oder sich Hinweise für eine Tendenz zu Streck- oder Beugehaltungen der Extremitäten finden. Ebenso wichtig ist die Suche nach einer Hypotonie. Die muskuläre Hypotonie ist von besonderer Bedeutung, weil sie mit einer erhöhten Gefahr für eine Entwicklungsretardierung auf verschiedenen Ebenen einhergehen kann. Die Prüfung der Muskeleigenreflexe und das Vorliegen allfällig pathologischer Primitivreflexe komplettieren die Untersuchung. Abschliessend müssen die erhobenen Befunde in Relation zu möglicherweise in anderen Bereichen bestehenden Entwicklungsauffälligkeiten und den anamnestisch bestehenden Risikofaktoren gesetzt werden.
Red flag: ● Auffälligkeiten in anderen Entwicklungsbereichen ● Stagnation der Entwicklung ● vorbestehende Risikofaktoren.
Sprachentwicklung
Im Allgemeinen ist meist die Rede von Sprachentwick-
lung; wichtig ist, dass dazu aber auch die Sprechent-
wicklung gehört. Die Sprachentwicklung bezieht sich
auf den Erwerb von Regeln des Lautsystems, des Wort-
schatzes, der Grammatik und der Textkompetenz (Erzäh-
len, Beschreiben von Ereignissen). Die Entwicklung des
Sprechens bezieht sich auf die Bildung von Lauten, die
Sprechgeschwindigkeit und -flüssigkeit, die Betonung
und den Stimmeinsatz. Das Kind eignet sich zuerst die
nonverbalen Kompetenzen an, womit die Entwicklung
des Spracherwerbs beginnt. Das Kind lernt, dass es zwi-
schen den Äusserungen von Bezugspersonen und den
Gegenständen und Handlungen einen Bezug gibt.
Bevor das erste verständliche Wort geäussert wird, ver-
steht ein Kind schon sehr viele Wörter, weil es damit im
Spiel und im Alltag Erfahrungen gemacht hat und sie
entsprechend einordnen kann.
Daher ist die Entwicklung des
Spiel- und Sozialverhaltens eine wichtige Grundlage für den Spracherwerb. Sobald sich das Kind lautlich zu äussern beginnt (Lallphasen), werden im Mund-
Die Entwicklung des Spielund Sozialverhaltens ist eine wichtige Grundlage für den Spracherwerb.
bereich Bewegungsabläufe ein-
geübt, die als Grundlage für die Bildung der Laute und
des Redeflusses dienen. Die Sprach- und Sprechentwick-
lung, kombiniert mit den nonverbalen Fertigkeiten, ge-
ben dem Kind die notwendigen kommunikativen Kom-
petenzen, um seine Gedanken und Intentionen
auszudrücken.
Voraussetzungen für den Spracherwerb sind die zuneh-
mende Myelinisierung kortikobulbärer Bahnen sowie
anatomische Veränderungen des Stimmtraktes in den
ersten drei Monaten, die den Resonanzraum für die
Vokalbildung (Mund- und Rachenraum) erweitern und
den Artikulatoren (v.a. der Zunge) ein freies Spiel erlau-
ben. Essenziell ist weiterhin das Hören von Sprache und
das Vorhandensein von Kommunikationspartnern, die
mit dem Kind eine Beziehung aufbauen, es stimulieren
und anregen. Diese Partner findet es zumeist in seinen
primären Bezugspersonen (3).
