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SCHWERPUNKT
Wird das Kind sexuell missbraucht?
Glaubhaftigkeitsbegutachtung von Kindern
Bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch ihres Kindes suchen Eltern häufig bei Kinderärzten Rat. In diesem Beitrag wird neben den Grundlagen der Glaubhaftigkeitsbegutachtung erläutert, worauf Ärzte achten können, wenn sie mit diesem Verdacht konfrontiert werden.
Von Revital Ludewig1,2, Sonja Baumer1,2 und Kurt Albermann2,3
Die polizeiliche Kriminalstatistik der Schweiz registrierte für das Jahr 2016 insgesamt 1230 Straftaten mit sexuellen Handlungen an Kindern. Es ist wohl von einer höheren Dunkelziffer auszugehen, da nicht alle Fälle sexueller Übergriffe den Strafverfolgungsbehörden zugetragen werden. In einer deutschen Studie aus dem Jahr 2011 gaben 6,4 Prozent der weiblichen Befragten und 1,3 Prozent der männlichen Befragten an, vor ihrem 16. Lebensjahr mindestens einen sexuellen Übergriff mit Körperkontakt erlebt zu haben (1). In der Schweizer Optimus-Studie gaben sogar 21,7 Prozent der Mädchen und 8,1 Prozent der Jungen zwischen 15 und 17 Jahren an, bereits einmal Opfer eines sexuellen Übergriffs mit Körperkontakt geworden zu sein (2). Auf der anderen Seite gilt es zu beachten, dass nicht alle eingereichten Strafanzeigen Fälle darstellen, in denen tatsächlich sexueller Missbrauch stattgefunden hat (2a). Ein Glaubhaftigkeitsgutachten wird erstellt, wenn keine eindeutigen Beweise für den Missbrauch vorliegen. Grundsätzlich gilt, dass es nur sehr wenige beweisende körperliche Befunde bei sexuellem Missbrauch gibt und die Mehrzahl der Befunde im Anogenitalbereich nur von eingeschränkter Beweiskraft ist (3). In der Regel liefern weder körperliche Symptome noch Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern spezifische Hinweise auf sexuellen Missbrauch (4).
Unspezifische Auffälligkeiten
Der Verdacht auf sexuellen Missbrauch bei Kindern entsteht häufig: • wenn das Kind einer Drittperson gegenüber in all-
gemeiner Form von Aspekten berichtet, die einen Bezug zu einem erlebten sexuellen Missbrauch haben könnten oder/und • wenn ein Erwachsener beim Kind körperliche Symptome oder Verhaltensauffälligkeiten beobachtet, die für ihn den Verdacht auf sexuellen Missbrauch nahelegen.
Unspezifische Auffälligkeiten im Verhalten von Kindern, wie zum Beispiel Ängste, Wutanfälle, Bettnässen, Leistungsabfall oder Konzentrationsschwierigkeiten, werden dann als Verdachtsmomente für einen sexuellen Missbrauch gedeutet. Dabei belegen zahlreiche wissenschaftliche Studien, dass missbrauchte Kinder zwar häufiger verschiedene Verhaltensauffälligkeiten entwickeln als nicht missbrauchte Kinder, es aber keine Verhaltensauffälligkeiten gibt, die spezifisch für das Erleben eines sexuellen Missbrauchs sind. An dieser Stelle soll zudem darauf hingewiesen werden, dass zirka 40 Prozent der missbrauchten Kinder keine Verhaltensauffälligkeiten aufweisen (5). Auch das Interesse des Kindes an Sexualität, sexuelle Verhaltensäusserungen und sexuelles (Spiel-)Verhalten, zum Beispiel Berührung des eigenen Körpers, Interesse an den eigenen Geschlechtsteilen oder Geschlechtsteilen anderer, sexuelle Spiele mit Puppen oder Einführung von Objekten in Vagina oder Anus dürfen nicht als spezifische Hinweise für das Erleben eines sexuellen Missbrauchs gedeutet werden (6–8). Ob ein bestimmtes Verhalten als sexuell und altersinadäquat eingestuft wird oder nicht, hängt nicht zuletzt in hohem Masse von subjektiven Moralvorstellungen der Erwachsenen ab (8a, 8b); bei fehlendem Fachwissen kann vorschnell ein sexueller Missbrauch angenommen werden.
