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PSYCHIATRIE
Depression und Angststörungen
Auch im Kindes- und Jugendalter ein Problem
Wenn es um psychische Störungen im Kindes- und Jugendalter geht, denken viele zuerst an ADHS – dabei sind Depression und Angststörungen in diesem Alter häufiger. Anlässlich der Jahrestagung der Schweizerischen Gesellschaft für Angst und Depression (SGAD) und des Swiss Forum for Mood and Anxiety Disorders (SFMAD) sprachen wir darüber mit Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Susanne Walitza, Ärztliche Direktorin am Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie (KPJD), Universität Zürich.
P ÄDIATRIE: Frau Prof. Walitza, werden Angststörungen und Depressionen bei Kindern und Jugendlichen in der Öffentlichkeit und unter Fachleuten genügend wahrgenommen? Prof. Susanne Walitza: Sie sind ein Thema. Sie treten im Vergleich zur Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) jedoch in den Hintergrund, obwohl nur zirka 1 bis maximal 5 Prozent der Kinder an ADHS erkranken (1) – im Vergleich zu jedem zehnten Kind, das an einer Form der Angststörung leidet. Sei dies Trennungsangst, eine Phobie, soziale Phobie oder eine generalisierte Angststörung. Auch Depressionen sind mit einer Häufigkeit von 1 bis 5 Prozent im Kindes- und Jugendalter relevante Krankheitsbilder.
Was müsste sich in Schulen oder im Kindergarten ändern, um das Screening zu verbessern? Walitza: Der Gesundheitsdienst des Kantons Zürich führt Befragungen zur psychischen Gesundheit – einschliesslich der Fragen nach Angststörungen und Depressionen – bereits seit 2009 durch und ist damit sehr fortschrittlich. Vorher wurden unseres Wissens keine Daten erhoben und gesammelt – auch in anderen Kantonen nicht. Die wiederholte Befragung der Stadt Zürich an Sekundarschulen zu Gesundheit und Lebensstil aus dem Jahr 2012/13 zeigt, dass 17 Prozent der Schüler beispielsweise über Rückenschmerzen und andere somatische Beschwerden wie Bauchschmerzen klagen. Das können auch somatoforme Symptome aufgrund psychischer Beschwerden sein. Insgesamt gibt es einen Hinweis auf eine Angststörung bei 16 Prozent und auf depressive Symptome bei 17 Prozent der Schüler. Jeder fünfte Schüler zeigt demnach heute eine psychische Auffälligkeit. Dies entspricht einer repräsentativen Untersuchung aus dem Jahr 2002 vom KJPD Zürich unter Leitung des damaligen Lehrstuhlinhabers Prof. Steinhausen, nach der ebenfalls jedes fünfte Kind an psychischen Stö-
rungen litt und jedes zweite davon behandlungsbedürftig erkrankt war. Das ist ein sehr hoher Anteil. Erschwerend kommt hinzu, dass Kinder und Jugendliche mit Angststörungen gar nicht auffallen. Sie sind meist unauffällig und ruhig und stören nicht – anders als bei ADHS.
Wie zeigen sich Angststörungen und/oder Depression bei Kindern und Jugendlichen? Walitza: Im Primar- bis Sekundarschulalter können die Kinder und Jugendlichen sehr viel reizbarer erscheinen, eher Wutanfälle zeigen oder sich auch aus dem sozialen Leben zurückziehen. Wir haben beispielsweise einen 13-Jährigen in unserer Therapie, der die Schule nicht mehr besuchte und gar nicht mehr aus dem Haus ging. Seine Eltern haben das hingenommen, obwohl das Kind eine soziale Phobie hatte und auf Hilfe angewiesen war. Bei diesen Kindern ist es beispielsweise kontraproduktiv, sich für die Heimbeschulung einzusetzen. Die Kinder, die Angst vor der Bewertung durch andere haben, lernen es dann nicht, den so wichtigen sozialen Kontakt zu anderen Kindern zu üben; sie vermeiden es eher, mit anderen zu sprechen, bis der Schulbesuch insgesamt vermieden wird. Eltern sollten aufhorchen, sobald die Alltagsbewältigung des Kindes eingeschränkt ist, weil sich dahinter ein pathologisches Geschehen verstecken kann. Meiner Ansicht nach ist es richtig, dass immer