Die Bedeutung und Wichtigkeit der primären Bezugs-
personen für die Sprachentwicklung spiegelt sich auch
darin wider, dass Kinder bereits in utero ab zirka der
28. Schwangerschaftswoche die Prosodie der mütterli-
chen Sprache, also die Betonung der Sprache (Melodie,
Ton, Färbung beim Sprechen) wahrnehmen. Sie können
so einerseits die mütterliche Sprache und die Botschaft
ihrer Stimme erkennen, daraus sogar die Befindlichkeit
der Mutter ableiten, diese Sprache andererseits aber
auch von prosodisch andersartigen Sprachen unterschei-
den (4). Die typisch mütterliche Prosodie wird als «Am-
mensprache» bezeichnet, welche durch eine hohe
Stimme, überzogene Intonation sowie lange Pausen zwi-
schen den einzelnen Sprechanteilen gekennzeichnet ist
und auch von Personen im sozialen Umfeld oftmals imi-
tiert wird (3).
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Präverbale Sprachmerkmale
Das neugeborene Kind ist in den ersten Wochen ledig-
lich in der Lage, seine Belange über das Schreien mitzu-
teilen. Im Lauf der ersten Wochen entwickeln sich aber
Unterschiede im Schreien. Müdigkeitsschreien klingt an-
ders als Hungergeschrei, und auch Schmerz wird durch
eine andere Art des Schreiens ausgedrückt. Diese Diffe-
renzen sind durch unterschiedliche physikalische Fre-
quenzen charakterisiert und messbar. Dies zeigt, dass
der Säugling bereits in den ersten Wochen zunehmend
in der Lage ist, das Zusammenspiel seiner «Sprechwerk-
zeuge» wie Lippen, Zunge, Gaumen oder Kehlkopf zu
koordinieren und die motorischen Abläufe zu verfeinern.
Red flag:
● Störungen in der Koordination dieser anatomischen
Strukturen, klinisch präsent durch Saug- und Schluck-
störungen oder ein auffälliges Schreiverhalten (z.B.
sehr helles Schreien).
Die Reifung der Sprechwerkzeuge befähigt das Kind
etwa zwischen der 6. und 8. Lebenswoche, neben dem
Schreien auch andere stimmliche Laute von sich zu ge-
ben, nämlich das Gurren. Das Gurren, auch erste Lall-
phase genannt, tritt wie die motorische Entwicklung kul-
turübergreifend in allen Sprachen auf. Sogar taube
Kinder gurren. Diese Laute ent-
Die Spannweite für das
stehen zunächst vor allem zufäl-
Erreichen der motorischen
lig durch Muskelbewegungen in
Entwicklungsstufen ist sehr Mund, Hals und Kehlkopf. Das
gross.
Kind verfeinert dieses Gurren,
indem es in seinen Wachphasen
viel Zeit und Mühe darauf ver-
wendet, die verschiedenen Möglichkeiten zu wiederho-
len und zu variieren. Dabei entwickeln sich eine eigene,
individuelle Melodie, Färbung beim Sprechen und ein ei-
gener Ton, also Prosodie. Diese Prosodie erlaubt es dem
Säugling bereits, in einen Dialog mit seinen Bezugsper-
sonen einzutreten. Die Form der Unterhaltung wird zu-
nehmend variationsreich und gefärbt von affektiv-emo-
tionalen Elementen.
Red flag:
● wenig variable, eintönige Prosodie
● monotones, wenig erkennbares Schreien, das die Be-
dürfnisse des Kindes signalisiert.
Sprachbeginn
Die zunehmende Kontrolle über das Gaumensegel im Alter von zirka 4 Monaten erlaubt das Voranschreiten der oralen und nasalen Kontrastierung von Phonemen (Vokale und Konsonanten). Sie gibt somit dem Säugling nicht nur die Fähigkeit, Konsonanten-Vokal-Verbindungen zu bilden, sondern ermöglicht dem Kind mit zirka 7 bis 8 Monaten die unmittelbare Nachahmung und mit zirka 8 bis 10 Monaten die Bildung von Silbenketten (Doppelsilben oder auch kanonische Silbenketten) wie «dadadada» oder «gagaga». Daraus leiten die Kinder die ersten Namen für ihre Eltern ab (ma-ma, pa-pa). Die ersten Konsonanten-Vokal-Verbindungen werden auch von schwer hörbeeinträchtigten Kindern gebildet. Die danach eintretende exzessive Sequenzbildung (kanonische Silbenketten) wird von tauben Kindern nicht erreicht, und sie verstummen gegen Ende des ersten Lebensjahres (3, 4). Bei der Beurteilung der Sprache stehen, wie bei der motorischen Entwicklung, ausreichend
viele quantitative Messinstrumente zur Verfügung (Meilensteine, Grenzsteine), wobei auch hier nicht strikt daran festgehalten werden darf, sondern die Qualität, also das Repertoire, die Variabilität, die Prosodie und Sprachfreude, berücksichtigt werden muss. Red flag: ● wenige oder keine affektiv-emotionalen Dialoge ● monotones Lallen ● mangelnde Sprach-/Lallfreude.
