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Warum schläft das Kind nicht?
Schlafstörungen bei Säuglingen und Kleinkindern aus der Sicht der Kinderpsychiatrie
Dieser Artikel gibt einen Überblick über Hintergründe von Schlafstörungen im Säuglings- und Kleinkindalter, deren komplexe Einbettung und wechselseitige Bedingtheit in der familiären Situation und zeigt differenzierte Therapieoptionen auf. Die Behandlung der Schlafstörungen ohne Regulationsstörung gehört zu den dankbarsten kinderpsychiatrischen Interventionen, da in den meisten Fällen rasch zu grosser Entlastung beigetragen und nachhaltig geholfen werden kann.
Von Daniel Bindernagel und Suzanne Erb
Schlaf ist essenziell für unser Wohlbefinden. Punktueller Schlafmangel führt zu Irritabilität, Konzentrations- und Leistungsminderung, chronischer Schlafmangel zu psychischen und somatischen Störungen. Dies trifft sowohl auf Erwachsene als auch auf Kinder und Säuglinge zu. Je jünger das Kind, desto wichtiger sind die Entwicklung des Wach-Schlaf-Rhythmus und dessen Verknüpfung mit dem wechselseitigen kindlichen und elterlichen Erleben. Jedes 3. Kind zeigt im Verlaufe seiner Entwicklung vorübergehend eine Störung des Schlafs (1) (s. auch Artikel «Schlafstörungen bei Kindern» von Caroline Benz und Oskar Jenni in dieser Ausgabe der PÄDIATRIE). Wir verbinden mit diesem Beitrag den Wunsch, eine gute Zusammenarbeit zwischen Pädiatrie und Kinderpsychiatrie zu fördern und die pädiatrischen Kollegen für die Komplexität eines simplen Symptoms zu sensibilisieren, damit den oft schwer belasteten jungen Familien möglichst frühzeitig angemessene Hilfe zukommen kann. Diese kann wesentlich zur Verhinderung von frühen Eltern-Kind-Interaktionsstörungen und von Problemen beim Aufbau einer sicheren Bindung beitragen und somit einen wesentlichen Beitrag zur späteren psychischen Gesundheit des Heranwachsenden leisten. Erfahrungshintergrund des Erstautors bildet eine 10-jährige Tätigkeit an der Spezialsprechstunde für Säuglinge und Kleinkinder der Kinder- und Jugendpsychiatrischen Dienste St. Gallen. In dieser Zeit wurden insgesamt zirka 450 Familien mit Kindern im Alter zwischen 0 und 3 Jahren behandelt. Darunter waren rund 120 Kinder mit Regulationsstörungen, welche häufig mit Schlafschwierigkeiten kombiniert sind, und zirka 50 Säuglinge und Kleinkinder mit einer Schlafverhaltensstörung ohne Regulationsstörung.
Definitionen Schlafstörung und Regulationsstörung
Sowohl die Regulationsstörung als auch die Schlafstörung werden in der internationalen Klassifikation DC:0-3R (2) anders definiert als in den deutschen Leitlinien (3). Während im DC:0-3R eine Schlafverhaltensstörung erst nach dem 1. Lebensjahr diagnostiziert wird, ist dies nach den deutschen Leitlinien ab dem 6. Lebensmonat möglich. In beiden wird unterschieden zwischen der Ein- und der Durchschlafstörung. Bei der Einschlafstörung braucht das Kind mehr als eine 1/2 Stunde und ist von elterlichen Einschlafhilfen abhängig. Eine Durchschlafstörung ist nach den deutschen Leitlinien durch mehr als 3-maliges Erwachen über mehr als 20 Minuten in mehr als 4 Nächten pro Woche gekennzeichnet. Für die Regulationsstörung wird im DC: 0-3R ein biologisch orientiertes Erklärungsmodell bevorzugt, das eine sensorisch-motorische Verarbeitungsschwäche des Kindes fordert. Darauf wird in den deutschen Leitlinien verzichtet, weil eine solche schwierig zu diagnostizieren sei. Die Regulationsstörung wird in deutschen Leitlinien zwingend im Zusammenhang einer Eltern-Kind-Interaktionsstörung gesehen. Diese Sichtweise ist für uns nicht haltbar, weil wir Kinder mit Regulationsstörungen ohne ausgeprägte Interaktionsstörung sehen. Gerade in diesen Fällen kann eine aufklärende Beratung rasch zu einer enormen Entlastung führen, weil effektive Beruhigungsmethoden erarbeitet und elterliche Schuldgefühle entkräftet werden können. Aufgrund der klinischen Funktionalität benutzen wir die internationale Klassifikation DC: 0-3R. So unterscheiden wir isolierte Schlafverhaltensstörungen (ohne Regulationsstörungen) von den Schlafstörungen als Ausdruck einer Regulationsstörung. Die Dis-
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Regulationsstörungen bedeuten nicht zwingend auch eine gestörte Eltern-KindInteraktion.
