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SCHWERPUNKT
Zusammenarbeit im Kinderschutz
Interdisziplinär und interinstitutionell
Kinderschutzarbeit in Organisationen muss interdisziplinär sein, da die fachlichen Ressourcen einer Berufsgruppe alleine nicht ausreichend sind, um eine Kindswohlgefährdung zu beurteilen, eine Intervention zum Schutz eines misshandelten Kindes zu planen und durchzuführen und die weitere Betreuung des Kindes und seines Umfeldes zu organisieren. Zusammenarbeit im Kinderschutz ist auch zwingend eine interinstitutionelle Zusammenarbeit. In diesem Artikel wird das konkrete Vorgehen anhand von Fallbeispielen sowie speziell auch die Rolle der Kinderärztinnen und -ärzte erläutert.
Von Gabriela Kaiser
I m Zentrum der fachlichen und menschlichen Bemühungen im Kinderschutz stehen Kinder und Jugendliche sowie noch ungeborene Kinder, welche durch psychische, physische oder sexuelle Gewalt ausser- oder innerhalb der Familie Schaden erlitten haben oder deren Wohl und Entwicklung durch Verwahrlosung, Vernachlässigung, durch psychische Erkrankungen oder Suchtmittelabhängigkeit der Eltern gefährdet ist. Die Fachpersonen sind mit komplexen Problemstellungen konfrontiert, arbeiten im Hochrisikobereich sowie im Spannungsfeld zwischen Hilfe und Kontrolle; jeder Fall bringt beträchtliche Interessens- und Zielkonflikte mit sich. Kinderschutzarbeit in Organisationen bedingt eine interdisziplinäre und interinstitutionelle Zusammenarbeit. Gewachsene oder neu zu schaffende Vernetzungsstrukturen, anhaltendes Diskutieren über Haltungen und vertrauensvolle Arbeitsbeziehungen sind Voraussetzungen für einen effektiven Kinderschutz. Immer wieder müssen schwierige Entscheidungen getroffen werden. Diese dürfen nicht von Einzelnen getroffen werden. Die Bestimmung der Zusammenarbeitspartnerinnen und -partner sowie die Klärung der Verantwortlichkeiten sind von Anfang an sehr bedeutend. Der Weg zu einer Entscheidung bei einer bekannten oder vermuteten Kindswohlgefährdung erfolgt über eine prozesshafte Auseinandersetzung mit den involvierten Fachpersonen auf Augenhöhe. Diese Zusammenarbeit, auch die Zusammenarbeit mit den Klientinnen und Klienten, ist getragen von einer dialogisch-systemischen Grundhaltung. Diese findet ihre Begrenzung dort, wo zum Wohle des Kindes auch gegen den Willen der Eltern interveniert werden muss. Der Dialog setzt wieder ein, wenn der Schutz hergestellt ist und die Sicherung des Kindswohls gewährleistet ist.
OKey & KidsPunkt und das «Winterthurer Modell»
Seit ihren Anfängen im Jahr 1993 funktioniert die Fachstelle OKey & KidsPunkt als in dieser Form einzigartige Kooperation zwischen dem Kinder- und Jugendhilfezentrum Winterthur (kjz) und der Kinderklinik (Departement Kinder- und Jugendmedizin DKJ) des Kantonsspitals Winterthur (KSW); sie hat sich zu einer anerkannten Fachstelle für spezialisierten Kinderschutz entwickelt. Die Fachstelle berät Fachpersonen und ist selbst in der Fallführung aktiv. Kinder oder Jugendliche, welche vor Gewalt geschützt werden müssen, können vorübergehend in der Kinderklinik platziert werden, bis die Gewalt abgewendet oder eine Anschlussplatzierung gefunden ist. Die Fachstelle ist seit 1996 eine der im Kanton Zürich anerkannten Opferhilfeberatungsstellen, spezialisiert auf Kinder und Jugendliche, welche direkt von psychischer, physischer oder sexueller Gewalt betroffen sind oder welche Partnerschaftsgewalt zwischen ihren Eltern miterlebt haben. 2013 wurde die «Stiftung OKey – für das Kind in Not» als Trägerinstitution unserer Fachstelle gegründet. Die Stiftung plant als Erweiterung des stationären Kinderschutzangebotes der Kinderklinik eine Krisenwohngruppe in Winterthur. Das psychosoziale Team der Fachstelle OKey & KidsPunkt ist integraler Bestandteil der Kinderschutzgruppe, welche als partnerschaftliche Zusammenarbeit im Dreieck Stiftung OKey – kjz – DKJ zu denken ist. Regelmässig schätzt die Kinderschutzgruppe schwierige Fälle mit Gästen gemeinsam ein, gibt Empfehlungen ab, und Mitglieder der Fachstelle übernehmen je nach Situation eine aktive Rolle in der weiteren Fallbearbeitung. Die Gäste sind Kinderärztinnen oder Kinderärzte, aber auch niedergelassene Gynäkologinnen, Beistände, Sozialpädagoginnen oder -päd-
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Im Zweifelsfall ist der Kinderschutz höher als die Schweigepflicht zu bewerten.