Regulationsstörungen
In den ersten Lebensmonaten können Säuglinge vor allem unter Schrei-, Schlaf- und Fütterstörungen leiden, die entweder einzeln, gleichzeitig oder aufeinanderfolgend auftreten können. Sie werden unter dem Begriff «Regulationsstörungen» zusammengefasst. Voraussetzung für die Definition einer solchen Störung ist, dass gesunden, reifgeborenen Kindern nach der Geburt attestiert wird, über die Fähigkeit zur Selbstregulation zu verfügen, die sich mit zunehmenden Alter dann weiter ausdifferenziert. Die Fähigkeit zur Selbstregulation bezüglich Schlaf, Nahrungsaufnahme und Affektivität ist bei Geburt noch unreif, daher sind die Kinder auf eine wohlwollende, protegierende und die Bedürfnisse wahrnehmende Eltern-Kind-Beziehung angewiesen.
Schreistörung
In den ersten Lebensmonaten lernt der Säugling zunehmend, seine Sinnesorgane zu gebrauchen und Stimmungen, Emotionen und Sinneseindrücke zu unterscheiden. So wechselt sein Zustand von Ausgeglichenheit, Sattsein und Entspannung hin zu Empfindungen von Hunger, Durst, Kälte und Krankheit. Ist er damit überfordert, kann sein Gemütszustand unmittelbar von Wohlbefinden zu verzweifeltem Weinen oder Schreien wechseln. Schreien ist eine vorsprachliche Kommunikationsart, mit welcher der Säugling seine Bedürfnisse und seine Befindlichkeit ausdrückt. Aus entwicklungspädiatrischer Sicht werden drei Formen des Schreiens unterschieden: ● physiologisches Schreien: körperliche und emotionale
Bedürfnisse, zum Beispiel Hunger, nasse Windel, Zuwendung ● pathologisches Schreien: organische Ursachen, zum Beispiel eine akute Erkrankung ● unspezifisches Schreien: ohne erkennbare Ursache, kommt bei fast allen Säuglingen vor. Überschreitet das unspezifischen Schreien ein für die Kindseltern tolerierbares Mass, wird der Begriff «exzessives Schreien» verwendet. Dabei muss vor allem der Belastungsgrad der Bezugsperson bei der Diagnose des exzessiven Schreiens berücksichtigt und weniger starr an der weitverbreiteten Dreierregel festgehalten werden. Letztere wurde ursprünglich vor allem für wissenschaftliche Studien herangezogen (5). Sie definiert exzessives Schreien folgendermassen: Ein gesunder Säugling zeigt Unruhe, Quengeln oder Schreien ● während mehr als 3 Stunden am Tag ● an mehr als 3 Tagen pro Woche ● seit mehr als 3 Wochen. Die Schreiepisoden zeigen einen typischen Entwicklungsverlauf, beginnen zirka in der 2. Lebenswoche und nehmen dann sukzessive an Intensität zu. Der Schreigip-
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fel wird in der 6. bis 8. Lebenswoche erreicht und nimmt dann bis zum 3. Lebensmonat wieder ab. Dabei zeigt sich ein typischer tageszeitlicher Verlauf mit Schreiepisoden vor allem in den späten Nachmittags- und Abendstunden, seltener nachts und am Morgen. Die Aufklärung der Eltern über den benignen Verlauf dieses Schreiverhaltens bietet bereits eine enorme Entlastung. Bei einem nicht unerheblichen Anteil der Säuglinge persistiert das exzessive Schreien aber über den 3. bis 4. Lebensmonat hinaus, wobei gerade bei diesen Kindern eine ungünstige Entwicklungsprognose vermutet wird. Im Vergleich zu den Fütter- und Schlafstörungen hat die Persistenz des exzessiven Schreiens eine ungünstige Langzeitprognose (6) und scheint in der Folge oftmals mit sozialen, emotionalen und Verhaltensproblemen bis
Bei der Diagnose des exzessiven Schreiens muss vor allem der Belastungsgrad der Bezugsperson berücksichtigt und weniger starr an der weitverbreiteten Dreierregel festgehalten werden.