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Am häufigsten ist die Einschlafstörung.
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kussionen über Definitionen und Klassifikationen dauern auch im Rahmen von Überarbeitungen der deutschen Leitlinien zu Regulationsstörungen an. Als Standardwerk für Regulationsstörungen im deutschsprachigen Raum gilt weiterhin das Buch Regulationsstörungen der frühen Kindheit von Papousek et al. (4).
Schlafphysiologie und Schlafbedarf
Gemäss einem Arbeitsmodell von Oscar Jenni (1) unterliegen Schlaf und Wachsein einerseits einem zirkadianen Prozess und werden andererseits über eine Schlafhomöostase gesteuert. Der zirkadiane Prozess ist bereits nach der Geburt funktionstüchtig. Die Regelung des Schlaf-Wach-Gleichgewichtes ist jedoch einer postpartalen Reifung unterworfen, die erst im 2. oder 3. Lebensmonat einsetzt. Der Schlafbedarf selbst ist nicht nur bei Erwachsenen, sondern auch bei Kindern sehr unterschiedlich. Der Schlafbedarf von Säuglingen reicht von 9 bis 19 bei Neugeborenen und 11 bis 17 Stunden bei 1-jährigen Säuglingen pro Tag (2. bis 98. Perzentile). Als Orientierung dienen die Perzentilenkurven für den Gesamtschlafbedarf in 24 Stunden von der Abteilung Entwicklungspädiatrie der Universitätskinderkliniken Zürich (1). Der Schlafbedarf kann einfach mittels eines 24-Stunden-Protokolls über 10 Tage ermittelt werden. Zur Vertiefung dieses Themas verweisen wir auf den Artikel von C. Benz und O. Jenny in dieser Ausgabe.
Einschlafschwierigkeiten und Schreien
Die häufigste Schlafstörung ist die Einschlafstörung, welche häufig mit einer elterlichen Überschätzung des kindlichen Schlafbedarfes im Zusammenhang steht. Falls die Eltern falsche Vorstellungen über das Schlafbedürfnis ihres Kindes haben und ihr Kind schlafen legen, wenn es noch nicht ausreichend müde ist, kann hier eine einfache Beratung bereits zu einer erheblichen Verbesserung des Schlafverhaltens führen. Etwas komplexer verhält es sich mit Einschlafschwierigkeiten bei Säuglingen, die häufig mit exzessivem Schreien verbunden sind. Nach der Wesselschen Regel liegt exzessives Schreien dann vor, wenn die Schreiepisoden mehr als 3 Stunden pro Tag an mehr als 3 Tagen pro Woche über einen Zeitraum von mehr als 3 Wochen vorhanden sind. Diese Regel kann unseres Erachtens nur als Orientierung für den Arzt dienen (5). Für betroffene Eltern spielt sie keine Rolle, da die subjektiv empfundene Belastung extrem variiert, das subjektive Erleben aber zentral für die Vorbereitung und die Auswahl der Intervention ist. Nach Ausschluss einer organischen Ursache ist diagnostisch zu klären, ob nur eine durch das Schreien bedingte und unterhaltene Belastung der Eltern-KindBeziehung oder ob eine generelle Eltern-Kind-Interaktionsstörung vorliegt. Im Dialog mit den Eltern ist weiterhin zu klären, was für sie die Hauptbelastung darstellt und was ihr vordringliches Ziel ist. Für den einen ist es das nächtliche Durchschlafen, für andere die Einschlafsituation am Abend, für wieder andere der Schlaf-Wach-Rhythmus tagsüber. Natürlich hängt alles zusammen, aber es ist wichtig, nicht alles gleich-
zeitig anzugehen, sondern eine individuelle Hierarchie der Ziele zu erarbeiten. So kann sich bei einem schrittweisen Vorgehen rasch ein Erfolgserlebnis mit einem teilweisen Wiedererlangen von elterlicher Selbstwirksamkeit einstellen. Auf diesem Boden verbessert sich die Compliance, und es können nächste Ziele angegangen werden.