mehr Kantone die Heimbeschulung nicht mehr unterstützen beziehungsweise dann auch einen Kinder- und Jugendpsychiater mit einbeziehen. Im Kindergartenalter treten Angststörungen bei mehr als 30 Prozent der Kinder auf, wobei diese Kinder ebenfalls oft nicht weiter auffallen. In einer Studie wich das Erzieherurteil stark vom Elternurteil ab, und die Erzieher sahen die Ängste sehr viel weniger als die Eltern. Was uns persönlich sehr bedrückt, sind die stark verbreiteten Gedanken an Suizid bei Jugendlichen. Das gab es schon früher, ich denke aber, dass die Jugendlichen
Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Susanne Walitza, Ärztliche Direktorin, Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Universität Zürich susanne.walitza@kjpdzh.ch
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heute deutlicher vor Augen haben, dass sie Leistung erbringen müssen und oft keine Perspektiven für sich selbst sehen. Zudem ist die Freiheit ein grosses Problem. Wie soll man sich entscheiden, wenn es so viele Möglichkeiten gibt? Hinzu kommt ein Schönheits-
Kasten 1: Angststörungen und Depression im Kindes- und Jugendalter
Angststörungen Eine soziale Angststörung im Jugendalter stellt ein zwei- bis dreifach erhöhtes Risiko für eine weitere Angststörung, eine Zwangsstörung oder Substanzabusus und Essstörungen im Erwachsenenalter dar. Studien sprechen für eine familiäre Häufung von Angststörungen. Als Ursache diskutiert wird eine erniedrigte Erregungsschwelle des limbisches Systems mit einer möglichen Beteiligung von Amygdala und Hypothalamus oder eine potenzierte Schreckreaktion, die Kinder von Eltern mit Angststörungen zeigen. Zudem ist das Geschlecht ein Risikofaktor: Mädchen sind zwei- bis viermal häufiger betroffen als Jungen.
Depressionen Die Symptome unterscheiden sich im Kindesalter gegenüber jenen im Jugendalter und bei Erwachsenen: • Kleinkinder können vermehrtes Weinen, Ausdrucksarmut, erhöhte Irritabilität, gestörtes Essverhal-
ten, Ein- und Durchschlafstörungen und Spielunlust zeigen. • Als Symptome im Vorschulalter sind ein trauriger Ausdruck, psychomotorische Hemmung, Ängst-
lichkeit, phobisches Verhalten, Appetitlosigkeit, Ein- und Durchschlafstörung, aber auch reizbares Verhalten möglich. • Bei Schulkindern im Alter von 7 bis 12 Jahren sind verbale Berichte über Traurigkeit, psychomotorische Hemmung, Zukunftsangst, Ängstlichkeit, Appetitlosigkeit, Ein- oder Durchschlafstörungen oder suizidale Gedanken typisch. • Im Jugendalter sind die Symptome denen im Erwachsenenalter sehr ähnlich. Der Suizid ist nach dem Unfalltod die zweithäufigste Todesursache in dieser Altersgruppe.
Quelle: Melfsen, Walitza: Soziale Ängste und Schulangst. Entwicklungsrisiken erkennen und behandeln, Beltz-Verlag, Weinheim, Basel, 1. Auflage, 2013.
Kasten 2: Antidepressiva im Kindes- und Jugendalter
Bei Angststörungen 14 Studien aus der Cochrane-Analyse 2009 plus 2 weitere Studien; verglichen wurden Fluoxetin, Fluvoxamin, Paroxetin, Sertralin und Venlaflaxin. • Alle SSRI waren Plazebo überlegen. • Fluvoxamin vor Fluoxetin erreichte die besten Werte bei Response und Verträglichkeit. • Venlaflaxin schnitt schlechter ab als die SSRI. • Imipramin und Benzodiazepine werden nicht empfohlen.
Bei Depression Empfohlen wird die Medikation mit SSRI bei erfolgloser Psychotherapie und sehr schweren Fällen und gemeinsam mit kognitiver Verhaltenstherapie (KVT) und interpersoneller Therapie. • Trizyklische Antidepressiva werden für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen nicht emp-
fohlen. • Die Kombination Fluoxetin und KVT zeigt die höchste Effektivität. • Die Akzeptanz der SSRI war höher für Sertralin, Paroxetin, Escalitopram und Venlafaxin gegenüber
Fluoxetin. • Mirtazapin und Venlafaxin schnitten bezüglich Sicherheit sehr gut ab (3).