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Eltern sollten vor der Gefährdungsmeldung die Chance haben, das Problem selbst zu lösen.
agogen aus dem ambulanten oder stationären Setting, Fachleute aus dem schulischen Bereich oder Mitarbeitende von Sozialberatungen und von Behörden. In der Kinderschutzgruppe ständig vertreten sind Fachpersonen aus den Bereichen Pädiatrie, Kinderund Jugendpsychiatrie und Pflege des DKJ sowie Vertreterinnen und Vertreter der Sozialarbeit und der Psychologie aus Jugend- und Familienberatung, Erziehungsberatung und dem Fachbereich frühe Kindheit des kjz Winterthur, eine Vertreterin des Instituts für Rechtsmedizin und eine Erwachsenenpsychiaterin. In Kinderschutzfällen rund um neugeborene Kinder von Eltern mit psychischen oder Suchterkrankungen arbeiten wir eng mit dem Departement Geburtshilfe und Gynäkologie des KSW, mit den zuständigen Sozialberatungen oder mit den Beiständinnen und Beiständen der (werdenden) Eltern zusammen. Wie diese Zusammenarbeit konkret aussehen kann, wird im Fallbeispiel 1 geschildert.
FALLBEISPIEL 1
Frau W. ist zum dritten Mal schwanger. Mit dem Vater des Ungeborenen lebt sie nicht zusammen. Ihre beiden ersten Kinder, zwei Töchter, sind bereits volljährig und wohnen nicht mehr zu Hause. Bei Frau W. wurde schon früh eine Lernbehinderung diagnostiziert; sie war nie erwerbstätig und ist deshalb von der Fürsorge abhängig. Ihre beiden Töchter fielen erst im Alter von 11 bis 13 Jahren durch schulische und Entwicklungsdefizite auf. Da Frau W. Hilfsangebote der Schule und der Jugendhilfe bereitwillig annahm, waren behördlich angeordnete Kinderschutzmassnahmen nicht notwendig. Frau W. freut sich nun über ihre späte dritte Schwangerschaft. Da Frau W. kognitiv auffallend schwach ist, grosse finanzielle Schwierigkeiten hat und ziemlich isoliert lebt, vernetzt sie die Gynäkologin des Ambulatoriums des KSW mit der Fachstelle OKey & KidsPunkt. Die Kinderärztin, welche sie seit 23 Jahren kennt, ist auf Anfrage der Fachstelle OKey & KidsPunkt bereit, für das dritte Kind ein «Case Management» zu übernehmen, also das Helfernetz aus städtischer Sozialberatung, Hebamme und Mütterberaterin zu koordinieren und für eine engmaschige und sorgfältige Begleitung der Mutter mit ihrem Baby zu sorgen. In einem Standortgespräch zwei bis drei Monate nach der Geburt, an welchem auch Frau W. teilnehmen wird, wird entschieden werden, ob die professionelle Begleitung von Frau W. weiterhin im freiwilligen Rahmen stattfinden kann. Frau W. ist informiert über die Angebote der Jugendhilfe und wird bei Bedarf später mit der Erziehungsberatung oder mit der Jugend- und Familienberatung vernetzt werden. Allenfalls wird eine aufsuchende sozialpädagogische Familienberatung eine Option sein. Sollten die ambulanten und aufsuchenden Angebote die erzieherischen Defizite der Mutter nicht ausreichend kompensieren, wäre eine Platzierung in einer Mutter-Kind-Institution oder – im schlimmsten Fall – eine Platzierung des Babys zu prüfen. Mit Sicherheit müsste die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB) eingeschaltet werden. Das Case Management durch die Kinderärztin ist besonders wichtig, da alle Beteiligten wissen müssen, an wen sie sich bei Sorgen um das Kindswohl wenden müssen und damit der Austausch über die gesundheitliche und psychosoziale Situation des Babys und später des Kleinkindes garantiert ist.