Falsch negativ? Falsch positiv?
Häufig befindet sich der Kinderarzt in einem moralischen Dilemma: Ein besorgter Elternteil berichtet ihm von seinem Verdacht, oder der Arzt selbst hält den sexuellen Missbrauch des Kindes für möglich. Wendet er sich nun an die Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB), wird daraus ein «Fall», und das Verfahren nimmt seinen Lauf. Dem Kind könnte mit der Meldung an die KESB geholfen werden – falls sich der Verdacht bewahrheitet. Was aber, wenn sich der Verdacht als unbegründet herausstellt? Das Übersehen eines tatsächlich vorliegenden sexuellen Missbrauchs ist zweifelsohne ein folgenschwerer
Es gibt keine spezifischen Verhaltensauffälligkeiten bei sexuellem Missbrauch.
1 Fachstelle Begutachtung, Therapie, Familienrecht am sozialpädiatrischen Zentrum (SPZ), Kantonsspital Winterthur 2 Kompetenzzentrum für Rechtspsychologie, IRP, Universität St.Gallen 3 Sozialpädiatrisches Zentrum (SPZ), Kantonsspital Winterthur
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SCHWERPUNKT
Insistierendes Nachfragen kann die Aussage des Kindes verfälschen.
Fehler (false negative). Genauso gilt es aber, den umgekehrten Fall zu vermeiden, nämlich die fälschliche Annahme eines sexuellen Missbrauchs. Denn auch die fälschliche Annahme eines Missbrauchs hat negative Konsequenzen: für das Kind, weil es möglicherweise den Kontakt zu einer wichtigen Bezugsperson verliert, und für die beschuldigte Person, weil sie zu Unrecht bestraft wird (false positive) (6). Ziel des gutachterlichen Prozesses ist es, beide Fehler möglichst zu vermeiden, indem ein realer Missbrauch korrekt erkannt (true positive) oder ein falscher Missbrauchsvorwurf abgelehnt wird (true negative). Die im Folgenden geschilderten aussagepsychologischen Untersuchungsmethoden bieten eine Grundlage für eine korrekte Entscheidung.
Befragung des Kindes
Die Aussage des Kindes ist das wichtigste Material im Strafverfahren bei einem Verdacht auf sexuellen Missbrauch. Die Befragung muss von Fachspezialisten durchgeführt werden. Wird Anzeige wegen sexuellen Missbrauchs erstattet, erfolgt eine Befragung des Kindes durch Spezialisten der Polizei (7). Das Gericht kann das Kind ebenfalls befragen oder einen Sachverständigen zurate ziehen (8). Das Kind wird in der Regel zweimal befragt, wobei zwei Befragungen von den Spezialisten der Polizei erfolgen können oder eine Befragung von der Polizei und eine gutachterliche Exploration im Rahmen der Begutachtung. Die Befragungen des Kindes, die jeweils auf Video aufgenommen und auch verschriftlicht werden, dienen als Grundlage für das Strafverfahren sowie als Grundlage für die aussagepsychologische Analyse im Rahmen der Begutachtung. Das Vorgehen, wonach ein Sachverständiger im Auftrag des Gerichts oder der Staatsanwaltschaft eine Exploration mit einem Kind im Rahmen der Begutachtung durchführt, wird in der Praxis immer häufiger angewendet und ist rechtlich verankert. Neben der Exploration mit dem Kind kann der Sachverständige auch gutachterliche Explorationen mit Bezugspersonen des Kindes zur Entstehung und Entwicklung der Aussage durchführen (9, 10). Teilweise werden die gutachterlichen Explorationen in den Räumen des Ge-
Kasten 1: Was versteht man unter Suggestion?
