Transkript
SCHWERPUNKT
Gelenkschmerzen bei Kindern
Wann muss man an Rheuma denken?
Die Differenzialdiagnose der Störungen im Bewegungsapparat von Kindern und Jugendlichen ist enorm breit. Sie reicht vom (relativ einfachen) Trauma über Infektionen, verschiedenste Formen von Anlage- und Wachstumsstörungen über Neoplasien, Stoffwechselerkrankungen und Autoimmunerkrankungen bis zur psychosomatischen Störung und schliesst auch so rätselhafte Erscheinungen wie die so genannten «Wachstumsschmerzen» mit ein. Woran kann man rheumatische Erkrankungen erkennen und frühzeitig die richtigen Abklärungsweichen stellen?
Von Rotraud K. Saurenmann
Schwellungen oder Funktionseinbussen sprechen bei Kindern stärker für Rheuma als Schmerzen allein.
Laboruntersuchungen sind vor allem differenzialdiagnostisch nützlich, weniger für die eigentliche Rheumadiagnose.
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Beschwerden im Bewegungsapparat sind relativ häufig im Kindes- und Jugendalter. Gesamthaft werden bei zirka 6 bis 8 Prozent aller Konsultationen in der Praxis Schmerzen, Hinken oder Gehverweigerung als Hauptgrund angegeben (1, 2). Dabei lässt sich eine deutliche Altersabhängigkeit feststellen, bei älteren Kindern und Jugendlichen ist der Bewegungsapparat sogar in bis zu einem Drittel der Fälle der Konsultationsgrund. Die therapeutischen Möglichkeiten haben sich gerade für die rheumatischen Krankheiten in den letzten zwei Jahrzehnten ganz wesentlich verbessert, sodass die leider immer noch allzu oft beobachtete Verzögerung bei Diagnose und Therapie der juvenilen Arthritis immer weniger toleriert werden kann. Foster et al. fanden in einer 2007 publizierten Studie, dass von den ersten Symptomen bis zur definitiven Diagnosestellung durch einen Kinderrheumatologen im Mittel eine Zeitspanne von 20 Wochen verstrich, nicht selten aber dauerte es sogar über ein Jahr, mit erheblichen Konsequenzen für den Zustand der Gelenke bei Diagnosestellung (3). Wie soll man angesichts dieses breiten Spektrums als Praxispädiater vorgehen?
Vielfältige Symptomatik
Zunächst einmal lohnt es sich in Erinnerung zu rufen, dass der Erkrankungsgipfel der juvenilen idiopathischen Arthritis (JIA) im Vorschulalter liegt (Abbildung 1). Gerade bei den kleinen Kindern kommt diese Differenzialdiagnose infrage und gerade bei ihnen ist es häufig besonders schwierig, die Arthritis zu erkennen und von anderen Affektionen, wie insbesondere infektiösen Erkrankungen, zu unterscheiden. Der Beginn einer juvenilen Arthritis kann ausserordentlich unterschiedlich sein. Bei manchen Kindern tritt eine plötzliche, oft sehr schmerzhafte Gelenkschwellung auf, die differenzialdiagnostisch an ein
unbemerktes Trauma oder eine septische Arthritis/ Osteomyelitis denken lässt und auch entsprechend abgeklärt werden muss. Diese Kinder und Jugendlichen kommen in der Regel notfallmässig zum Arzt, meistens nicht nur mit Schmerzen, sondern zusätzlich mit Hinken oder Gehverweigerung. Bei der Untersuchung findet man entsprechende Befunde wie schmerzbedingte Funktionseinschränkungen, lokale Schwellung und Überwärmung sowie im Labor oft deutliche Entzündungszeichen. Diese Arthritis wird nicht verpasst. Die Schwierigkeit bei einer solchen Präsentation liegt eher darin, dass die Präsentation so akut ist, dass eine Infektion differenzialdiagnostisch im Vordergrund steht und fast immer eine antibiotische Behandlung erfolgt. Auch eine Besserung stellt sich oft ein, und die Herausforderung besteht im weiteren Verlauf eher darin, die Differenzialdiagnose einer rheumatischen Erkrankung wieder aufzunehmen, wenn die Symptome trotz adäquater Behandlung mehr als sechs Wochen persistieren oder im Verlauf rezidivieren. Bei anderen Kindern ist der Beginn weniger akut und