Einfaches Symptom – komplexe Problematik
So einfach und unmittelbar das Symptom eines schreienden Säuglings, der nicht schlafen kann, ist, so komplex und vielschichtig können die dahinterliegende Problematik und Dynamik sein. Vor allem bei den Fällen, die zum Kinder- und Jugendpsychiater überwiesen werden und bei denen Beratungen bei der Mütter- und Väterberatung und/oder beim Kinderarzt bisher noch nicht zum Erfolg geführt haben, ist es wichtig, die Ebene und den Fokus für eine erfolgreiche Intervention zuerst sorgfältig zu erarbeiten. Eine sorgfältige Analyse der verschiedenen Ebenen ist darum wichtig. Sie reichen von der übergeordneten, kulturellen und gesellschaftlichen Einbettung einer Familie über die Ebene der innerfamilialen Dynamik, die Identifikation mit den elterlichen Aufgaben und gemeinsamen Elternschaft über die ElternKind-Beziehung bis hin zur individuellen Ebene des kindlichen Temperamentes und seiner konstitutionellen Ausstattung. Die Familie eines Säuglings hat immense Entwicklungsaufgaben zu bewältigen. Der Übergang zur Elternschaft, der durch die Geburt des Kindes ja nur markiert wird und sich über einen längeren Zeitraum präkonzeptionell, pränatal und postnatal erstreckt, ist hoch komplex und erfordert erhebliche Anpassungsprozesse von allen Beteiligten. Eine Kommunikation zu dritt (6) und eine Integration der beiden Herkunftsfamilien sind essenzielle Herausforderungen, die zu bewältigen sind. Dabei ist auch der Aufbau einer mütterlichen und väterlichen Identität ein fortlaufender Prozess, der seine Basis in den eigenen Kindheitserfahrungen der Eltern hat. Unterstützend für diese Identitätsbildung ist eine «mütterliche Matrix» (7). Damit ist ein bemutterndes Netzwerk gemeint, in dem sich die Mutter zugehörig und aufgehoben fühlt. Konkret braucht die Mutter eine Gruppe von Menschen, die sie unterstützt und nährt. Eltern greifen beim Umgang mit ihrem Kind automatisch auf ihre Kind-Eltern-Erfahrungen zurück. Hier können vor allem bei traumatischen Erfahrungen sogenannte «Gespenster im Kinderzimmer» (8) bei den Eltern zu erheblichen Wahrnehmungsverzerrungen kindlicher Signale führen und so zur Aufrechterhaltung der Schlafstörung beitragen, ohne dass dies den Eltern bewusst ist. Das schreiende Kind kann insbesondere bei Müttern, die interpersonelle Gewalt erlebt haben, selbst zum Trigger von traumatischem Wiedererleben oder anderen posttraumatischen Reaktionen werden (9). Das Nicht-Schlafen-Können des Kindes kann bei entsprechender elterlicher Disposition dann zum Ausgangspunkt einer Negativentwicklung werden, bei der der Prozess der mütterlichen und väterlichen Identitätsbildung, der Aufbau einer
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funktionalen Elternschaft und eine gelingende trianguläre Kommunikation erheblich beeinträchtigt sind. Dies wiederum führt zu Selbstzweifeln und schliesslich zu depressiven Entwicklungen bei den Eltern. Weitere Auslöser solcher Negativentwicklungen können zum Beispiel psychische Belastungen der Eltern oder elterliche Konflikte sein. Bei einer fortgesetzt negativen Entwicklung kann sich beim Kind die Symptomatik chronifizieren, langfristig auf andere Funktionsbereiche wie zum Beispiel das Ess- oder Sozialverhalten auswirken und eine unsichere Bindungsentwicklung begünstigen. Mit der elterlichen Überforderung und damit einhergehenden Tendenz zur Eskalation in der Eltern-Kind-Interaktion steigt ausserdem die Gefahr von Misshandlung drastisch. Gelingt andererseits im Rahmen der therapeutischen Intervention eine Bewusstwerdung und Bearbeitung dieser biografischen Wurzeln, können nebst der Schlafproblematik kindliche Fehlentwicklungen in einem präventiven Sinne vermieden und statt dessen nachhaltig positive Entwicklungen in Gang gesetzt werden.