Unter Suggestion versteht man jede Form der Beeinflussung, durch die eine Person Informationen übernimmt, welche ihr durch Gespräche, Befragungen oder nachträgliche Informationen übermittelt worden sind. Die Forschung über die Entstehung und Auswirkung von Suggestionen ist seit den 1990er-Jahren sehr umfassend und gehört zum Bereich der Gedächtnispsychologie. Dabei zeigte sich, dass die Techniken der sogenannten Aufdeckungsarbeit beim Verdacht auf sexuellen Missbrauch viele suggestive Elemente umfassen. Bei suggestiver Einflussnahme handelt es sich in der Regel nicht um direkte Indoktrinationen. Bei Kindern können bereits bestimmte Fragestellungen eine suggestive Wirkung enthalten, und zwar ohne dass der Befrager (z.B. Eltern, Polizei) dies beabsichtigt. Schon das wiederholte Nachfragen zu gleichen Sachverhalten durch eine erwachsene Person kann bei einem Kind eine suggestive Wirkung haben, ohne dass das Suggerierte direkt in den Frageinhalten vorgegeben wird. Mit gezielten Fragen und irreführenden Informationen lassen sich falsche Gedächtnisinhalte implantieren, wie bereits in den 1990erJahren durch Untersuchungen der amerikanischen Gedächtnisforscherin Elizabeth Loftus erstmals nachgewiesen werden konnte.
richts oder bei der Staatsanwaltschaft durchgeführt (11). Liegen zur Bearbeitung einer Glaubhaftigkeitsbeurteilung lege artis durchgeführte Befragungen der Zeugen vor, muss ein Gutachter nicht zwingend selbst explorieren (8).
Beeinflussung durch Dritte
Die Anwesenheit Dritter bei der Befragung eines Kindes kann die Aussage des Kindes beeinflussen. Dies vor allem, wenn das Kind schon über die vermeintlichen Geschehnisse mit dieser Person gesprochen hat und in deren Anwesenheit nicht von seiner einmal getätigten Aussage abzurücken vermag (9, 11). Folgendes Fallbeispiel verdeutlich das Problem: Der 5-jährige Michael hatte seiner Mutter nach dem Wochenendbesuch beim Vater und seiner neuen Partnerin berichtet, dass der Vater ihn beim Duschen unangenehm und stark an Po und Penis berührt habe, weshalb er beim Vater nicht duschen wolle. Wenn nun die Mutter bei der Befragung von Michael anwesend ist, kann nicht ausgeschlossen werden, dass er bestimmte Antworten nur gibt, um die Mutter zufriedenzustellen.
Keine Suggestivfragen!
Bei der Befragung des Kindes sollen möglichst wenige Ja-Nein-Fragen gestellt werden, sondern vor allem offene Fragen, die wenig Suggestionspotenzial enthalten (10). Die Fragen sollten zuerst allgemeiner Natur sein und dann immer spezifischer werden («Trichtertechnik»). Ein besonders häufiger Fehler ist, dass dem Kind mit der Fragestellung unbewusst neue Detailinformationen gegeben werden, die vom Kind selbst zuvor nicht erwähnt wurden. Das Risiko ist hoch, dass solche Informationen vom Kind aufgenommen und anschliessend als erlebt berichtet werden (7). Darum sollen beispielsweise Erwartungsfragen vermieden werden, die Suggestionen enthalten können (z.B.: «Und nachdem er dich unten angefasst hat, hast du die Wohnung gleich verlassen?»). Auch mehrfaches Nachfragen birgt das Risiko der Suggestion. Typische Beispiele hierfür sind Fragen wie: «Bist du wirklich sicher?», «Sagst du auch wirklich die Wahrheit?» oder «Das stimmt doch nicht ganz. Erzähle es noch einmal, aber dieses Mal richtig.» Die Überlegung, dass Kinder, wenn sie mehrfach gefragt werden, ihre Aussage verändern und anpassen können, ist besonders zu berücksichtigen, wenn das Kind durch die Befragung Inhalte über einen sexuellen Missbrauch bestätigt und ergänzt, nachdem es diese zuerst verneint hat (z.B. wenn ein Kind nach mehrfacher Verneinung später aufgrund insistierenden Nachfragens seitens der befragenden Person seine Aussage anpasst und sexuelle Handlungen bejaht). Derartiges Nachfragen kann ein Kind veranlassen, etwas zu erzählen, was es womöglich gar nicht erlebt hat.