Dass die genannten Fachpersonen im Kinderschutz eng zusammenarbeiten müssen, leuchtet ein. Die Institutionalisierung der Zusammenarbeit in einer Kinderschutzgruppe erleichtert diese Zusammenarbeit wesentlich. Das «Winterthurer Modell» mit seiner langjährigen Kooperation zwischen Kinder- und Jugendhilfe (kjz), und Kinderklinik (des KSW) in Form der gemeinsam betriebenen Fachstelle OKey & KidsPunkt (seit drei Jahren organisatorisch und finanziell von der eigenständigen Stiftung «OKey – für das Kind in Not» betrieben) ist in seiner Art der interinstitutionellen Zusammenarbeit einzigartig. Durch den regelmässigen Austausch und die Verpflichtung zur Zusammenarbeit sind tragfähige Arbeitsbeziehungen entstanden; man kennt sich und vertraut einander; Wege werden kürzer. Über die Jahre ist ein Verständnis für die je anderen Fachrichtungen mit ihren eigenen Kulturen gewachsen, Berührungsängste sind abgebaut worden. Die Zusammenarbeit von Medizin, Pflege, Sozialarbeit, Psychologie und Pädagogik ist von gegenseitigem Interesse und Wertschätzung geprägt. Die Teams schätzen die Unterstützung und Entlastung in der Fallarbeit durch das Fachwissen der anderen Professionen und durch die geteilte Verantwortung. Haltungen und Standards müssen immer wieder neu ausgehandelt und definiert werden, was über die konkrete Fallarbeit, aber auch über Retraiten, Netzwerkund Weiterbildungsveranstaltungen geschieht. Die interdisziplinäre und die interinstitutionelle Zusammenarbeit müssen weiterentwickelt und bei Bedarf neu justiert werden. Ein vertrauensvolles Miteinander ist keine Selbstverständlichkeit, sondern bedarf einer bewussten Beziehungspflege.
Haltungen
Unsere Grundhaltung in dieser Zusammenarbeit ist eine systemisch-dialogische. Problemstellungen im Kinderschutz sind komplex und multifaktoriell begründet (wobei das Unbekannte als Variable miteinberechnet werden muss). Systemisches Denken will Probleme oder Situationen von verschiedenen Seiten mithilfe verschiedener Methoden beleuchten und prozesshaft zu Einschätzungen und Lösungen kommen. Diese müssen bei Bedarf, falls sich Ausgangslage oder Zustand des Problems verändert haben, angepasst werden. Eine systemische Sichtweise versucht, Individuen in ihrer Einzigartigkeit und in ihren vielfältigen Bezügen zum familiären und sozialen Umfeld zu verstehen, und schliesst Umgebungsfaktoren in Einschätzungen und Handlungspläne mit ein. Fachleute verschiedener Professionen arbeiten zusammen, definieren im Prozess der Zusammenarbeit ihre verschiedenen Rollen und Aufgaben und klären die Verantwortlichkeiten und allenfalls das Case Management. Die Arbeit im Hochrisikobereich bedarf permanenter Reflexion und Überprüfung. Ein wichtiger Aspekt einer hohen Arbeitsqualität ist ein gelingender Dialog, an welchem andauernd gearbeitet werden muss.
