Transkript
SCHWERPUNKT
Der erste epileptische Anfall
Was ist zu tun und was nicht?
Ein erster epileptischer Anfall konfrontiert den primär behandelnden Pädiater mit verschiedenen Fragen: Was ist in der akuten Situation vordringlich zu tun? Handelt es sich bei dem Ereignis um einen epileptischen Anfall oder eine andere paroxysmale Störung? Wenn es ein epileptischer Anfall war, gab es einen spezifischen Auslöser oder einen Grund dafür? Welche Untersuchungen sind notwendig, welche entbehrlich? Benötigt das Kind eine Behandlung, wenn ja welche und wie rasch? Der vorliegende Artikel möchte auf diese und weitere Fragen im Zusammenhang mit dem ersten afebrilen Anfall eine Antwort geben.
Von Simon Novak und Oliver Maier
Eine gute Anamnese ist extrem wichtig.
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Die Prävalenz der Epilepsie liegt bei Kindern um 0,5 Prozent, in der Gesamtbevölkerung um 0,5 bis 0,7 Prozent. Sie ist somit eine sehr häufig vorkommende neurologische Erkrankung. Die Rate der Neuerkrankungen liegt bei ungefähr 50/100 000 Menschen pro Jahr, etwa ein Drittel aller Epilepsien beginnt im Kindesalter (1, 2). Nach einem ersten (afebrilen) epileptischen Anfall tritt in zirka der Hälfte der Fälle kein erneuter Anfall auf, und 20 Prozent der Kinder mit einem zweiten Anfall werden keinen weiteren haben (3). Das Risiko für ein erneutes Auftreten eines Anfalls ist erhöht bei fokalen Anfällen, neurologischen Auffälligkeiten, Entwicklungsretardierung, positiver Familienanamnese für Epilepsie oder auch spezifischen Veränderungen im EEG. Abzugrenzen vom ersten afebrilen Anfall ist unter anderem der Fieberkrampf. Die Prävalenz für einen Fieberkrampf für Kinder in Europa und in Nordamerika liegt bei zirka 3 bis 5 Prozent. Das Wiederholungsrisiko für einen erneuten Fieberkrampf liegt bei zirka 30 Prozent. Nach einem Fieberkrampf, auch einem wiederholten, erhöht sich das Epilepsierisiko nur gering (4).
Entscheidend ist die Anamnese
Die Diagnose eines epileptischen Anfalles wird massgeblich durch die Anamnese gestellt. Daher kann die Bedeutung der Anamnese nicht genug betont werden. Für die korrekte Anfallsklassifikation ist die sorgfältige Erfragung und Beschreibung der Anfälle unerlässlich (Tabelle 1). Dabei sollten in der Anamnese deskriptive Formulierungen bevorzugt und eine vorschnelle klassifikatorische Zuordnung vermieden werden. Wichtig ist vor allem die Frage nach Symptomen zu Beginn des Anfalls, da diese den besten Aufschluss darüber geben, ob es sich um einen fokalen oder ge-
neralisierten Anfall gehandelt hat. Motorische Phänomene, bestimmte Verhaltensauffälligkeiten, sensible oder sensorische Wahrnehmungen zeigen einen fokalen Anfall an, der seinen Ursprung in einer umschriebenen Hirnregion hat. Postiktal umschriebene Lähmungen, Sensibilitätsstörungen oder eine Aphasie weisen auf den Anfallsursprung in einer Hemisphäre hin (Tabelle 2). Motorische Asymmetrien gegen Ende des Anfalls haben einen eher geringen lokalisatorischen Wert und kommen auch bei primär generalisierten Anfällen vor. Die Dauer des Anfalls ist ebenfalls zu erfragen, wobei diese oft erheblich überschätzt wird. Neben dem Gespräch mit den Eltern sollte die Anamnese stets auch eine Befragung des Kindes beinhalten. Kurz nach einem Anfall ist eine Auskunft durch das Kind oder die Jugendlichen jedoch meist nicht möglich. Auch ist die Situation unmittelbar nach einem ersten Anfall meist stark emotional geprägt. Daher sollte nach der initialen Bestandsaufnahme und der Primärversorgung die Anamnese in einer dann ruhigen Situation wiederholt erfolgen. Es kann auch notwendig sein, Augenzeugen telefonisch zu befragen, um ein vollständiges Bild des Anfallsherganges zu erhalten. Oft können Video- oder Handyaufzeichnungen durch die Eltern hilfreich sein, vor allem bei sich wiederholenden Anfallsereignissen (5, 6). Ergänzend zur akuten Anfallsanamnese sind die Begleitumstände und allfällige Vorerkrankungen sowie die Familien- und Umgebungsanamnese zu erheben.