Beurteilung der Glaubhaftigkeit
Die psychologische Untersuchungsfragestellung lautet: «Könnte dieses Kind mit den gegebenen individuellen Voraussetzungen unter den gegebenen Befragungsumständen und unter Berücksichtigung der im
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konkreten Fall möglichen Einflüsse von Dritten diese spezifische Aussage machen, ohne dass sie auf einem realen Erlebnishintergrund basiert?» (6) Der Begutachtungsprozess stellt eine systematische, wissenschaftliche Hypothesenprüfung dar (10, 12). Es sollen grundsätzlich immer verschiedene Hypothesen systematisch überprüft werden, um die Gefahr einer einseitigen oder auf Voreingenommenheit basierenden Analyse zu minimieren. Zu prüfen sind konkret: • die Hypothese, dass der sexuelle Missbrauch erleb-
nisbasiert ist (berechtigter Vorwurf); • die Suggestionshypothese beziehungsweise die
Hypothese einer irrtümlichen Falschbezichtigung (z.B. aufgrund falscher Deutung kindlicher Äusserungen und/oder Verhaltensweisen) und • die Hypothese einer absichtlichen Falschbezichtigung. In der modernen Aussagepsychologie wird bei der Differenzierung zwischen wahren Schilderungen und absichtlichen Falschbezichtigungen der inhaltsanalytische Ansatz benutzt. Mithilfe dieser Methode wird geprüft, ob die Aussage eines Kindes bestimmte Aspekte enthält, die für einen hohen Wahrheitsgehalt der Schilderung sprechen. Die merkmalsorientierte Inhaltsanalyse basiert auf der Annahme, dass das Produzieren einer Aussage eine kognitive Leistung ist: • Bei einer erlebnisbasierten, wahren Aussage besteht die Aufgabe darin, ein tatsächlich erlebtes Ereignis anhand der erinnerten Gedächtnisinhalte zu schildern. • Sagt ein Zeuge bewusst falsch aus, muss er einerseits mithilfe kognitiver Schemata ein Ereignis – das er nicht erlebt hat – konstruieren beziehungsweise erfinden und andererseits beim Lügen besonders darauf bedacht sein, bei seinem Gegenüber möglichst glaubwürdig zu erscheinen, wozu er verschiedene Strategien anwendet (sog. strategische Selbstdarstellung) (10, 12, 14). Aufgrund der genannten Herausforderungen ist die Produktion einer Falschaussage für einen Zeugen deutlich anspruchsvoller als in Form einer wahren Aussage über etwas tatsächlich Erlebtes zu berichten. Falls ein Kind tatsächlich Opfer eines sexuellen Missbrauchs geworden ist, schildert es im Rahmen der Befragungen somit ein Geschehen, das es persönlich wahrgenommen und in seiner Erinnerung gespeichert hat: Es hat visuelle Erinnerungen an das Ereignis, die räumliche und zeitliche Lokalisationen enthalten (zuerst geschah dies, dann passierte das und gleichzeitig auch noch jenes). Die Erinnerung enthält auch auditive (das Kind hat etwas gehört), taktile (es hat etwas gespürt) und olfaktorische Aspekte (es hat etwas gerochen). In einer ereignisspezifischen Repräsentation kann das Kind deshalb detailliert über das Ereignis beziehungsweise den sexuellen Missbrauch berichten. Aufgrund dieser Prozesse wird erwartet, dass Aussagen mit Erlebnishintergrund eine höhere inhaltliche Qualität aufweisen als Erfindungen. Diese Annahme führte zum Konzept der «Realkennzeichen». Dies sind Qualitätsmerkmale einer Aussage, anhand deren eine Differenzierung zwischen erlebnisbasierten und erfundenen (bzw. verfälschten) Aussagen möglich ist.
Die Realkennzeichen wurden in zahlreichen Studien als sinnvolle Kriterien für die Unterscheidung zwischen erlebnisbegründeten und erfundenen Schilderungen bei Kindern und Erwachsenen wissenschaftlich bestätigt (12). Um eine Inhaltsanalyse (mithilfe der Realkennzeichen) im Rahmen der aussagepsychologischen Begutachtung durchführen zu können, ist es erforderlich, dass die Aussagen objektiv dokumentiert sind (z.B. Videoaufnahmen und Wortprotokolle der Einvernahme).