Zulassungen für SSRI und Antidepressiva im Kindes- und Jugendalter in der Schweiz • Fluvoxamin (Floxyfral® junior): ab 8 Jahren zugelassen für die Behandlung von Zwängen • Sertralin (Zoloft® und Generika): ab 6 Jahren zugelassen für die Behandlung von Zwängen • Fluoxetin (Fluctine® und Generika), Citalopram (Seropram® und Generika) und Escitalopram (Cipra-
lex®) werden gemäss Swissmedic* für unter 18-Jährige nicht empfohlen, Paroxetin (Deroxat® und Generika) ist nicht zugelassen; das Gleiche gilt für das Johanniskrautpräparat Deprivita®.
*Stand: 1. November 2014
ideal, das grossen Druck ausübt, insbesondere auch auf die jungen Mädchen.
Wie klären Sie Kinder mit Angst und Depression am Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie ab? Walitza: Wir klären bei den Kindern und Jugendlichen neben den psychischen Symptomen immer auch die allgemeine Entwicklung ab, unter anderem die sprachlichen Fähigkeiten, die Motorik, aber auch somatische Ursachen für Ängste. Bei Angst und Depression kann beispielsweise eine Schilddrüsenunterfunktion ursächlich sein oder ein niedriger Eisenspiegel, und natürlich gehören die psychosozialen Umstände abgeklärt. Gibt es Belastungen bei den Eltern, liegt eine Vernachlässigung vor, oder waren bereits die Eltern krank? Wir wissen heute, dass 60 Prozent der Erwachsenen diese Störungen schon im Kindes- und Jugendalter hatten. Und je früher Unterstützung kommt, desto besser ist die Prognose oder der Verlauf. Leider sind die Fragebögen, die uns für die Diagnostik zur Verfügung stehen, in der Praxis nicht ausreichend. Für die Diagnosestellung müssen die Betroffenen auch in ihrem Umfeld begleitet und beobachtet werden. Dafür werden die Einschätzungen der Eltern und auch der Lehrer, wenn möglich, einbezogen.
Wie sieht die Therapie aus? Walitza: Bei Angststörungen ist die kognitive Verhaltenstherapie, abgekürzt KVT, die erste Wahl bei Kindern und Jugendlichen. Der Einbezug der Eltern wird immer empfohlen, obwohl keine eindeutige Evidenz belegt ist. Deshalb ist die biografische Arbeit so wichtig. Der Pädiater ist bei Angststörungen eine der wichtigsten Schnittstellen. Er sieht das Kind über einen längeren Zeitraum und kann Veränderungen feststellen. Bei Verdacht auf eine Angststörung oder Depression kann die Überweisung an den Facharzt oder das Fachzentrum erfolgen. Bei der Depression ist ebenfalls die KVT die erste Wahl bei Kindern und Jugendlichen. Bei schweren Fällen und erfolgloser Psychotherapie sollte die KVT gemeinsam mit einer medikamentösen Therapie erfolgen.
Wann braucht es Medikamente wie die Serotoninwiederaufnahme-Hemmer? Walitza: Medikamente sind dann sinnvoll, wenn die Angststörung oder Depression mittelschwer bis schwer ausgeprägt ist, und die Medikation sollte dann erfolgen, wenn die Psychotherapie erfolglos ist, oder um die Teilnahme an einer Psychotherapie überhaupt zu ermöglichen. Je genauer eine massgeschneiderte Therapie ist, desto besser. Es gibt auch Manuals zur Psychotherapie, die noch immer genügend Spielraum für eigene, kreative Behandlungsansätze offenlassen. Bei den SSRI zeigt sich, dass Fluoxetin am effektivsten ist und zudem gut verträglich. SSRI sind bei Kindern und Jugendlichen allerdings noch vorsichtiger aufzudosieren als bei Erwachsenen. In unserem Zentrum bestimmen wir regelmässig den Medikamentenspiegel, da Referenzwerte fehlen. Sechs Monate sind in der Regel das Minimum für die Behandlung. Diese Zeit braucht es, damit Kinder und Jugendliche überhaupt eigene Bewältigungsstrategien entwickeln und
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ausprobieren können. Rückfälle sind vorprogrammiert, wenn keine Kompensation möglich ist. Wichtig ist, dass die Therapie niederschwellig ist. Auch nach sechs Monaten braucht es bei Problemen eventuell immer wieder einmal Therapiesitzungen. Das können sogenannte Boostersitzungen innerhalb eines kurzen Zeitraums sein, damit das Problem rechtzeitig angegangen wird. Es ist für den Jugendlichen wichtig, nichts in sich hineinzufressen. In der medikamentösen Behandlung hatten wir lange Zeit die Sorge, dass alle SSRI, ausser Fluoxetin, die Häufigkeit von Suizidgedanken und Suizidversuchen erhöhen. Daten aus aktuellen Studien zeigen aber, dass kein Unterschied in Abhängigkeit vom Medikament bei Suizidversuchen besteht. Nur wenn verschiedene SSRI kombiniert werden, gibt es mehr Suizidversuche als zum Beispiel unter Fluoxetin allein (2).