Was könnte es alles sein?
Die Differenzialdiagnose für einen epileptischen Anfall ist weit. Abzugrenzen sind sogenannte Gelegenheitsanfälle, aber auch nichtepileptische Anfälle. Zu den Gelegenheitsanfällen gehören Fieberkrämpfe sowie infektassoziierte Anfälle, zum Beispiel im Rahmen
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SCHWERPUNKT
Tabelle 1: Relevante Punkte der Anamnese nach einem ersten Anfall
Symptome im Rahmen des Ereignisses (iktal)
Wofür spricht welcher Befund?
Einige Beispiele, ohne Anspruch auf Vollständigkeit.
In welcher Situation bzw. aus welcher Situation heraus trat das Ereignis auf?
Stark emotional geprägte Situationen: DD Affektkrampf
Aus dem Schlaf heraus, v.a. am Morgen: DD Aufwach-Grand-Mal
Subjektive Gefühle und Empfindungen vor oder zu Beginn des Ereignisses?
Aura als mögliches Zeichen eines fokalen epileptischen Anfalls, z.B. «komisches
Gefühl im Bauch» als mögliche epigastrische Aura bei Anfall aus dem Temporallap-
pen; z.B. «ich sehe etwas Komisches» als mögliche visuelle Aura bei Anfall aus dem
Okzipitallappen.
Stimmungslage: Angst, Erregung, Freude? Stimmung vor, während, nach dem Ereignis? Zum Beispiel ausgeprägte Erregung bei möglichen Frontallappenanfällen;
z.B. Angstzustände bei amygdalären Anfällen. DD Affektkrämpfe bedenken.
Bewusstsein erhalten, eingeschränkt oder aufgehoben?
Wichtiges Unterscheidungskriterium bei fokalen Anfällen: Anfälle mit erhaltenem
Bewusstsein wurden früher als einfach-fokal, mit aufgehobenem Bewusstsein als
komplex-fokal bezeichnet. Heute als fokale Anfälle mit oder ohne eingeschränktem
Bewusstsein.
Unfähigkeit zu sprechen, trotz erhaltenem Bewusstsein?
Hinweis auf fokalen Anfall der sprachdominanten Hemisphäre (in zirka 90% links-
seitige Sprachdominanz). Dient als wichtiger lateralisierender Hinweis (kommt der
Anfall von rechts oder links?).
Kopf- oder Blickwendung? Körperhaltung? Bewegungsmuster, z.B. rhythmisch oder Fokale bzw. asymmetrische Muster sprechen für primär-fokalen und dann gegebe-
unrhythmisch? Symmetrisch oder asymmetrisch? Steif oder locker?
nenfalls sekundär generalisierten Anfall.
Sinnlose oder ungerichtete Bewegungen? Nesteln? Periorale Automatismen?
Bei verschiedenen fokalen Anfällen möglich, sowohl temporal als auch extra-
temporal.
Wechselnde Atemmuster? Atempausen? Zyanose?
Ausgeprägte vegetative Beteiligung bei fokalen Anfällen möglich, z.B. Temporal- -
aber auch Frontallappenanfälle.
Wechsel der Herz- oder Atemfrequenz? Gesichtsrötung oder -blässe?
Vegetative Beteiligung bei verschiedenen Epilepsieformen möglich.
Übelkeit oder Erbrechen?
Bei verschiedenen Anfallsformen möglich, z.B. beim Panayiotopoulos-Syndrom
(benigne Epilepsie mit okzipitalen Sharp-Waves), aber auch z.B. bei Rolando-Epilep-
sie oder Temporallappenepilepsie.
Vermehrter Speichelfluss? «Schaum» vor dem Mund?
Zum Beispiel bei Rolando-Epilepsie häufig, dabei weitere Zeichen eines fokalen
Anfalls (Mundwinkelzuckungen, unilaterale Zuckungen der Extremitäten).
Aber auch bei Grand-Mal-Anfällen möglich.
Inkontinenz?
Bei verschiedenen fokalen Anfällen ist iktaler Harndrang möglich. Inkontinenz
im Anfall jedoch meist unspezifisch, d.h. bei voller Blase kann generalisierter Tonus-
verlust zu unwillkürlichem Harnabgang führen. Lässt nur wenig Rückschlüsse zu.