Datenschutz und Schweigepflicht
Kinderärztinnen und Kinderärzte untersuchen und behandeln ihre minderjährigen Patientinnen und Patien-
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ten im Auftrag von deren Eltern und sind an ihre ärztliche Schweigepflicht gebunden. Im besten Fall sind sie informiert über allfällige Beratungs- und Unterstützungsmassnahmen, welche eine Familie zum Wohle ihrer Kinder in Anspruch nimmt, oder haben diese selber eingeleitet. Erlauben Eltern einen offenen Austausch im Helfernetz, kommt dieser den Kindern zugute. Bei Verdacht auf eine Kindswohlgefährdung, zum Beispiel auf körperliche Gewalt oder sexuelle Übergriffe, wird es schnell heikel – im Zweifelsfall ist in der Güterabwägung zwischen Einhalten der Schweigepflicht und Kinderschutz letzterer höher zu gewichten. Soweit wie möglich wird man Sorgen den Eltern gegenüber offen ansprechen. Manchmal bringt man aber gerade dadurch Kinder in Gefahr und muss beispielsweise erst weitere Abklärungen treffen. Dann ist es allenfalls notwendig, sich mit anderen Fachleuten zu vernetzen und mit diesen offen über Gefährdungen zu reden und diese einzuschätzen. Eine Kinderärztin, welche sich Sorgen um die psychosoziale Gesundheit eines Patienten macht, darf sich über mögliche Vorgehensweisen auch zuerst anonym beraten lassen. Um Kindswohlgefährdungen abzuwenden, helfen oft freiwillige Unterstützungsmassnahmen wie zum Beispiel Erziehungsberatungen. Was, wenn Eltern darauf nicht einsteigen wollen und sich die Situation für das Kind nicht verbessert? Können Kinderärztinnen oder -ärzte Gefährdungen nicht abwenden, geraten sie in Konflikt zwischen ihrer Bemühung, Kinder, Eltern, Familien zu unterstützen, und der Notwendigkeit, möglicherweise eine Gefährdungsmeldung an die Kindesund Erwachsenenschutzbehörde zu machen. In einer Kinderschutzgruppensitzung wird eingeschätzt, wer im Helfernetz, so denn ein solches besteht, bevorzugt eine Meldung macht und bei wem die Verantwortung dazu liegt. Sind Eltern konfrontiert mit einer Gefährdungsmeldung, reagieren sie oft mit Wut, Enttäuschung, Vorwürfen und wechseln den Kinderarzt. Vor einer Meldung muss also sorgfältig abgewogen werden, wer die Arbeitsbeziehung zum Familiensystem aufs Spiel setzen kann und auch, ob und wie über eine Meldung gesprochen werden kann. Wo immer möglich, sollte man Eltern vorgängig über eine Meldung informieren und die Gründe für diese sorgfältig erklären. Eltern sollten vorher die Möglichkeit gehabt haben, selbst für Abwendung der Kindswohlgefährdung zu sorgen. Besteht eine unmittelbare Gefährdung für ein Kind, muss sofort gehandelt werden (Fallbeispiel 2). Entdeckt eine Kinderärztin oder ein Kinderarzt bei sich in der Praxis Verletzungsspuren, welche an Gewalteinwirkung denken lassen, oder machen Kinder entsprechende Angaben, werden sie in aller Regel in die nächste Klinik zur genaueren Befundaufnahme gebracht; das Kind bleibt in der Klinik in Sicherheit. Je nach Schweregrad der Verletzungen erfolgt eine Strafanzeige oder die Eltern werden mit dem Verdacht auf Misshandlung mit den Aussagen des Kindes und den dokumentierten Spuren konfrontiert. Kinderschutzleitfäden für Kinderkliniken geben hierzu detaillierte Handlungsanweisungen.
FALLBEISPIEL 2
Der 11-jährige Samuel wird von der Schulsozialarbeiterin zum Kinderarzt im Dorf gebracht. Samuel hat zwei auffallende, verfärbte Schwellungen am linken Oberschenkel, erzählt, der Vater habe ihn mit dem Gürtel geschlagen und er habe Angst, nach Hause zu gehen. Der Kinderarzt schickt Samuel in die Kinderklinik, wo er vorübergehend hospitalisiert wird. In der Klinik finden während fünf Tagen mehrere Gespräche mit den Eltern alleine, mit Samuel und mit der ganzen Familie statt. Die Schule reicht eine Gefährdungsmeldung bei der KESB ein. Da die Eltern glaubhaft versichern können, sie würden in Zukunft nicht mehr schlagen und da Samuel unbedingt wieder nach Hause zurückkehren möchte, wird der Junge entlassen. Nach einer Abklärung der familiären Verhältnisse durch die zuständige Jugend- und Familienberatung erhalten die Eltern eine Weisung der KESB bezüglich professioneller Erziehungsberatung und regelmässiger Kontrollen in grösser werdenden Abständen beim Kinderarzt während eines Jahres. Samuel, welchem die Kontrollen in der Praxis erst peinlich sind, nutzt schliesslich die Konsultationen, um mit dem Kinderarzt über seine Schulschwierigkeiten (ungenügende Leistungen in zwei Fächern einerseits, Hänseleien durch Mitschüler andererseits) zu sprechen. Der Junge erlaubt dem Arzt, mit seinen Eltern zu sprechen, welche mit ihrem Sohn zusammen ein Gespräch mit der Lehrerin und der Schulsozialarbeiterin führen.