Kompetenzanalyse
Schlussfolgerungen erlaubt die Analyse der Realkennzeichen jedoch erst unter Berücksichtigung des Alters, der kognitiven Fähigkeiten und der sozialen Kenntnisse. Zu Beginn der Glaubhaftigkeitsbeurteilung erfolgt deshalb die Kompetenzanalyse, in der die Fähigkeiten des Zeugen umfassend ermittelt werden. Nur wenn diese spezifischen Kompetenzen des Zeugen ermittelt werden, kann die Qualität einer Aussage korrekt und zuverlässig beurteilt und eine Schlussfolgerung daraus gezogen werden, ob der Aussagende in der Lage gewesen wäre, die Aussage in der vorliegenden Qualität zu erfinden. Die Kompetenzanalyse ist daher eine Voraussetzung für die Analyse der Glaubhaftigkeit der konkreten Aussage eines Zeugen. Bei Kindern wird im Allgemeinen davon ausgegangen, dass sie ab einem Alter von vier Jahren in der Lage sind, ein Erlebnis, das sie «beeindruckt und womöglich körperlich betroffen hat, im Wesentlichen verständlich zu schildern» (10).
Suggestion oder Realität?
Mit der Prüfung der Realkennzeichen im Rahmen der merkmalsorientierten Inhaltsanalyse ist der Prozess der Glaubhaftigkeitsbeurteilung aber noch nicht abgeschlossen, denn suggerierte und reale Aussagen unterscheiden sich nicht zwingend in ihrer Qualität. Sie unterscheiden sich jedoch zwingend in ihrem Verlauf über
Anhand der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Aussage können suggestive Einflüsse erkannt werden.
Kasten 2: Die Macht der Suggestion – ein Fallbeispiel
Die 9-jährige Irene-Melanie ist neu in der dritten Klasse bei Lehrer Peter P. Nach dem Skilager ist sie sehr müde, in der Nacht nässt sie ein. Am darauffolgenden Tag schreit sie, wenn man etwas von ihr will. Die Mutter kann sich dieses Verhalten nicht erklären und vermutet einen Zusammenhang mit sexuellen Handlungen durch den Lehrer Peter P. Sie stellt dem Kind diesbezüglich wiederholt Fragen, welche das Kind zunächst konstant verneint. In den darauffolgenden Monaten erzählt das Mädchen jedoch immer mehr und mit steigender Überzeugung und viel Fantasie von Erlebnissen mit dem Lehrer Peter P. Sie erzählt unter anderem, ihr Lehrer und sie seien mehrmals mit Perücken verkleidet einkaufen gegangen und sie habe von ihrem Lehrer Peter P. Spritzen ins Bein erhalten. Weiter habe sie von Peter P. verschiedene Sorten von Tropfen bekommen und eingenommen: Schlaftropfen, Glückstropfen und Vergessenstropfen. Sexuelle Handlungen werden von Irene-Melanie nicht erwähnt. Aus der Sicht der Mutter zeigte das Mädchen zudem «Verhaltensauffälligkeiten». Ihre Tochter verwende zum Teil heftige Ausdrücke. Einmal habe Irene-Melanie der Mutter auch die Hand weggeschlagen, als diese ihr während der Hausaufgaben über den Kopf gestrichen habe. Als sie, die Mutter, ihre Tochter deswegen zur Rede gestellt habe, habe Irene-Melanie ihr Tun damit gerechtfertigt, dass sie das nicht möge, weil ihr Lehrer dies auch mache. Die Mutter habe darauf von Irene-Melanie verlangt, alles aufzuschreiben, was mit Peter P. vorgefallen sei. Ein paar Wochen später habe Irene-Melanie aufgeschrieben, Peter P. habe ihr zwischen die Beine gefasst.
Die Namen der Beteiligten wurden anonymisiert.
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SCHWERPUNKT
die Zeit hinweg. Um eventuelle
suggestive Bedingungen zu er-
kennen, ist die Analyse der Ent-
stehungs- und Entwicklungsge-
schichte der Aussage also
unumgänglich. Deshalb sind die
Aussagen von Kindern im Rah-
men einer Suggestionsanalyse
immer auf suggestive Einflüsse
hin zu untersuchen (s. Kasten 1).
Die zentrale Frage in diesem
Analyseschritt ist: «Berichtet
der Zeuge aufgrund von Sugges-
tionseffekten möglicherweise
subjektiv wahre, aber objektiv
nicht zutreffende Schilderun-
gen?»
Der Wahrheitsgehalt einer Aus-
sage kann grundsätzlich nur
beurteilt werden, wenn ihr Zu-
standekommen bekannt ist,
das heisst, wenn man weiss, in
welchem Zusammenhang die
Aussage des Zeugen entstand.