Myosis oder Mydriasis?
Zeichen für vegetative Mitbeteiligung bei fokalen sowie auch generalisierten
Anfällen.
Augen geöffnet oder geschlossen im Anfall?
Bei epileptischen Anfällen Augen (meist) geöffnet, bei nicht epileptischen psycho-
genen Anfällen Augen (meist) geschlossen.
Symptome nach dem Ereignis (postiktal) Amnesie für das Ereignis?
Müdigkeit? Kopf-, Muskel-, Gliederschmerzen? Vorübergehende fokale Schwäche oder Lähmung (sog. Toddsche Parese)? Übelkeit und/oder Erbrechen?
Dauer, bis wieder «alles normal» ist?
Bei generalisierten Anfällen nahezu immer Amnesie für den Anfall, bei fokalen Anfällen auch möglich, jedoch wird das Ereignis oder zumindest der Anfang oft erinnert. Auch bei psychogenen Anfällen meist Amnesie für das Ereignis. Nach Grand-Mal-Anfällen meist ausgeprägt, kann aber auch z.B. nach Affektkrämpfen oder fokalen Anfällen vorkommen. Vor allem nach Grand-Mal-Anfällen, jedoch auch nach fokalen Anfällen mit (einseitigen) ausgeprägten Kloni oder nach iktaler Tonuserhöhung möglich. Bei fokal-motorischen Anfällen möglich. Entspricht der kontralateralen Hirnhälfte (Kreuzung der Bahnen). Bei bestimmten fokalen Anfällen nicht selten, z.B. Anfälle aus dem Temporallappen, aber auch bei Panayiotopoulos-Epilepsie und gelegentlich nach Grand-MalAnfällen. Zum Beispiel bei Anfällen aus dem Frontallappen meist sehr kurze Reorientierung, bei Grand-Mal-Anfällen oder Temporallappenanfällen längere Dauer.
Weitere relevante Aspekte der Anamnese Alter beim ersten Anfall Schwangerschaft und Geburt
Entwicklungsanamnese Verhaltensanamnese
bisherige Erkrankungen
Zuordnung zu altersgebundenem Epilepsiesyndrom möglich? Intrauterin auffällige Kindsbewegungen als möglicher Hinweis auf Anfälle für differenzierte Diagnose und Prognoseabschätzung wichtig. Schwangerschafts- und Geburtskomplikationen als mögliche Ursache der Epilepsie? Entwicklungsauffälligkeiten können mit Epilepsie assoziiert sein. Differenzialdiagnostische Abwägungen, z.B. Affektkrämpfe, ADHS, psychogene Anfälle. Aber auch im Hinblick auf allfällige medikamentöse Therapie von Bedeutung (bei Wahl des Antikonvulsivums berücksichtigen). Anfall im Sinne einer Komorbidität. Ausserdem bei allfälliger antikonvulsiver Therapie bedeutsam.
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SCHWERPUNKT
Fortsetzung Tabelle 1:
gesundheitliche Aspekte zum Zeitpunkt des Ereignisses und im Vorfeld andere Aspekte im Vorfeld, z.B. Traumata, Toxine, Lebensumstände, Schlafsituation Familienanamnese, insbesondere bezüglich Epilepsie und nicht epileptischer Anfälle schulische und soziale Anamnese
Anfall im Rahmen eines (afebrilen) Infektes im Sinne eines Gelegenheitsanfalles, insbesondere bei Gastroenteritiden nicht so selten. DD Gelegenheitsanfall nach entsprechender Provokation in Abgrenzung zu erstem epileptischem Anfall. Bei positiver Familienanamnese erhöhtes Risiko für Epilepsie. Hinweise für monogene Epilepsie, zum Beispiel bei nächtlichen Frontallappenanfällen. Abfall schulischer Leistungen im Vorfeld des ersten Anfalls als möglicher Hinweis für bereits vorbestehende (bislang nicht erkannte) Symptomatik. Mögliche Verhaltensauffälligkeiten als Hinweis für Komorbidität.
einer Meningitis oder Enzephalitis. Auch Anfälle bei Hyper- oder Hypoglykämien, Elektrolytentgleisungen, Intoxikationen sowie Anfälle nach Schädel-Hirn-Traumata gehören zu den Gelegenheitsanfällen. Diese Anfälle laufen analog einem epileptischen Anfall ab, sind jedoch als situativ bedingte Anfälle zu werten. Gelegentlich kann erst im Verlauf, also nach mehrmaligen Anfällen differenziert werden, ob es sich um provozierte oder unprovozierte Anfälle handelt, sodass eine Diagnose nach einem ersten Anfall nicht immer möglich ist (7). Ausserdem kann eine Vielzahl paroxysmaler Störungen wie ein epileptischer Anfall imponieren und ist hiervon abzugrenzen. Mögliche Differenzialdiagnosen nichtepileptischer Anfälle sind in Tabelle 3 dargestellt.
