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SCHWERPUNKT
Atypische Manifestation eines West-Syndroms
Geschildert wird der Fall eines elf Monate alten Kindes mit einer initial atypischen klinischen Präsentation eines West-Syndroms. Die ersten Symptome waren kurze Myoklonien und Anfälle mit Tonusverlust im Bereich des Kopfes. Erst im weiteren klinischen Verlauf zeigte das Kind das typische Bild eines West-Syndroms mit infantilen Spasmen und einer Hypsarrhythmie im EEG. Ausgehend von diesem Fallbericht beschreiben wir das klinische Spektrum des West-Syndroms.
Von Beatrice Guerra, Anna Katharina Wilhelm, Ursula von Mengershausen und Oliver Maier
Ein elf Monate alter Knabe kam in die neuropädiatrische Sprechstunde. Die Mutter beschrieb das Auftreten von kurzen Myoklonien des linken Beines zirka drei Wochen zuvor. Im weiteren Verlauf zeigte das Kind Episoden mit Blickwendung nach oben und kurzem Fallenlassen des Kopfes, die initial beschriebenen Myoklonien traten nicht mehr auf.
Die wichtigsten metabolischen Untersuchungen ergaben keine auffälligen Befunde: • organische Säuren im Urin: unauffällig • Tandem-Massenspektroskopie aus Guthrie-Karte:
unauffällig • überlangkettige Fettsäuren im Serum: unauffällig • Pipecolinsäure und alpha-Aminoadipinsemialdehyd
im Urin: unauffällig. Das Wach-EEG zeigte generalisierte hochgespannte Sharp Waves mit leichter Rechtsbetonung (Abbil-
dung 1). Bei anamnestisch beschriebenen Myoklonien und Verdacht auf atonische Anfälle wurde differenzialdiagnostisch eine myoklonisch-astatische Epilepsie in Betracht gezogen und eine Therapie mit Valproat eingeleitet. Unter der Therapie mit Valproat entwickelte das Kind Spasmen in Serie und das EEG im Wachen und im Schlaf zeigte das Bild einer Hypsarrhythmie (Abbildung 2). Deshalb erfolgte unter dem Verdacht auf ein WestSyndrom eine Umstellung auf Vigabatrin (Sabril®). Unter Vigabatrin (bis 150 mg/kg KG/Tag) kam es zu einem leichten Rückgang der Spasmen, das EEG zeigte jedoch weiter das Bild einer Hypsarrhythmie. Deshalb erfolgte nach vier Wochen eine Umstellung auf Hydrokortison per os mit 15 mg/kg KG/Tag. Damit kam es zum Sistieren der Anfälle und zu einer deutlichen Verbesserung des EEG. Nach zwei Wochen Therapie mit Hydrokortison 15 mg/kg KG/Tag und Vigabatrin 100 mg/kg KG/Tag wurde das Hydrokortison über zwei Wochen reduziert und beendet, unter Beibehaltung des Vigabatrins. Das Kind blieb weiter anfallsfrei, wies schöne Entwicklungsfortschritte auf, und das EEG normalisierte sich (Abbildung 3). Die klinisch-neurologische Nachkontrolle im Alter von 14 Monaten zeigte eine altersgerechte Entwicklung. Die ätiologischen Abklärungen ergaben keine zugrundeliegende Pathologie (siehe unten). Es handelt sich um ein kryptogenes West-Syndrom. Das Fallbeispiel zeigt, dass zu Beginn eines West-Syndroms auch atypische Anfälle wie Myoklonien und atonische Anfälle möglich sind und oft erst der klinische Verlauf zur richtigen Diagnose führt.
Abbildung 1: EEG mit 11 Monaten: generalisierte Sharp-Wave-Aktivität mit leichter Rechtsdominanz.