Reduktion von Komplexität: ein Pyramidenmodell
Eltern von Kindern mit Schlafstörungen kommen zu uns, weil sie leiden. Für sie steht der Wunsch nach Entlastung im Vordergrund, nicht Reflexion oder Erkenntnisgewinn. Deshalb ist es günstig, wenn wir Therapeuten Komplexität verringern können und mit unseren Patienten einfach, am besten in ihren Worten, das heisst ihrer Eigensprache (10) sprechen können. Zur Vereinfachung und als Arbeitsinstrument für unsere Mitarbeitenden hat sich in der Babysprechstunde unserer Institution ein Pyramidenmodell bewährt, mit dem sich der diagnostisch-therapeutische Zugang nicht nur für Säuglinge und Kleinkinder mit Schlafstörungen, sondern generell für diesen Altersbereich praktikabel erarbeiten lässt (Abbildung). Mit einigen Eltern kann man dieses Modell gewinnbringend direkt besprechen. Wenn ein Kind – vor allem das erste – geborene wird, gibt es zahlreiche, vereinfachend dargestellt 5 neue Herausforderungen zu meistern: Das Kind «ist neu», die Eltern-Kind-Beziehung ist «neu», die Elternschaft entsteht, zwei Herkunftsfamilien müssen in irgendeiner Form zur Bildung einer neuen generativen Einheit integriert werden, und schliesslich muss sich die Familie als solche in Kultur und Gesellschaft integrieren. Im Rahmen unseres diagnostisch-therapeutischen Prozesses werden mindestens diese 5 Ebenen beurteilt. Je nach Ressourcen und Pathologien müssen einzelne Ebenen vertieft abgeklärt werden. Bezogen auf die Schlafstörung ergeben sich folgende Fragestellungen zu den verschiedenen Ebenen der Pyramide, beginnend mit der Pyramidenspitze, nämlich:
Ebene des Kindes: Wie ist das Kind selbst zu beurteilen? Hat es körperliche oder sensomotorische Einschränkungen? Auf welches Temperament lässt sein Verhalten schliessen? Ist das Kind empfindlich, irritabel oder über-
erregt? Wie bringt es sich in die Interaktion ein? Ist es selbst feinfühlig, responsiv oder eher zurückgezogen und schwer zu involvieren? Wie reagiert es auf Veränderungen?
Ebene der Eltern-Kind-Beziehung: Hier wird zunächst die beobachtbare Verhaltensebene der Interaktion analysiert. Dies kann im Rahmen der klinischen Beobachtung oder mittels Videoaufzeichnung erfolgen. Bewährt hat sich hier die Video-Interaktions-Analyse, weil Signale so «unter die Lupe» genommen und vertieft verstanden werden können. So lassen sich Interaktionsmuster vor allem der körperlichen, aber auch der verbal-vokalen Kommunikation erkennen, die sich den normalen klinischen Beobachtungen entziehen oder in der kommunikativ hochkomplexen Untersuchungssituation untergehen. Sind hier dysfunktionale Muster zu erkennen, ist eine interaktionsbasierte Eltern-Kind-Therapie anzustreben. Damit werden nicht nur die aktuellen Symptome des Kindes behandelt, sondern entscheidende Grundlagen für die weitere Entwicklung des Kindes gelegt. Die Stabilität dysfunktionaler Kommunikationsmuster über die Zeit und deren Einfluss auf die spätere Entwicklung des Kindes in Bezug auf prosoziales Verhalten wurden in zahlreichen Untersuchungen nachgewiesen. Des Weiteren sind in Bezug auf die Eltern-Kind-Beziehung die Vorstellungen, Interpretationen und Phantasien der Eltern über ihr Kind zu erfragen und zu reflektieren. Diese sind hoch bedeutsam, weil sie die kindliche Symptomatik hervorrufen und unterhalten können (siehe oben «Gespenster im Kinderzimmer»). Auch ist die Frage wichtig, ob es Ängste bei den Eltern gibt, die das Kind gewissermassen wach halten und nicht einschlafen lassen. Zum vertieften Verständnis des Geschehens in der Eltern-Kind-Beziehung ist auch die Reflexion der Übertragung und Gegenübertragung in der diagnostisch-therapeutischen Beziehung zwischen Eltern beziehungsweise Kind und Therapeut sehr hilfreich.