Wie ist das Vorgehen?
Zunächst gilt es das Kind zu stabilisieren und zu klären, ob eine akute Therapie notwendig ist. Die Erstmanifestation einer Epilepsie mit einem Status epilepticus ist ein extrem seltenes Ereignis, welches eine Anfallsdurchbrechung mittels eines Benzodiazepins und allenfalls weiterer Medikamente sowie eine intensivmedizinische Therapie erfordert. In den meisten Fällen ist der Anfall jedoch vorbei, wenn medizinische Hilfe aufgesucht wird, sodass Zeit zur Festlegung und Durchführung der weiteren Schritte bleibt.
Klinische Untersuchung
Neben der allgemeinpädiatrischen Untersuchung ist die Erhebung des neurologischen Status obligat. Zum
Tabelle 2: Klassifikation epileptischer Anfälle nach der Semiologie
Anfallsbeobachtung
• initial ausgeprägte Anspannung der Extremitäten • Übergang in rhythmische Zuckungen aller Extremitäten
• plötzliches Innehalten, starrer Blick • verminderte Reagibilität • Dauer bis zirka 10 bis 20 Sekunden gelegentlich mit
Blinzeln, Nesteln, diskreten Mundbewegungen • gelegentlich mit Zuckungen der Augenlider • Zuckungen der Extremitäten möglich
• plötzliche Zuckung einer Extremität oder mehrerer Extremitäten
• Einzelzuckung oder wiederholte Zuckungen möglich • Auftreten ausschliesslich als Zuckung möglich oder auch
mit nachfolgendem Tonusverlust oder Tonuserhöhung der Muskulatur
• plötzlicher Verlust der Körperspannung • mit oder ohne nachfolgenden Sturz
• plötzliche, ausgeprägte Erhöhung der Körperspannung, zum Teil nur die oberen Extremitäten betreffend, zum Teil den ganzen Körper
– mit oder ohne nachfolgenden Sturz
Aurasymptome: • «aufsteigendes Gefühl aus der Magengegend» • «Ich sehe etwas Komisches.» • «komische Geruchssensationen» • ausgeprägte Angst, Panik • komplexe, heftige, stammnahe Automatismen
(«Fahrradfahren»), Ähnlichkeit zu psychogenen (nichtepileptischen) Anfällen, komplexe Vokalisationen
Mögliche Anfallsklassifikation tonisch-klonischer Anfall
Absence Unterteilung der Absencen in typisch und atypisch, Absencen mit Automatismen, mit Lidmyoklonien oder anderen Merkmalen
myoklonischer Anfall
atonischer Anfall
tonischer Anfall
Aura z.B. epigastrische Aura z.B. visuelle Aura z.B. olfaktorische Aura z.B. amygdaläre Aura z.B. frontaler Anfall
Anmerkungen Fokaler Beginn möglich, stets Anfang erfragen; kann auch z.B. tonisch-klonisch-tonisch oder klonisch-tonisch verlaufen. Korrekte Klassifikation der Absencen oft nur mit simultaner Video-EEG-Aufzeichnung möglich («iktales EEG»).
Myoklonische Anfälle können isoliert sowie als myoklonischatonische oder myoklonisch-tonische Anfälle ablaufen. Auch hier korrekte Klassifikation oft nur mit simultaner Video-EEG-Aufzeichnung möglich.