Dabei wird nicht nur geklärt,
unter welchen Umständen die
erste Aussage gemacht wurde,
sondern es werden auch alle
weiteren Gespräche, in denen
Abbildung: Prozess der Glaubhaftigkeitsbeurteilung (4)
das angebliche Ereignis von/gegenüber/mit dem Kind
thematisiert wurde, sowie mög-
liche suggestive Einflüsse im
Rahmen der Befragung überprüft.
Als «Geburtsstunde» der Aussage gilt die erste The-
matisierung seitens des Zeugen gegenüber einer
Drittperson. Dass das Kind vor der ersten dokumen-
tierten Aussage und vor der Begutachtung mit Ver-
trauenspersonen spricht, ist die Regel. Dabei kann die
Geburtsstunde der Aussage nie absolut objektiv wie-
dergegeben, sondern lediglich aus der Analyse der
Angaben aller Beteiligten rekonstruiert werden. Vor
allem sollen mögliche Suggestionen, die die Aussage
verzerren oder verfälschen können, erkannt werden.
Von Interesse bezüglich der Erstaussage sind dabei
folgende Aspekte (9):
• Wem gegenüber wurde die erste Aussage ge-
macht?
Tabelle: Suggestive Aufdeckungsmethoden und Techniken bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch
Verdachtsbildung durch einseitige Deutung und Überinterpretation von Signalen Aufklärungsgespräche
Zur-Sprache-Verhelfen Geschichte von «dem anderen Kind» Konjunktiv-Methode
Fokussierung des Kindes auf sexuelle Themen oder auf Verbotenes gute versus schlechte Geheimnisse oder Berührungen Benutzung explizit sexualisierter Sprache Benutzung von Tricks Benutzung der Als-ob-Technik
nach Steller und Volbert (14)
• In welcher Situation erfolgte diese Aussage? • Bestand der Verdacht bereits vor der Aussage und
wie wurde er abgeklärt? • Welche genauen Angaben wurden gemacht? • Erfolgte die Aussage spontan oder aufgrund von
Fragen? • Welche Art von Fragen wurden gestellt? • Welche Einstellungen und Erwartungen hatte der
Aussagenempfänger? • Wie reagierte er auf die Schilderungen? Eine spontane Bekundung von Ereignissen an eine Bezugsperson ist ein starker Hinweis für eine auf eigenen Erlebnissen basierende Aussage. Dies ist der Fall, wenn eine Aussage unabhängig von einem bereits bestehenden Verdacht, unabhängig von anderen Konflikten und ohne Aufdeckungsarbeit in der Umgebung entsteht. Wenn ein Kind sich spontan äussert, ohne dass im Vorfeld sexuelle Inhalte von anderen thematisiert wurden, und es dabei in einer einfachen Sprache über die fraglichen Ereignisse spricht, so ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass das Kind über Selbsterlebtes berichtet. In der Tabelle sind mögliche Aufdeckungstechniken und Methoden aufgeführt, welche zu Suggestionen führen können; sie werden in Verdachtssituationen von Bezugspersonen sowie teilweise auch in Befragungssituationen aus Sorge um das Kind angewendet. Bei langer Dauer und hoher Intensität können suggestive Techniken dazu führen, dass Kinder falsche Überzeugungen entwickeln (Pseudoerinnerungen). Die Suggestionseffekte führen dazu, dass falsche Gedächtnisinhalte implantiert werden, die von der betreffenden Person nicht mehr als falsch wahrgenommen, sondern als eigenes Erlebnis angenommen und verteidigt werden (s. Fallbeispiel in Kasten 2). Ausgangspunkt bei der Induktion komplexer Pseudoerinnerungen bei Kindern bildet meist die Annahme eines Befragenden, in unserem Fallbeispiel der Mutter von Irene-Melanie, ein bestimmtes Ereignis sei sicher passiert; durch gezielte Beobachtungen und Befragungen des Kindes und unter Einsatz verschiedener suggestiver Techniken (7) werden einseitig Informationen gesammelt, die den eigenen Verdacht bestätigen. Dies in der Annahme, die angewandten Techniken würden es dem Kind erleichtern, über die vorgefallenen Missbrauchsereignisse zu berichten oder sich daran zu erinnern (so verlangt die Mutter von Irene-Melanie, alles aufzuschreiben) (7). Widersprüchlichen Informationen wird hingegen nicht nachgegangen, inkonsistente Informationen werden ignoriert oder im Sinne der Ausgangsannahme interpretiert (im Fall von Irene-Melanie waren dies unter anderem die fantasievollen Schilderungen, dass ihr Lehrer und sie mit Perücken verkleidet einkaufen gegangen seien). Mit der Zeit geben Kinder – so wie hier Irene-Melanie – dem suggestiven Druck nach und übernehmen die falschen Informationen. Das Ergebnis dieses Prozesses sind Pseudoerinnerungen an Ereignisse, die in dieser Form nicht erlebt wurden. Um eventuelle suggestive Bedingungen zu erkennen, ist die Analyse der Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte der Aussage also unumgänglich.