Nicht alles gleichzeitig angehen, sondern eine individuelle Hierarchie der Ziele erarbeiten!
Ebene der Elternschaft: Der englische Begriff «Co-Parenting» beschreibt die Zusammenarbeit der beiden Eltern in Bezug auf das Kind als Voraussetzung für eine funktionale Versorgung, Pflege und Förderung des Kindes. Das schreiende oder nicht schlafende Kind stellt diese Zusammenarbeit hart auf die Probe. Von dem Familientherapeuten J. McHale (11) wurden ausgehend von Minuchin verschiedene Grundtypen in dieser Zusammenarbeit beschrieben, die im Grad ihrer Pathologie und ihrer negativen Auswirkungen auf das Kind abgestuft sind. Das Konzept gibt dem Therapeuten eine wichtige Orientierung bei der Diagnostik und Planung von Interventionen zur Förderung der Elternschaft. Weil die Elternschaft eine Schlüsselfunktion einnimmt, sollte in jedem Fall, auch wenn hier keine überdauernden Pathologien vor- Abbildung: Pyramidenmodell nach Bindernagel und Mögel
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Eine sorgfältige Analyse der verschiedenen Ebenen ist wichtig.
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handen sind, die elterliche Zusammenarbeit bei einem nicht schlafenden Kind gestärkt werden. Es gibt Fälle, bei denen allein die Förderung der elterlichen Kooperation zu einem Rückgang der Symptomatik führt. Das Kind beruhigt sich und lernt selbständig einzuschlafen. Vor dem Hintergrund einer psychodynamischen Theorie vollzieht sich diese Beruhigung über eine Stärkung des elterlichen «Containing» (12). Das Kind fühlt sich mit seinen unangenehmen Gefühlen besser gehalten und weniger auf sich allein gestellt.
Ebene der Familie: Hier fliessen familiäre Faktoren wie psychisches Befinden der Eltern, Paardynamik und Unterstützung der Herkunftsfamilien ein. Generationelle Konflikte, welche bei einer Geburt reaktiviert werden können, haben einen entscheidenden Einfluss auf die Befindlichkeit des Säuglings. Säuglinge sind eindrückliche «Seismografen». Ein schreiendes oder nicht schlafen könnendes Kind kann die Beunruhigung der Familie durch diese Konflikte zum Ausdruck bringen. Gelingt es im Rahmen der therapeutischen Intervention, diese Konflikte zu bearbeiten und Unterstützungstendenzen von Grosseltern oder anderen Bezugspersonen zu fördern, kann das über eine Beruhigung der Gesamtsituation und über eine Stärkung der oben erwähnten mütterlichen Matrix zu einem Rückgang der Schlafstörung führen, ohne dass andere therapeutische Interventionen nötig werden.
Gesellschaftlich-kulturelle Ebene: Hier bildet sich die gesellschaftlich-kulturelle Einbettung und Bedingtheit der Familie ab. Psychosozialer Status, ethnische Traditionen und Migrationshintergrund wirken sich stark auf Bewertung von und Umgang mit kindlichen Verhaltensweisen aus. Jede Familie ist eine «Kultur für sich», die vom Therapeuten soweit möglich erforscht und verstanden werden sollte. Auf dieser Ebene fliessen auch die kulturellen Vorannahmen, die Werthaltung und die theoretische Verankerung des Therapeuten und der institutionelle Kontext der Ärztin oder des Therapeuten mit ein, die ihr Handeln bewusst oder unbewusst bestimmen.