Anfälle mit Sturz können tonisch oder atonisch bedingt, aber auch Folge ausgeprägter Myoklonien sein. Manchmal gelingt eine eindeutige Differenzierung nur mit simultaner Video-EEG-Aufzeichnung inklusive simultanen EMG. Auren sind Zeichen für einen fokalen Anfall. Je nach Hirnregion, in der sie entstehen, kommt es zu entsprechenden Symptomen. Eine Ausbreitung des Anfalls ist prinzipiell nach jeder Aura möglich bis hin zum (tonisch)-klonischen Anfall.
modifiziert nach (12)
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SCHWERPUNKT
Ausschluss symptomatischer Anfälle sind beispielsweise ein Meningismus auszuschliessen, aber auch Verletzungen nach Schädel-Hirn-Trauma oder andere Symptome, die auf eine zugrunde liegende Erkrankung hinweisen. Etwa zwei Drittel aller Kinder mit einer Epilepsie sind kognitiv normal entwickelt und haben einen unauffälligen neurologischen und internistischen Status. Unmittelbar postiktal, also kurz nach einem Anfall, können jedoch Bewusstseinsveränderungen, Sprachstörungen oder Paresen auftreten, die es zu identifizieren gilt. Da Epilepsien Teil von Phakomatosen, wie zum Beispiel dem tuberösen Sklerose-Komplex oder dem Sturge-Weber-Syndrom, sein können, gehört stets auch eine sorgfältige Hautinspektion dazu.
Sind Laboruntersuchungen notwendig?
Es gibt keine «Routinelaboruntersuchung», die einen epileptischen Anfall oder eine beginnende Epilepsie beweisen oder ausschliessen kann. Die Wahl der Laboruntersuchung orientiert sich an der klinischen Situation. Blutzucker- und eine Elektrolytbestimmung dienen dem Ausschluss eines symptomatischen Anfalls im Rahmen einer Hypoglykämie oder einer Elektrolytentgleisung. Bei Fieber, Diarrhö, Erbrechen oder Dehydratation können zusätzliche Laboruntersuchungen zur ätiologischen Abklärung einer zugrunde liegenden Erkrankung notwendig sein. In unklaren Anfallssituationen, insbesondere bei persistierender Veränderung des Bewusstseins, können toxikologische Untersuchungen weiterführend sein (8). Eine Liquorpunktion ist bei einem ersten afberilen Anfall meist nicht indiziert. Bei Kindern unter 1 Jahr sowie bei klinischen Hinweisen auf eine afebrile Meningitis oder Enzephalitis sollte die Indikation auch beim afebrilen Kind grosszügig gestellt werden. Bei Verdacht auf eine (konvulsive) Synkope oder eine kardiale Ursache sind ein EKG und eine kardiologische Beurteilung angezeigt.
Weshalb ein EEG?
Das Elektroenzephalogramm (EEG) liefert wertvolle Hinweise sowohl in der akuten Situation nach einem ersten Anfall als auch hinsichtlich therapeutischer und prognostischer Aspekte. Innerhalb von 24 (bis 48) Stunden nach einem Anfall zeigen sich postiktale Veränderungen, die möglicherweise nach einem längeren Intervall nicht mehr nachweisbar sind. Daher empfiehlt sich eine erste Ableitung möglichst innerhalb dieses Zeitraums (8). Sollte das erste EEG unergiebig sein, kann eine nochmalige EEG-Ableitung nötig sein. Mittels eines Schlaf-EEG, zum Beispiel nach partiellem Schlafentzug, kann die diagnostische Aussage erhöht werden. Trotz unauffälliger EEG-Befunde kann dennoch eine Epilepsie vorliegen, beispielsweise bei Epilepsien aus dem Frontallappen oder auch bei bestimmten idiopathisch generalisierten Epilepsien. Andererseits ist nicht jeder pathologische EEG-Befund beweisend für eine Epilepsie, da sich auch im EEG gesunder Men-
schen in bis zu 3 Prozent epilepsietypische Veränderungen finden. Die alleinige Bewertung des EEG ist selten «Epilepsie beweisend» oder «Epilepsie ausschliessend», und es bedarf stets einer sorgfältigen Interpretation unter kritischer Würdigung aller Aspekte (9).
Benötigt es in jedem Fall eine zerebrale Bildgebung?