in die Adoleszenz verbunden zu sein (7). Dokumentiert sind Assoziationen mit klinisch relevanten externalisierenden Verhaltensproblemen (aggressives und oppositionelles Verhalten, Hyperaktivität und Störungen des Sozialverhaltens) sowie mit internalisierenden Problemen (Angst, Depression, sozialer Rückzug). Red flag: ● Dreierregel ● Belastungsgrad der Eltern ● exzessives Schreien länger als 4. Lebensmonat ● belastetes Familienumfeld mit wenig intra- und extra-
familiären Ressourcen.
Schlafstörungen
Für das Wohlergehen und die gesunde Entwicklung eines Kindes spielen Schlaf und Schlafrhythmus eine zentrale Rolle für die Kindseltern. Dabei besteht oftmals grosse Verunsicherung bezüglich Gesamtschlafdauer, wiederholten (nächtlichen) Aufwachens sowie Schlafhygiene und Schlaflatenz, was zu einem häufigen Konsultationsgrund beim begleitenden Arzt wird. Zeigen sich in der Untersuchung keine Hinweise für eine organische Ursache der Schlafprobleme, können auch in diesem Bereich die Kindseltern durch eine entsprechende Aufklärung und den Hinweis über den zumeist transienten Charakter der Probleme im Bereich der Schlaf-Wach-Regulation entlastet werden. Sollten ausgeprägte Schlafprobleme über den 6. Lebensmonat hinaus bestehen, stellen sie Beeinträchtigungen mit Krankheitswert dar, wobei sie sich je nach Alter unterschiedlich präsentieren und manifestieren. Dabei zeigen sich vor allem im ersten Lebensjahr eine fehlende Rhythmisierung und Strukturierung im Alltag mit einer Überschätzung des eigentlichen Schlafbedarfs als Ursache für Ein- und Durchschlafprobleme. Red flag: ● fehlende Rhythmisierung/Tagesstrukturierung auf-
grund von ● fehlenden Zeitgebern (Schlaf-, Wach-, Essens- und
Spielzeiten).