West-Syndrom
Das West-Syndrom ist eines der häufigsten Epilepsiesyndrome im Säuglingsalter mit einer Inzidenz von
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0,15 bis 0,4 pro 1000 Lebendgeborene. Charakterisiert wird das Krankheitsbild durch in Serien auftretende infantile Spasmen, einer häufig auftretenden Entwicklungsretardierung oder Regression (kann zu Beginn fehlen) und einem typischen EEG-Muster im Sinne einer Hypsarrhythmie. Das Krankheitsbild wurde nach dem englischen Arzt Williams James West benannt (1793–1848), der es 1841 erstmals beschrieb. Synonyme sind Epilepsie mit Blitz-NickSalaamkrämpfen oder BNS-Epilepsie sowie Epilepsie mit infantilen Spasmen. Das West-Syndrom ist eine altersspezifische epileptische Enzephalopathie des Säuglingsalters. Die Triade aus infantilen Spasmen, Retardierung der psychomotorischen Entwicklung und Hypsarrhythmie im EEG charakterisiert das Syndrom. Die Krankheit manifestiert sich meistens (in 90% der Fälle) innerhalb des ersten Lebensjahres, mit der höchsten Inzidenz (50–77%) zwischen 3 und 7 Lebensmonaten. Eine Manifestation nach dem 18. Lebensmonat ist selten (1). Die ätiologische Klassifikation unterscheidet drei Gruppen: • Idiopathisch: Es gibt keine erkennbare Ursache,
keine neurologischen Zeichen oder Symptome. • Kryptogen: Eine symptomatische Ätiologie wird
vermutet, es finden sich aber keine strukturellen und biochemischen Ursachen. • Symptomatisch: Die Ursache der BNS-Epilepsie ist bekannt (Tabelle 1).
Abbildung 2: EEG im Schlaf mit 11 Monaten, 1 Woche nach Eintritt: Muster mit irregulärer polymorpher SharpWave-Aktivität, Hypsarrhythmiemuster.
Klinische Symptomatik
Die Anfälle wiederholen sich in der Regel in Serien (von 2 bis 125 Spasmen pro Cluster) und treten vor allem beim Einschlafen oder Aufwachen auf. Sie können sich als Flexion, Extension oder Mischformen manifestieren und betreffen die Hals- und Rumpfmuskulatur und die Extremitäten (Tabelle 2) (2). Anfangs können die Symptome fälschlicherweise als andere Erkrankungen, wie beispielsweise Hyperirritabilität, übertriebene Schreckreaktionen oder Koliken, interpretiert werden.
Diagnose
Im interiktalen EEG ist das Bild einer Hypsarrhythmie im wachen Zustand, aber vor allem auch im Schlaf pathognomonisch für ein West-Syndrom. Zur sicheren Diagnose eines West-Syndroms sollte ein EEG im Schlaf durchgeführt werden. Eine Hypsarrhythmie ist gekennzeichnet durch ein asynchrones Muster mit sehr hoher Amplitude, verringerter Frequenz und häufigen multifokalen Spitzen (Abbildung 5).
Prognose
Die Prognose hängt hauptsächlich von der Ätiologie ab. Die symptomatischen Formen (Tabelle 1) haben eine schlechtere Prognose als die kryptogenen Formen. Negative prognostische Faktoren sind auch ein früher Beginn (< 3 Monate), eine asymmetrische Hypsarrhythmie im EEG und eine Therapieresistenz. Prognostisch eher als günstig zu werten sind ein unauffälliges MRI des Neurokraniums, eine symmetrische Hypsarrhythmie im EEG, ein schnelles Anspre-
Abbildung 3: EEG im Wachzustand mit 14 Monaten, klinisch anfallsfrei. Das EEG zeigt eine kontinuierliche altersentsprechende Grundaktivität im Wachen und im Schlaf ohne Nachweis epilepsietypischer Aktivität.
Tabelle 1: Wichtige Ursachen des symptomatischen West-Syndroms
Strukturell: • neurokutane Syndrome (tuberöse Sklerose, Neurofibromatose Typ 1, Sturge-Weber-Syndrom,
Incontinentia pigmenti) • Hirnanlagestörungen (Aicardi-Syndrom, Agyrie, Pachygyrie, Polimikrogyrie, Hemimegalenzephalo-
pathie, fokale kortikale Dysplasie, Schizenzephalopathie) • hypoxisch-ischämische Enzephalopathie • Hirnblutung, Trauma, Tumor • zerebrale Infektionen/kongenitale Infektionen
Genetisch: • chromosomale Störungen (Down-Syndrom, Miller-Dieker-Syndrom, CHARGE) • Mikrodeletionen • Genmutationen (z.B. ARX-, CDKL5-, FOXG1-, GRIN1-, GRIN2A-, MAGI2-, MEF2C-, STXBP1-Gen-
mutationen (und weitere)
Neurometabolisch: • Pyridoxinabhängigkeit • nicht ketotische Hyperglyzinämie • Biotinidasemangel • Ahornsirupkrankheit • Phenylketonurie • mitochondriale Enzephalopathie
Aufzählung nicht abschliessend, nach [8, 9]
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Abbildung 5: EEG eines 6 Monate alten Kindes mit West-Syndrom (Kinderspital St. Gallen, nicht das Kind der Kasuistik): typische Hypsarrhythmie, bestehend aus einem asynchronen Muster mit sehr hoher Amplitude, verringerter Frequenz, häufigen multifokalen Spitzen und scharfen Wellenentladungen.