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Zeichnungen und Puppen
Die Auswertung von Kinderzeichnungen wurde früher häufig angewendet, um herauszufinden, ob Kinder sexuell missbraucht wurden. Dies ist jedoch aus wissenschaftlicher Sicht keine adäquate und sinnvolle Methode zur Abklärung von sexuellem Kindesmissbrauch. Es gibt keine empirisch begründeten spezifischen Merkmale oder Symbole, die in Kinderzeichnungen eindeutig auf einen sexuellen Missbrauch hinweisen (11). Kinder zeichnen häufig das, was sie interessiert. Dazu gehören auch der eigene Körper und seine Geschlechtsteile, der Körper anderer Personen und deren Geschlechtsteile sowie Tiere mit Geschlechtsteilen. Die Darstellung von Genitalien kommt daher auch bei Kindern vor, die nicht sexuell missbraucht wurden (13). Früher wurden während Befragungen anatomisch korrekte Puppen eingesetzt. Diese Puppen sind nicht geschlechtsneutral, sondern weisen alle äusseren Geschlechtsmerkmale sowie Körperöffnungen auf. Wenn ein Kind mit den Geschlechtsorganen der anatomischen Puppe spielte, wurde dies häufig fälschlicherweise als Hinweis auf eigene sexuelle Erlebnisse beziehungsweise einen sexuellen Missbrauch gedeutet (11). Kinder zeigen jedoch im Allgemeinen ein grosses Interesse an den Geschlechtsteilen der anatomischen Puppe, weil gewöhnliche Puppen diese besonderen Körperteile nicht haben (13). Da es keine missbrauchsspezifischen Spielmuster im Umgang mit anatomischen Puppen gibt und aufgrund der zusätzlichen Gefahr der Vermischung von Spiel und Befragung sollten anatomische Puppen nicht als Testverfahren beim Verdacht auf sexuellen Missbrauch eingesetzt werden (10).
Missbrauchsverdacht in Trennungssituationen
Eine Scheidung ist per se kein Risikofaktor für sexuellen Missbrauch. Bei getrennt lebenden Eltern kommt es jedoch häufiger zu einem unbegründeten Verdacht auf sexuellen Missbrauch während oder nach einer konflikthaften Trennung. Grosse Vorsicht ist darum bei der Beurteilung geboten, wenn der Verdacht im Zusammenhang mit einer hoch konflikthaften Trennungssituation der Eltern geäussert wird.