Fallbeispiel
Der knapp 1/2-jährige Andreas (Name geändert) wird vom Kinderspital als «Schreibaby» mit Regulationsstörung während einer akuten Entlastungshospitalisation an der Babysprechstunde angemeldet. Die Mutter sei sehr erschöpft und wirke depressiv. In der ersten Konsultation mit der Mutter allein am Tag der Überweisung zeigt sich eine differenzierte, hochbelastete, häufig weinende Frau. Andreas sei nach einer schönen und körperlich ohne Komplikationen verlaufenen Schwangerschaft spontan in der 38 6/7 SSW für die Mutter nahezu schmerzlos und zügig geboren worden. Er sei in der 2. LW abgestillt worden. Das exzessive Schreien habe in der 8. LW begonnen. Die Mutter beschreibt dann, wie sie an ihren eigenen Ansprüchen, Andreas beruhigen zu können, immer für ihn da zu sein, ihm ganz allgemein eine gute Mutter zu sein, scheitert. Auch werde sie dem 2 Jahre älteren Bruder und ihrem Ehemann, der sie vorbildlich
unterstütze, nicht mehr gerecht. Es zeigen sich überhöhte Selbstansprüche, deutliche Selbstabwertungstendenzen, dysfunktionale Denkmuster und vielfältige Erschöpfungssymptome. In der zweiten Konsultation mit Mutter, Vater und Andreas lässt sich ein altersgemäss entwickelter Säugling beobachten, der sowohl mit den Eltern als auch mit dem Untersucher in einen wechselseitigen, teilweise fröhlichen Kontakt geht. Es zeigen sich kurze Phasen von Unzufriedenheit ohne erkennbare Auslöser, sowie einige Hinweise auf eine Regulationsempfindlichkeit. Der Vater macht einen stabilen, ausgeglichenen und emotional präsenten Eindruck. Er schildert die Belastungssituation aus seiner Sicht. Die familiäre Atmosphäre und die Paarbeziehung würden zunehmend beeinträchtigt. Beide Eltern können ihre Hilflosigkeit beschreiben. In der Mutter-Kind-Interaktion lässt sich eine angespannte Überinvolvierung der Mutter bei sonst guten interaktiven Fähigkeiten feststellen. Die Mutter bringt ein 24-Stunden-Schlafprotokoll mit, das äusserst sorgfältig und lückenlos über zwei Wochen ausgefüllt ist. Es lassen sich häufige kurze Schreiepisoden tagsüber und nachts ohne Koppelung an die Nahrungsaufnahme, mit einer Häufigkeit von 8 bis 10 Episoden pro 24 Stunden, sowie ein fehlender regelmässiger Fütterrhythmus erkennen. Den Eltern werden verschiedene Optionen des therapeutischen Vorgehens erläutert und angeboten. Die Mutter entscheidet sich zunächst für eine verhaltensorientierte Beratung und möchte die Möglichkeit für eine interaktionsbasierte Eltern-Kind-Therapie für später offen halten. Das Thema der Regulationsempfindlichkeit von Andreas wird ausführlich mit beiden Eltern besprochen. Es wird darauf hingewiesen, dass sich diese besonders im Zusammenhang mit anstehenden Entwicklungsaufgaben – aktuell ist dies vor allem das Erlangen der motorischen Fähigkeiten zur Fortbewegung – zeigen könne. Nach Erlangen der neuen Bewegungsfreiheit seien solche Regulationsschwierigkeiten häufig rückläufig. Es wird empfohlen, einen klaren Fütterrhythmus zu etablieren. In einer dritten Konsultation kommt die Mutter mit Andreas deutlich entlastet und in guter Stimmung. Auch die Interaktion zwischen beiden wirkt deutlich entspannt. Das erneute Schlafprotokoll zeigt einen klaren und regelmässigen Rhythmus mit 6 Mahlzeiten, die Schreiepisoden haben auf 4 pro 24 Stunden deutlich abgenommen. Die Mutter hat an Selbstsicherheit gewonnen. Bei einem Vergleich der Schlafprotokolle ist sie sehr überrascht über den etablierten Rhythmus und auch stolz über ihre Leistung als Mutter.
Reflexion des Fallbeispiels
In diesem Fallbeispiel wird die integrative diagnostisch-therapeutische Vorgehensweise deutlich. Der Fokus der Intervention liegt im Pyramidenmodell auf den beiden Ebenen «Familie» und «Elternschaft». Gleichzeitig wird deutlich, wie die beiden höheren Ebenen «Eltern-Kind-Beziehung» und das «Kind» selbst indirekt positiv beeinflusst werden. Die Befunde des Schlafprotokolls sind für die Mutter offenbar am leichtesten aufzunehmen und zu bearbeiten.