Abbildung 4: Das kraniale MRI (kranial T2 TIRM) zeigt keine pathologischen Veränderungen.
Tabelle 2: Definition infantiler Spasmen
• Cluster • mindestens 12 Episoden
pro Tag • vor oder nach dem
Schlafen • Anfälle in Flexion oder/und
Extension • postiktale Reizbarkeit und
Weinerlichkeit
chen auf die medikamentöse Behandlung und eine normale weitere psychomotorische Entwicklung. Bei einem Drittel bis zur Hälfte der Patienten mit West-Syndrom können im Verlauf auch andere Anfallstypen auftreten, zum Beispiel fokale, myoklonische, tonische und tonisch-klonische Anfälle (3) mit Entwicklung eines anderen Epilepsiesyndroms, vor allem des Lennox-Gastaut-Syndroms. Die Mortalität variiert zwischen 3 und 33 Prozent. Eine Entwicklungsretardierung tritt in zirka 85 Prozent der Fälle auf (4–6).
Therapie
Die Basis der Behandlung des West-Syndroms ist die Kontrolle und Reduktion von Anfällen. Die wichtigsten Medikamente zur Behandlung des West-Syndroms sind Glukokortikoide (z.B. Prednisolon, Hydrokortison), ACTH und Vigabatrin. Kinder mit West-Syndrom sollten primär mit Glukokortikoiden, ACTH oder Vigabatrin behandelt werden. Eine generelle Priorität eines dieser Medikamente ergibt sich aus der Studienlage nicht (7). Bei Kindern mit einer tuberösen Sklerose sollte Vigabatrin als Mittel der ersten Wahl eingesetzt werden (7).
Schlussfolgerung
Unser Fallbeispiel beschreibt ein Kind mit einem kryptogenen West-Syndrom, bei dem zuerst kurze Myoklonien und im Verlauf auch atonische Anfälle im Vordergrund standen. Erst im Verlauf zeigte sich das typische Bild mit infantilen Spasmen in Serie und im EEG das Muster einer Hypsarrhythmie.
Das West-Syndrom ist eine epileptische Enzephalopathie im Säuglingsalter und bedarf schnellstmöglich einer adäquaten Therapie, um den Verlauf positiv zu beeinflussen. Medikamente der ersten Wahl sind Glukokortikoide, ACTH und Vigabatrin. Eine ätiologische Abklärung ist essenziell und wichtig für die weitere Prognose.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Beatrice Guerra Ostschweizer Kinderspital St. Gallen Claudiusstrasse 6 9006 St. Gallen E-Mail: info.kerzentrum@kispisg.ch
Literatur: 1. Trevathan E et al.: The descriptive epidemiology of infantile spasms among Atlanta children. Epilepsia 1999; 40: 748. 2. Pellock JM et al.: Infantile spasms: a U.S. consensus report. Epilepsia 2010; 51: 2175. 3. Riikonen R: A long-term follow-up study of 214 children with the syndrome of infantile spasms. Neuropediatrics 1982; 13: 14–23. 4. Appleton RE: West syndrome: long-term prognosis and social aspects. Brain and Development 2001; 23: 688. 5. Glaze DG et al.: Prospective study of outcome of infants with infantile spasms treated during controlled studies of ACTH and prednisone. J Pediatr 1988; 112: 389. 6. Glaze DG, Zion TE: Infantile spasms. Curr Probl Pediatr 1985; 15: 1. 7. Schmitt B et al.: Therapie der Blitz-Nick-Salaam Epilepsie (West-Syndrom). www.awmf.org 8. Covanis A: Epileptic encephalopathie including severe epilepsy syndromes. Epilepsia 2012; 53 (Suppl): 114–126. 9. Lux AL: Latest American and European updates on infantile spasms. Curr Neurol Neurosci Rep 2013; 13: 334.
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