Ob eine zerebrale Ursache für den Anfall vorliegt, wie beispielsweise eine Raumforderung, eine kortikale Fehlbildung, eine Blutung oder eine andere ZNS-Läsion, kann nur durch eine Bildgebung des Neurocraniums geklärt werden. Bei akuten Fragestellungen, beispielsweise einem postiktal persistierenden fokalen Defizit länger als 1 bis 2 Stunden oder einer anhaltenden Bewusstseinstrübung, besteht eine dringende Indikation zur Bildgebung. Ansonsten kann diese elektiv, jedoch möglichst zeitnah erfolgen. Hinsichtlich diagnostischer Aussagekraft bei Epilepsieverdacht ist die Kernspintomografie (MRI) der Computertomografie (CT) überlegen und die Untersuchungsmethode der ersten Wahl. Um möglichst aussagekräftige Befunde zu erhalten, sollten spezielle MRI-Sequenzen durchgeführt werden. Mittels der Aufnahme von dünnen Schichten können auch diskrete kortikale Veränderungen nachgewiesen werden, die konventionelle Methoden oft übersehen, jedoch ein hohes epileptogenes Potenzial haben und die Anfälle erklären können (10). Je nach Verfügbarkeit eines MRI erfolgt in akuten Situationen häufig ein CT, wobei ein unauffälliger CT-Befund eine epileptogene Läsion nicht ausschliessen kann, sodass ein MRI nachfolgend durchzuführen ist.
Das EEG alleine reicht für eine Diagnose nicht aus.
Tabelle 3: Beispiele nichtepileptischer Anfälle
Episoden mit Bewusstseinsalteration:
• Synkopen (konvulsiv oder nicht konvulsiv) • komplexer Migräneanfall bzw.
• Affektkrämpfe (blass oder zyanotisch)
Migräne mit Aura («konfusionelle»
• Narkolepsie/Kataplexie
Migräne)
Episoden ohne Bewusstseinsalteration: • nichtepileptische Bewegungsstereo-
typien und Tic-Störungen • «Tagträumen» • gastroösophagealer Reflux/
Sandifer-Syndrom • benigner paroxysmaler Aufwärtsblick
des Kindesalters • Angst- oder Panikattacken • pychogene, nichtepileptische Anfälle
• Iactationes capitis et corporis • Schauderattacken («shuddering
attacks») • masturbationsähnliche Selbst-
stimulation • benigner paroxysmaler Tortikollis • Hyperventilationsattacken
Episoden im Schlaf oder aus dem Schlaf heraus:
• Einschlaf- oder Schlafmyoklonien,
• Iactatio capitis et corporis nocturna
z.B. auch benigner neonataler Schlafmyo- • Pavor nocturnus und andere Para-
klonus
somnien
• Schlafwandeln
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SCHWERPUNKT
Benötigt das Kind eine Behandlung?
Nicht jedes Kind mit einem ersten Anfall benötigt eine antikonvulsive Therapie. Bedenkt man, dass in zirka der Hälfte der Fälle kein Anfallsrezidiv auftritt und selbst Kinder, die einen zweiten Anfall haben, in bis zu 20 Prozent keinen weiteren Anfall haben werden (3), ist in den meisten Fällen ein abwartendes Verhalten gerechtfertigt (6, 11). Verschiedene Faktoren können jedoch das Risiko für Anfallsrezidive beziehungsweise die Entwicklung einer Epilepsie erhöhen (Tabelle 4). Dies unterstreicht die Bedeutung der sorgfältigen Diagnostik nach dem ersten Anfall, denn nur unter Würdigung aller Befunde kann eine fundierte Entscheidung bezüglich einer antikonvulsiven Therapie erfolgen.
Tabelle 4: Faktoren, die das Rezidivrisiko für epileptische Anfälle erhöhen
• fokale Anfälle • Auffälligkeiten in der neurolo-
gischen Untersuchung • Entwicklungsretardierung • Anfälle aus dem Schlaf heraus • Status epilepticus als Erstmani-
festation
• positive Familienanamnese für Epilepsie
• epileptiforme Entladungen im EEG • pathologische Befunde in der Bild-
gebung mit mutmasslichem epileptogenem Potenzial
Tabelle 5: Reservemedikation für Erstversorgung durch Laien (bei einem erneuten epileptischen Anfall, falls dieser > 3 Minuten dauert)
Diazepam rektal (z.B. Diazepam rectal®, Stesolid®) Rektal-
tuben zu 5 mg und 10 mg
Säuglinge > 4 Monate
5 mg
Kleinkinder > 15 kg Körpergewicht
10 mg
Schulkinder
10–20 mg
Erwachsene
20–30 mg
Anmerkung: Anwendung bei Schulkindern und Jugendlichen sowie Erwachsenen problematisch bzw. in der Regel nicht praktikabel wegen der rektalen Applikation und der damit verbundenen Gefahr einer sozialen Stigmatisierung.