wird deshalb oft während Tagen oder Wochen mit Hausmitteln behandelt, bevor schliesslich wegen des verzögerten Heilungsverlaufs ein Arzt konsultiert wird. Bei sehr kleinen Kindern, die ihre Schmerzen noch nicht richtig verbalisieren können, und/oder bei einem subakuten Beginn mit symmetrischem Gelenksbefall fällt den Eltern oft zuerst ein verändertes Verhalten ihres Kindes auf: Es bleibt am Morgen im Bett liegen, ist weinerlich, unlustig, wirkt krank und will ständig auf dem Arm herumgetragen werden. Erst im Laufe des Vormittags wird es langsam sein normales Spielverhalten wieder aufnehmen und herumlaufen. Im weiteren Tagesverlauf wirkt es vielleicht sogar ganz gesund und normal. Dieses Kind zeigt die typischen Symptome einer Morgensteifigkeit, aber
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die Eltern können das Verhalten als «Mödeli» interpretieren und ein erzieherisches statt ein medizinisches Problem darin sehen. Sie berichten davon meistens erst auf gezieltes Fragen. Erst wenn sich nach einigen Wochen zunehmende Kontrakturen entwickeln, wird die Krankheit offensichtlich und ein Arzt konsultiert (Abbildung 2). Als – glücklicherweise seltenes, aber doch immer wieder zu beobachtendes – Extrembeispiel gibt es auch Kinder, bei denen zwar ein polyartikulärer Gelenksbefall praktisch aller grossen und kleinen Gelenke besteht, der aber so schleichend begonnen hat, dass auch grössere Kinder sich an den Beginn nicht genau erinnern können. Die Symptome bestehen aus einer langsam zunehmenden Bewegungseinschränkung und Kraftlosigkeit, ohne ins Auge springende Schwellung der Gelenke, ohne subjektive Schmerzen und vor allem teilweise auch ohne irgendwelche systemische Entzündungszeichen im Labor. Ein Mädchen kam erst, als sie wegen der Steifigkeit und Kraftlosigkeit ihrer Finger die Fahrradbremse nicht mehr betätigen konnte, ein anderes konnte beim Schreiben von Prüfungen nicht mehr mithalten oder einen Türknopf nicht mehr drehen. Auch der Beginn einer rheumatischen Erkrankung mit nur einer Enthesitis – einer Entzündung an der Ansatzstelle von Sehnen/Muskeln/Faszien am Knochen – kann häufig irreführend sein. Am häufigsten ist der Ansatz der Achillessehne am Calcaneus von einer Enthesitis betroffen, was bei Jugendlichen nicht einfach von einer Apophysitis calcanei unterschieden werden kann. Nur wenn man Enthesitiden auch an anderen typischen Lokalisationen sucht und findet (Ansatz der Plantaraponeurose, Trochanter maior, Ansatz der Faszia lata usw.) hat man gute Gründe, eine rheumatische Krankheit zu vermuten. Neben den klinischen Befunden können hier aber auch eine positive Familienanamnese für Spondylarthritis oder andere HLA-B27-assoziierte Erkrankungen weiterhelfen.
Schmerzen
Landläufig werden Schmerzen als typisches Symptom einer rheumatischen Erkrankung angesehen. Bei Erwachsenen stehen bei rheumatischen Erkrankungen tatsächlich auch meistens die Schmerzen im Vordergrund der Beschwerden, und so erfolgen auch die meisten Zuweisungen in eine kinderrheumatologische Sprechstunde wegen Schmerzen im Bewegungsapparat. McGee et al. sind in einer 2002 publizierten Studie der Frage nachgegangen, welche Symptome bei 414 Neuzuweisungen tatsächlich mit einer rheumatologischen Diagnose assoziiert waren (4). Von den 414 Patienten wurden 226 wegen Schmerzen als Leitsymptom zugewiesen, davon war bei 111 der Schmerz das alleinige Symptom. Die Autoren kommen zum Schluss, dass – ganz entgegen der generellen Wahrnehmung – Schmerzen als Leitsymptom die Wahrscheinlichkeit einer entzündlich-rheumatischen Diagnose signifikant senkten! Hingegen waren Befunde wie Schwellungen oder Funktionseinbussen (Hinken, Bewegungseinschränkung) deutlich stärker mit einer rheumatologischen Diagnose assoziiert.