FALLBEISPIEL 3
Eine alleinerziehende Mutter von zwei Jungen im Kindergarten- respektive im Vorschulalter fällt in der Kinderarztpraxis durch einen eher rauen Umgangston mit ihren Kindern auf. Diese verwandeln das Wartezimmer gemäss Kinderarzt innert Minuten in ein Schlachtfeld. Die Mutter kommt sehr oft auch aus nichtigem Anlass in die Praxis, scheint kräftemässig eher am Anschlag und in der Erziehung überfordert zu sein. Es gelingt nicht, die Mutter mir der Erziehungsberatung zu vernetzen. Der Kinderarzt bespricht die Situation telefonisch mit einer Mitarbeiterin unserer Beratungsstelle. Er macht sich inzwischen ernsthafte Sorgen um die Entwicklung vor allem des jüngeren Kindes. Praktisch zeitgleich meldet sich bei uns die Schulleitung: Der ältere Junge berichte von gelegentlichen Schlägen durch die Mutter und davon, dass sie ihn oft anschreie. Auch sind im Kindergarten gewisse Verwahrlosungstendenzen aufgefallen. Die Schule lässt sich an einer Helfersitzung mit unserer Stelle bezüglich des weiteren Vorgehens beraten. Wir planen ein Offenlegungsgespräch im Kindergarten in Anwesenheit der Schulleitung und unserer Stelle. Der Kinderarzt legt nicht offen, dass er mit uns gesprochen hat, da wir alle daran interessiert sind, dass er Mutter und Kinder weiterhin begleiten kann. Die Schule verfügt über genügend Informationen, um auf einer Vernetzung mit der Jugend- und Familienberatung zu bestehen. Die Mutter hat sich darauf schliesslich eingelassen, auch im Wissen, dass ansonsten die Schule eine Gefährdungsmeldung an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde eingereicht hätte. Der Kinderarzt thematisiert in seiner Praxis die auffallende Unruhe der Kinder und die Gereiztheit der Mutter. Diese erzählt ihm von sich aus von den Gesprächen in der Schule und in der JFB. Die Jugend- und Familienberatung (JFB) empfiehlt später eine kinderpsychiatrische Abklärung des älteren Jungen, welche durch den Kinderarzt in Auftrag gegeben wird.
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SCHWERPUNKT
Manchmal hilft Rollenteilung: Einer konfrontiert, ein anderer bietet Hilfe an.
Doppeltes Mandat
Alle im Kinderschutz Tätigen sind bei fast jedem Kinderschutzfall konfrontiert mit dem «doppelten Mandat» im Kinderschutz: Unterstützung für Familien auf der einen, Intervention und Kontrolle auf der anderen Seite. Manchmal hilft in der Bewältigung dieses Dilemmas eine Rollenteilung im Helfernetz. Dazu müssen die Aufgaben und Rollen der jeweiligen Fachpersonen genau definiert werden und dann arbeitsteilig entsprechend angepasst werden. So ist es von Vorteil, wenn mindestens zwei Fachpersonen aus zwei Institutionen gemeinsam schwierige Gespräche mit Eltern führen. Die eine Person konfrontiert, die andere bietet Unterstützung an (Fallbeispiel 3). Eine Person erklärt, dass bei Nichtkooperation beispielsweise das Kind nicht nach Hause kommen darf oder eine Meldung an die Behörde erfolgen wird, die andere geht eher emotional auf die Eltern ein, verbalisiert deren Ängste, ihr Kind zu verlieren.