Midazolam bukkal (Buccolam®) und intranasal (individuelle Herstellung)
Säuglinge 6-12 Monate
2,5 mg
Kleinkinder 1-4 Jahre
5 mg
Schulkinder 5-9 Jahre
7,5 mg
Schulkinder > 10 Jahre
10 mg
Erwachsene
10 mg
Anmerkung: Buccolam® ist in der Schweiz zugelassen, jedoch noch nicht verfügbar. Midazolam nasal wird «unlicensed» hergestellt; hierbei entspricht 1 Sprühstoss 2,5 mg.
Lorazepam bukkal (Temesta Expidet® 1,0 und 2,5 mg)
Säuglinge > 4 Monate
0,5 mg
Kleinkinder > 15 kg Körpergewicht
1 mg
Schulkinder
2,5 mg
Erwachsene
2,5 (–5) mg
Anmerkung: Lorazepam wird nach wie vor relativ häufig eingesetzt. Es ist für die Behandlung epileptischer Anfälle nicht offiziell zugelassen, jedoch gibt es gute Evidenz für die intravenöse Anwendung. Die bukkale Anwendung ist aufgrund verzögerten Wirkeintritts nach frühestens 10 Minuten nicht mehr primär zu empfehlen und sollte stets sorgfältig geprüft werden.
modifiziert nach (13)
Neben diesen Aspekten ist hinsichtlich der Behandlungsindikation stets auch die aktuelle Lebenssituation des Kindes und Jugendlichen zu würdigen, welche in der Erhebung der sozialen Anamnese zu ermitteln ist (z.B. schulische oder berufliche Aspekte, Ausbildungssituation, Fahrerlaubnis). Nicht vergessen werden darf schon unmittelbar nach dem ersten Anfall die Bedeutung informativer und edukativer Aspekte sowie auch die Vermittlung von Verarbeitungsstrategien (Coping). Von ärztlicher Seite sollte das Rezidivrisiko für einen erneuten Anfall eingeschätzt und kommuniziert und den Eltern eine Notfallmedikation mitgegeben werden, unabhängig davon, ob eine antikonvulsive Dauertherapie eingeleitet wird oder nicht. Dabei ist darauf hinzuweisen, dass es für verschiedene Altersgruppen unterschiedliche Präparationen gibt, die zum Teil offiziell nicht zugelassen sind, deren Wirksamkeit und Anwendbarkeit jedoch durch Stellungnahmen der internationalen Fachgesellschaften als indiziert und gesichert angesehen werden können (Tabelle 5).
Zusammenfassung
Ein erster epileptischer Anfall ist ein insgesamt relativ häufiges Ereignis und erfordert einerseits ein standardisiertes, andererseits aber auch ein individuell angepasstes Vorgehen. Bei der Diagnosefindung ist die Anamnese entscheidend. Da die Situation unmittelbar nach einem Anfall meist emotional geprägt ist, sollte die Anamnese in einer ruhigen Atmosphäre wiederholt werden. Neben der Befragung der Eltern gehört auch die des Kindes oder Jugendlichen dazu, gelegentlich kann es notwendig sein, von Augenzeugen telefonische Auskünfte einzuholen. Die klinische Untersuchung umfasst stets einen allgemeinpädiatrischen und neurologischen Status. Das EEG ist bei afebrilen Anfällen unerlässlich und muss unter Umständen mehrfach erfolgen. In unklaren Fällen ist eine EEG nach Schlafentzug oder auch im Spontanschlaf sinnvoll. Ein unauffälliges EEG schliesst einen ersten epileptischen Anfall nicht aus und ist stets im Gesamtkontext zu werten. Laboruntersuchungen richten sich nach den jeweiligen Gegebenheiten und stellen keine «Routinemassnahme» dar. Eine Bildgebung mittels MRI ist in den meisten Fällen durchzuführen und sollte mit spezifischen Einstellungen erfolgen, um diskrete Veränderungen nicht zu verpassen. Das therapeutische Vorgehen stützt sich auf die Befunde der sorgfältig durchgeführten Diagnostik und ist individuell festzulegen. Eine Reservemedikation bei erneutem Anfall sollte mit den Eltern besprochen und mitgegeben werden.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Simon Novak KER-Zentrum Zentrum für Kinderneurologie, Entwicklung und Rehabilitation Ostschweizer Kinderspital St. Gallen Claudiusstr. 6, 9006 St. Gallen E-Mail: simon.novak@kispisg.ch
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