Abbildung 1: Das Alter bei Diagnose in einer Kohorte von 1081 Kindern mit juveniler idiopathischer Arthritis. Mädchen sind grau, Buben schwarz dargestellt.
Abbildung 2: 5-jähriges Mädchen mit polyartikulärer juveniler idiopathischer Arthritis und ausgeprägten Gelenkskontrakturen, die sich auf die gesamte Körperhaltung auswirken und zu sekundären Fehlstellungen in nicht befallenen Gelenken führen.
Diese Ergebnisse decken sich mit den Erfahrungen jeder kinderrheumatologischen Sprechstunde: Bei Kindern, welche wegen unerklärlichen, anhaltenden oder rezidivierenden Schmerzen zugewiesen werden und keine zusätzlichen Symptome wie Funktionseinbussen oder (auf einem Foto erkennbare) Schwellung haben, wird praktisch nie eine entzündlich-rheumatische Erkrankung diagnostiziert. Das heisst aber nicht, dass die Kinder mit Arthritis keine Schmerzen haben. Arthritis tut weh, bei Kindern wie bei Erwachsenen! Das Ausmass der empfundenen Schmerzen ist bei Kindern wie bei Erwachsenen individuell sehr unterschiedlich und erstaunlich wenig hilfreich für die Entscheidung, wie schwerwiegend das Geschehen ist. Vor allem aber haben Kinder, besonders die jüngeren, entwicklungsbedingt eine weniger gute Körperwahrnehmung und eine weniger
ANA-Titer können bei Kindern unspezifisch erhöht sein.
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Fehlen Entzündungszeichen, kann mit NSAR behandelt und zunächst der weitere Verlauf abgewartet werden.
Falls die Beschwerden länger als vier bis sechs Wochen andauern, sollte eine rheumatologische Beurteilung erfolgen.
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gute sprachliche Ausdrucksfähigkeit. Es geht ihnen nicht gut, aber sie können den Schmerz schlecht lokalisieren und schlecht schildern. Hingegen sind sie meisterhaft darin, schmerzhafte Bewegungen zu vermeiden oder ihnen auszuweichen, und sie finden alternative Möglichkeiten, zu ihren Zielen zu kommen. Damit haben sie natürlich tatsächlich weniger Schmerzen, dafür laufen sie merkwürdig oder hinken (oder verweigern das Laufen völlig), oder stützen sich zum Beispiel plötzlich auf den Ellbogen statt auf die Hand ab, essen und zeichnen mit der anderen Hand usw., und sie entwickeln rasch und von den Erwachsenen fast unbemerkt ausgeprägte Kontrakturen (Abbildung 2). Deshalb erfolgt die Zuweisung in diesen Fällen meistens wegen der Bewegungseinschränkung und/oder dem Hinken, manchmal auch wegen einer Schwellung, und eine solche Symptomatik ist dann auch hochverdächtig für ein rheumatisches Geschehen.
Laborwerte
Sehr oft werden Laboruntersuchungen gemacht, wenn an eine rheumatologische Differenzialdiagnose gedacht wird. Leider sind die Resultate für die Beantwortung der Frage «Könnte es Rheuma sein?» enttäuschend. Den Wunsch vieler Eltern, man solle doch «im Blut suchen, ob es Rheuma sein könnte», kann man bisher leider nicht erfüllen! Gerade bei der juvenilen Arthritis ist buchstäblich jedes Resultat möglich: Vom völligen Fehlen jeglicher Entzündungszeichen bis zur schwersten entzündlichen Reaktion kann man alles finden, und auch die Antikörper können positiv oder negativ sein, ohne dass sich damit auf die Diagnose rückschliessen lässt (5). Die Laboruntersuchungen haben natürlich schon ihre Berechtigung, aber sie sind vor allem nützlich, um andere Differenzialdiagnosen, zum Beispiel eine Borreliose oder eine Leukämie, zu suchen oder um beim Vorliegen einer Arthritis den Subtyp der juvenilen Arthritis und das Risiko für eine begleitende Uveitis abzuklären oder eine seltenere rheumatische Erkrankung wie einen juvenilen Lupus erythematodes und andere Kollagenosen oder Vaskulitiden auszuschliessen. Die eigentliche Diagnose einer rheumatischen Erkrankung ist nur in ganz seltenen Ausnahmefällen mit einer Blutuntersuchung möglich! Hingegen kommt es sehr häufig aufgrund der Blutuntersuchungen zu einer Zuweisung zur Abklärung wegen auffälliger Laborwerte, insbesondere wegen positiven ANA (antinukleäre Antikörper). ANA-Titer können bei Kindern unspezifisch erhöht sein, zum Beispiel im Rahmen eines Infekts. Solche erhöhten Titer haben bei ansonsten gesunden Kindern keinerlei Bedeutung und müssen auch nicht kontrolliert werden (5, 6). Das Gleiche gilt auch für die ebenfalls häufig bestimmten Antistreptolysintiter (ASLO), welche ohne vorausgegangene Halsentzündung und bei nur mässig erhöhten Werten (<1000 U/ml) keine diagnostische Bedeutung haben.