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Insofern ist die Intervention verhaltensorientiert. Die Hinweise auf die Regulationsempfindlichkeit von Andreas fliessen in eine entwicklungspsychologische Beratung der Eltern ein. Die Befunde aus der Interaktionsbeobachtung (Überinvolvierung der Mutter) werden indirekt berücksichtigt, indem die Mutter ein Feedback über ihre guten interaktiven Fähigkeiten erhält, eine Rückenstärkung ihrer mütterlichen Rolle erfährt und ermuntert wird, sich eigene – wenn auch nur sehr begrenzte – «Inseln» zur Erholung und zum Kraftschöpfen einzurichten. Sie kann entspannen, ihr überhöhtes mütterliches Ideal kann etwas gelockert werden. Die Elternschaft kann gestärkt werden, indem die Leistungen beider Elternteile gewürdigt und die Sorgen des Vaters um seine Ehefrau aufgenommen werden. Natürlich wäre es wünschenswert, mit dieser Mutter vertieft biografisch an den Wurzeln ihrer eher rigiden, zur Selbstabwertung neigenden Verhaltensmuster zu arbeiten. Weil aber ihre Ziele innerhalb der drei Konsultationen erreicht worden sind, wünscht sie diese Fortsetzung aktuell nicht und ist mit der aktuellen, positiven Entwicklung zufrieden. In der von uns routinemässig durchgeführten Verlaufsevaluation zu Beginn, zum Abschluss der Behandlung und 6 Monate nach Abschluss zeigt sich eine signifikante Reduktion der Problembelastung, eine vollständige Rückbildung der depressiven mütterlichen Symptome in der «Edinburgh Postnatal Depression Scale» und eine Steigerung des mütterlichen Selbstvertrauens im Umgang mit dem Kind in der «Karitane Parenting Confidence Scale».
Literatur: 1. Benz C, Jenni O. Schlafstörungen im Kindesalter. Schweiz Med Forum 2010; 10 (11): 204–207. 2. Zero to Three: Diagnostic classification of mental health and developmental disorders of infancy and early childhood; revised edition (DC:0-3R) 2005; ISBN-13: 978-0-94365790-5. 3. www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/028-028.html 4. Papousek M, Schieche M, Wurmser H. Regulationsstörungen der frühen Kindheit – Frühe Risiken und Hilfen im Entwicklungskontext der Eltern-Kind-Beziehung. Bern, Hans Huber Verlag 2004. 5. von Wyl A, Bindernagel D, Mögel M, Zollinger R. Schreibabies – zur Behandlung von Regulationsstörungen im Säuglingsalter. Schweiz Med Forum 2010; 10 (6): 108–110. 6. Fivaz-Depeursinge E. Trianguläre Kommunikation. Familiendynamik, Heft 2/2009. 7. Stern DN. The motherhood constellation: A unified view of parent-infant psychotherapy. London, Karnac Books 1995. 8. Fraiberg S, Adelson E, Shapiro V. Ghosts in the nursery. A psychoanalytic approach to the problems of impaired infant-mother relationships. J Am Acad Child Psychiatry 1975; 1483: 387–421. 9. Schechter D, Rusconi S. Applying clinically-relevant developmental neuroscience towards interventions that better target intergenerational transmission of violent trauma. The Signal 2011; 19 (3): 9–17. 10. Bindernagel D, Krüger E, Rentel T, Winkler P. Schlüsselworte – idiolektische Gesprächsführung in Therapie, Beratung und Coaching. Heidelberg, Carl-Auer Verlag 2010. 11. McHale JP, Fivaz-Depeursinge E. Principles of effective co-parenting and its assessment in infancy and early childhood. In S. Tyano et al. Parenthood and Mental Health: A Bridge between Infant and Adult Psychiatry (p: 359–371). New Jersey, Wiley & Sons 2010. 12. Salomonsson B: Psychoanalytic Therapy with Infants and Parents – practice, theory and results. New York, Routledge 2014.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Daniel Bindernagel Leitender Arzt Kinder- und Jugendpsychiatrische Dienste St. Gallen Brühlgasse 35/37 9004 St. Gallen E-Mail: daniel.bindernagel@kjpd-sg.ch
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