Fütterungsprobleme
Genauso wie Schlaf- und Schreistörungen bei gesunden Säuglingen zumeist transiente Phänomene darstellen, können auch beim Füttern vorübergehende Probleme auftreten und als normale Erscheinungen der Anpassung an neue Fütterungsmodi, neue Geschmacksrichtungen und neue Nahrungsmittelkonsistenzen interpretiert werden. Eine Fütterstörung liegt dann vor, wenn der Säugling oder das Kleinkind anhaltend Nahrung verweigert oder nur eine begrenzte Auswahl an Nahrungsmitteln akzeptiert und somit Wachstum und Gedeihen gefährdet sind. Gerade in diesem Bereich ist der Leidensdruck sehr hoch, vor allem bei stillenden Müttern, die oftmals dazu tendieren, den alleinigen Fehler bei sich zu suchen, mit dem Gefühl des Ungenügens und Versagens. Aus Angst um das Gedeihen des Kindes üben Eltern in der Folge beim Füttern Druck oder Zwang aus, was die Abwehr des Kindes noch verstärken kann. Fütterstörungen sind ernst zu nehmen und sollten in den Vorsorgeuntersuchungen aktiv vom Pädiater angesprochen werden, vor allem mit dem Wissen, dass chronifizierte Fütterstörungen im ersten Lebensjahr, insbesondere bei Beeinträchtigung des Gedeihens, schwerwiegende Folgen nach sich ziehen können: Beeinträchtigung der MutterKind-Interaktion, kognitive und soziale Beeinträchtigungen, Verhaltensauffälligkeiten und körperliche Erkrankungen (6). Red flag: ● anhaltende Fütterprobleme über einen Monat, es wird
häufiger als alle 2 Stunden gefüttert, und die einzelnen Mahlzeiten dauern länger als 45 Minuten (8) ● Schluck- und Kaustörungen, Sondenernährung, Frühgeburt ● Gedeihstörungen.
Fazit für die Praxis
Das Wissen über mögliche Warnsignale der psychomotorischen Entwicklung ist eine wichtige Voraussetzung, um Entwicklungsauffälligkeiten im ersten Lebensjahr erkennen, einordnen und somit von allfälligen Entwicklungsvarianten abgrenzen zu können. Dabei gilt es nicht nur die grosse Variabilität der kindlichen Entwicklung mithilfe quantitativer Messinstrumente von allfälligen Pathologien abzugrenzen, sondern auch in Relation zu qualitativen Untersuchungsbefunden zu setzen. Im Fokus steht dabei die Frage, ob weitere entwicklungsdiagnostische Massnahmen indiziert sind und welche entwicklungsbegleitende Therapie und Förderung einzuleiten sind, um Komorbiditäten und Langzeitschäden zu verhindern.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Mark Brotzmann Oberarzt Entwicklungspädiatrie Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB) Spitalstrasse 33 4031 Basel E-Mail: mark.brotzmann@ukbb.ch
Interessenlage: Der Autor deklariert, dass keine Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag bestehen.
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Literatur: 1. WHO Multicentre Growth References Study Group: WHO motor development study: Windows of achievement for six gross motor development milestones. Acta Pædiatrica 2006; Suppl 450: 86–95. 2. Berger R, Michaelis R: Entwicklungsneurologische Diagnostik des Kleinkindes und Kindes. Variabilität und Grenzsteine. Manuelle Medizin 2016; 54: 279–287. 3. Papousek M: Vom ersten Schrei zum ersten Wort: Die Sprache des Säuglings im Entwicklungskontext der Zwiesprache mit den Eltern. In: Brisch KH, Hellbrügge T (Hrsg.): Der Säugling – Bindung, Neurobiologie und Gene. Klett-Cotta Verlag 2015. 4. Michaelis R, Niemann G: Entwicklungsneurologie und Neuropädiatrie. Grundlagen und diagnostische Strategie. Georg Thieme Verlag, 2010. 5. Jenni O: Säuglingsschreien und Schlaf-Wach-Regulation. Monatsschrift Kinderheilkunde 2009; 6: 551–557. 6. Wurmser H: Schrei-, Schlaf- und Fütterungsstörungen. Prävalenz, Persistenz, Prädiktoren und Langzeitprognose. Monatsschrift Kinderheilkunde 2009; 6: 574–579. 7. Bron T et al.: Development of regulation disorders into specific psychopathology. Infant Mental Health Journal 2012; 33(2): 212–221. 8. von Hofacker N et al.: Regulationsstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter. In: Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (Hrsg): Leitlinien zu Diagnostik und Therapie psychischer Störungen im Säuglings-, Kindes- und Jugendalter. Deutscher Ärzteverlag, Köln, 2007; 357–378.
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