Verdacht auf sexualisierte Übergriffe unter Kindern
Kinderärztinnen und -ärzte sind für Eltern, welche sich Sorgen machen, ihr Kind könnte durch übergriffiges Verhalten anderer Kinder Schaden genommen haben, oft erste Ansprechpersonen, welche wichtige Weichen stellen. Bagatellisieren soll ebenso vermieden werden wie Dramatisieren. Pädiaterinnen und Pädiater brauchen ein Wissen über die sinnliche und sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen, über «normales» Spielverhalten und über aktuelle Trends aus dem Umfeld der Kinder, zum Beispiel aus der Welt der Medien. In Verdachtsfällen muss unterschieden werden zwischen altersadäquatem sinnlichem Spiel, in welchem – wie in jedem Spiel – bestimmte Regeln gelten. Auffällig wird das Spiel, wenn zwischen einzelnen Kindern durch einen markanten Alters- und/oder Entwicklungsunterschied ein Machtgefälle herrscht, wenn ein oder mehrere Kinder sehr fixiert sind auf sexualisierte oder genitale Spiele, sich also kaum mehr ablenken lassen davon, wenn Druck oder Gewalt ausgeübt, Drohungen ausgesprochen werden. Aufmerksam werden sollte man zudem bei Handlungen, die dem kindlichen Entwicklungshorizont als fremd erscheinen. Regeln werden im privaten Rahmen andere sein als in einer Kindertagesstätte oder im Kindergarten und müssen der jeweiligen individuellen Situation ange-
passt sein. Es muss unterschieden werden zwischen Grenzen verletzendem Verhalten, welches nicht nur bei «Doktorspielen» (sondern im kindlichen Spiel überhaupt) vorkommt und nach pädagogischem Handeln verlangt, und zwischen auffällig sexualisiertem, Regeln und Grenzen verletzendem Verhalten, welches Gespräche mit Eltern, allenfalls unter Einbezug von Vorgesetzten und Fachstellen, verlangt. Besteht begründeter Anlass zu Sorgen, braucht ein Kind psychiatrische und/oder sozialpsychologische Abklärungen, braucht die Familie Beratung und Unterstützung. Kinder können sich, je nach Alter, Temperament oder Vorgeschichten durch sinnliche oder sexualisierte Spiele gestört fühlen und dadurch stark verunsichert werden. Diese Kinder und ihre Eltern sollen ebenfalls bei geeigneten Fachstellen Unterstützung erhalten. Ab zehn Jahren sind Kinder strafmündig. Sexuelle Übergriffe von Jugendlichen auf andere Jugendliche oder auf Kinder müssen sowohl aufseiten der Opfer als aufseiten der Täter sehr ernst genommen werden. Sowohl Schutz und Beratung für die Opfer und deren Angehörige als auch die Abklärung der Täter und allenfalls Sanktionen der Taten (im Sinne von Bewusstwerden, Therapie und Prävention) müssen aufgegleist werden. Letzteres ist nicht in jedem Fall, aber oft nur im Rahmen einer Strafermittlung möglich. Eltern fragen möglicherweise auch ihren Kinderarzt oder ihre Kinderärztin, wie sie mit ihrem Kind über Sexualität sprechen können und wie sie es vor sexuellen Übergriffen schützen können. Psychosexuelle Bildung – verstanden als ein kontinuierlicher Prozess im Erziehungsalltag – und Prävention von sexuellen Übergriffen gehören sowohl in den privaten wie auch in den öffentlichen Raum. Elternhaus, Schule und Ärzteschaft müssen gemeinsam dafür Verantwortung übernehmen. Auf Widerstände, welche auf religiösen oder kulturellen Tabus oder Empfindlichkeiten beruhen, muss eingegangen werden, aber nicht im Sinne einer falschen Anpassung. Diese stünde im Widerspruch zum Recht des Kindes auf Bildung, Selbstbestimmung und Schutz vor Gewalt.
Korrespondenzadresse: Gabriela Kaiser Fachstelle OKey & KidsPunkt Kinderklinik Kantonsspital Winterthur Brauerstrasse 15 8401 Winterthur E-Mail: gabriela.kaiser@okeywinterthur.ch
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