Ist ein SSRI als Monotherapie demnach die erste Wahl für eine medikamentöse Therapie bei Kindern oder Jugendlichen mit Angststörungen und/oder Depression? Walitza: Die erste Wahl ist immer die Psychotherapie. Unter den Medikamenten sind die SSRI wegen des guten Wirkungs-/Nebenwirkungsprofils erste Wahl.
Kasten 3: Ratgeber zum Thema soziale Angst, Schulangst oder Prüfungsangst
Ahrens-Eipper S, Nelius K: Mutig werden mit Til Riger. Ratgeber. Göttingen: Hogrefe 2008. Der Ratgeber informiert über Schüchternheit und soziale Ängste im Kindesalter und hilft bei der Unterstützung und Förderung der betroffenen Kinder. Eltern und andere Bezugspersonen sollen ermutigt werden, gemeinsam mit den Kindern Schritte zu mehr Selbstbewusstsein und Selbstständigkeit zu erproben. Heiderich R, Rohr G: Ohne Angst in die Schule. Probleme erkennen und erfolgreich überwinden. Stuttgart: Urania 2007. Dieser Elternratgeber erklärt Symptome und Ursachen (z.B. Mobbing) von Schulangst und erläutert, wie Lehrer und Eltern kooperieren können. Krowatschek D, Domsch H: Stressfrei in die Schule. Ängste überwinden. Düsseldorf: Patmos 2006. Anhand von Fallbeispielen und mit praktischen Hilfestellungen wird dargestellt, wie Schul- und Prüfungsängste zu bewältigen sind. Marway B, Marway, GP: Kinderängste und Schüchternheit überwinden. Weinheim: Beltz 2007. Dieses Buch zeigt anhand praktischer Beispiele, wie Eltern, Erzieherinnen und Lehrer Kindern helfen können, zu selbstbewussten und sozial kompetenten Kindern und Jugendlichen heranzuwachsen. Schmidt-Traub S: Selbsthilfe bei Angst im Kindes- und Jugendalter: Ein Ratgeber für Kinder, Jugendliche, Eltern und Erzieher. Göttingen: Hogrefe 2010. Der Ratgeber informiert über verschiedene Angststörungen und gibt Hinweise, wie diese abgebaut werden können. Der erste Buchteil informiert über Ängste und Methoden der Angstbewältigung; der zweite Teil wendet sich an ängstliche Kinder und Jugendliche.
doch auch Fluoxetin trotz Off-label-Status ebenfalls ein Erste-Wahl-Medikament.
In der Schweiz sind zurzeit nur Fluvoxamin und Sertralin für unter 18-Jährige zugelassen, Darf man das Fluoxetin nun off-label geben und sich auf die kürzlich publizierte Cooper-Studie verlassen, wonach eine Monotherapie mit nur einem SSRI das Suizidrisiko nicht erhöht? Walitza: Sertralin und Fluvoxamin empfehlen wir bei der Behandlung von Angst und Zwangsstörungen noch vor Fluoxetin. Bei Depressionen im Kindes- und Jugendalter und bei komorbider Depression ist je-
Das Interview führte Annegret Czernotta.
Literatur: 1. Ravens-Sieberer U et al. Health-related quality of life in children and adolescents in Germany: results of the BELLA study. European Child & Adolescent Psychiatry 2008; 17 (Suppl. 1): 148–156. 2 Cooper WO et al. Antidepressants and Suicide Attempts in Children. Pediatrics 2014; 133: 1–7. 3 Ma D, Zhang Z, Zhang X, Li L. Comparative efficacy, acceptability, and safety of medicinal, cognitive-behavioral therapy, and placebo treatments for acute major depressive disorder in children and adolescents: a multiple-treatments meta-analysis. Curr Med Res Opin 2014; 30 (6): 971–995.
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