Korrespondenzadresse:
Dr. phil. Revital Ludewig
Leitung Fachstelle Begutachtung, Therapie und Beratung
Departement Kinder- und Jugendmedizin
Sozialpädiatrisches Zentrum SPZ
Postfach 834
8401 Winterthur
Tel. 052-266 37 12
E-Mail: revital.ludewig@ksw.ch
Literatur: 1. Bieneck S, Stadler L, Pfeiffer C: Erster Forschungsbericht zur Repräsentativbefragung Sexueller Missbrauch. Kriminologisches Forschungsinstitut Niedersachsen, Hannover, 2011. 2. Averdij M, Müller-Johnson K, Eisner M: Sexuelle Viktimisierung von Kindern und Jugendlichen in der Schweiz. Schlussbericht für die UBS Optimus Foundation. UBS Optimus Foundation, Zürich, 2011. www.optimusstudy.org. 2a. Kunz D: Sexualaufklärung bei Kleinkindern. PÄDIATRIE 2017; 3: 11–14. 3. Fegert JM et al.: Sexueller Missbrauch von Kindern und Jugendlichen. Springer, Berlin, 2014. 4. Ludewig R, Baumer S, Tavor D: Einführung in die Aussagepsychologie. In: Ludewig R, Baumer S, Tavor D (Hrsg.): Aussagepsychologie für die Rechtspraxis. Dike, Zürich, 2017. 5. Finkelhorn D: Sexueller Missbrauch von Kindern. In: Hilweg W, Ullmann E (Hrsg.): Kindheit und Trauma. Vandenhoeck und Ruprecht, Göttingen, 1998. 6. Volbert R: Glaubwürdigkeitsbegutachtung bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch von Kindern. Zeitschrift für Kinder- und Jugendpsychiatrie 1995; 23 (1): 20–26. 7. Niehaus S, Volbert R, Fegert JM: Entwicklungsgerechte Befragung von Kindern in Strafverfahren. Springer, Berlin, 2017. 8. Eschelbach R: Zu den Voraussetzungen, unter denen es zur Sachaufklärung erforderlich ist, über eine Zeugenaussage ein aussagepsychologisches Gutachten einzuholen. In: Deckers R, Köhnken G (Hrsg.): Die Erhebung von Zeugenaussagen im Strafprozess. Juristische, aussagepsychologische und psychiatrische Aspekte. Berliner Wissenschaftsverlag, Berlin, 2014. 8a. Weidinger B, Kostenwein W: «Bekommt man vom Küssen Kinder?» PÄDIATRIE 2017; 3: 4–10. 8b. Geiser L: Sexualität im Digitalzeitalter. PÄDIATRIE 2017; 3: 25–28. 9. Jansen G: Zeuge und Aussagepsychologie. C. F. Müller, Heidelberg, München, Landsberg, Frechen, Hamburg, 2012. 10. Greuel L et al.: Glaubhaftigkeit der Zeugenaussage. Theorie und Praxis der forensischpsychologischen Begutachtung. Beltz, Weinheim, 1998. 11. Köhnken G: Glaubwürdigkeit. In: Widmaier G (Hrsg.): Münchner Anwaltshandbuch Strafverteidigung. C.H. Beck Verlag, München, 2006. 12. Volbert R, Steller M: Glaubhaftigkeit. In: Bliesener T, Lösel F, Köhnken G (Hrsg.): Lehrbuch der Rechtspsychologie. Huber, Bern, 2014. 13. Scholz B, Endres J: Aufgaben des psychologischen Sachverständigen beim Verdacht des sexuellen Kindesmissbrauchs – Befunde, Diagnostik, Begutachtung. NStZ 1995. 14. Steller M, Volbert R: Glaubwürdigkeitsbegutachtung. Huber, Bern, 1997.
Implikationen für die Praxis
Das Kind durchläuft meist einen langen Prozess verschiedener Phasen, bis es schliesslich zur Begutachtung kommt. Für die Beurteilung der Glaubhaftigkeit sind fundiertes aussagepsychologisches Wissen und ausreichend Zeit nötig (Abbildung). Zugleich besteht jedoch oft die Notwendigkeit, schnell zu handeln und rasch zu einer Empfehlung zu kommen, um das Kind vor einem möglichen Missbrauch zu schützen beziehungsweise alle Beteiligten vor einem zu Unrecht angenommenen Missbrauch. Hierfür ist die interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener Fachpersonen nötig: der Polizei, des Gerichts, der KESB, der Kinderärzte, der Schule und des Sachverständigen; bei Bedarf sind weitere Fachpersonen beizuziehen.
BUCHTIPP Aussagepsychologie für die Rechtspraxis
Fachpersonen sind häufig mit der schwierigen Aufgabe konfrontiert, herauszufinden, ob eine Person bei Verdacht auf sexuellen Missbrauch die Wahrheit sagt oder lügt. Die Frage nach der Wahrheit stellt sich aber auch bei IV- oder Asyl-Anträgen oder Streit in der Arbeitswelt oder der Familie. Das Buch vermittelt aussagepsychologische Erkenntnisse, die bei der Beurteilung helfen können, ob eine Aussage glaubhaft ist oder nicht. Das Buch eignet sich für Juristen, Psychologen, Ärzte, Mitarbeitende der Polizei, der KESB und des Asylwesens.
Ludewig R, Baumer S, Tavor D (Hrsg.): Aussagepsychologie für die Rechtspraxis. Dike Verlag, Zürich, St. Gallen 2017; 520 Seiten, broschiert; ISBN: 978-3-03751-640-9; Fr. 98.–
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