Wie soll man also in der Praxis vorgehen?
Bei Kindern mit einer akuten Symptomatik muss ein infektiöses Geschehen ausgeschlossen werden. Die
initiale antibiotische Therapie muss bei einer septischen Arthritis oder Osteomyelitis immer intravenös erfolgen und sollte erst nach Gewinnung von Material für Kulturen begonnen werden, das heisst, diese Patienten werden in der Regel zur Abklärung und Therapie stationär zugewiesen. Auch bei einer subakuten Symptomatik muss an ein infektiöses Geschehen gedacht werden, insbesondere zum Beispiel mit Kingella kingae. Eine häufige Differenzialdiagnose sind hier aber die transienten Arthritiden, welche para- und postinfektiös auftreten können und normalerweise innert Tagen oder wenigen Wochen spontan abklingen. Hier können ein multifokales Geschehen oder ein wandernder Gelenksbefall differenzialdiagnostisch hilfreich sein und für eine transiente Arthritis sprechen. Insbesondere beim Fehlen von Entzündungszeichen kann problemlos mit NSAR behandelt und zunächst der weitere Verlauf abgewartet werden. Wenn Bewegungseinschränkung, Schwellung und Schmerzen länger als vier bis sechs Wochen andauern, sollte eine rheumatologische Beurteilung erfolgen und bei Arthritis – insbesondere bei Kindern unter sieben Jahren – auch eine ophthalmologische Untersuchung zum Ausschluss einer Uveitis eingeleitet werden.
Zu guter Letzt
Üben Sie die Untersuchung des kindlichen Bewegungsapparates, indem Sie ihn bei jeder Ganzkörperuntersuchung eines Kindes mit untersuchen! Nur wenn Sie geübt sind, können Sie den Normalbereich der Beweglichkeit von Kindern richtig einschätzen und den Bewegungsapparat sicher beurteilen. Anleitungen dazu finden Sie zum Beispiel online unter www.arthritisresearchuk.org/shop/products/publications/information-for-medical-professionals/electronic-media/dvd-pgals.aspx.
Korrespondenzadresse: PD Dr. med. Rotraud K. Saurenmann FMH Pädiatrie, speziell päd. Rheumatologie Chefärztin Departement Kinder- und Jugendmedizin Kantonsspital Winterthur Brauerstr. 15 8401 Winterthur E-Mail: traudel.saurenmann@ksw.ch
Literatur: 1. de Inocencio J. Musculoskeletal pain in primary pediatric care: analysis of 1000 consecutive general pediatric clinic visits. Pediatrics 1998; 102 (6): E63. 2. de Inocencio J. Epidemiology of musculoskeletal pain in primary care. Arch Dis Child 2004; 89 (5): 431–434. 3. Foster HE et al. Delay in access to appropriate care for children presenting with musculoskeletal symptoms and ultimately diagnosed with juvenile idiopathic arthritis. Arthritis Rheum 2007; 57 (6): 921–927. 4. McGhee JL et al. Identifying children with chronic arthritis based on chief complaints: absence of predictive value for musculoskeletal pain as an indicator of rheumatic disease in children. Pediatrics 2002; 110 (2 Pt 1): 354–359. 5. McGhee JL et al. Clinical utility of antinuclear antibody tests in children. BMC Pediatr 2004; 4: 13. 6. Cabral DA et al. Persistent antinuclear antibodies in children without identifiable inflammatory rheumatic or autoimmune disease. Pediatrics 1992; 89 (3): 441–444.
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