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Das Kindesschutzverfahren
Verantwortung, Aufgaben und Rechte der Ärztinnen und Ärzte
Ziel des vorliegenden Beitrages ist es, die grundlegenden Abläufe eines Kindesschutzverfahrens und die diesbezügliche Rolle der Ärztinnen und Ärzte darzustellen. Im Grundsatz beschränkt sich der Beitrag dabei auf Aussagen, welche für die ganze Schweiz Geltung haben. Teilweise werden jedoch beispielhaft kantonale Regelungen aufgezeigt. Zur plastischen Darstellung der nachfolgenden Ausführungen soll dabei auf einen fiktiven Sachverhalt zurückgegriffen werden.
Von Nora Bertschi und Luca Maranta
Es gibt verschiedene Möglichkeiten zur Entbindung von der ärztlichen Schweigepflicht.
A m 1. Januar 2013 ist das neue Erwachsenenschutzrecht in Kraft getreten, welches das Vormundschaftsrecht abgelöst hat. Diese Revision hat auch Auswirkungen auf das Kindesschutzrecht. Zwar blieb der in den Artikeln 307 ff. des Schweizerischen Zivilgesetzbuches (ZGB) geregelte zivilrechtliche Kindesschutz inhaltlich weitgehend unberührt. Einen erheblichen Einfluss hatte die Revision aber auf die Behördenorganisation einerseits sowie auf das Verfahren vor den Behörden andererseits: War vormals grundsätzlich die – oftmals aus Laien bestehende – Vormundschaftsbehörde für die Anordnung von Kindesschutzmassnahmen zuständig, fällt diese Zuständigkeit nun in den Aufgabenbereich der sogenannten Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde (KESB). In Ausnahmefällen kann auch das Zivilgericht Kindesschutzmassnahmen anordnen (1). Bei der KESB handelt es sich um eine interdisziplinär zusammengesetzte Fachbehörde, die ihre Entscheide grundsätzlich mit mindestens drei Mitgliedern fällt (2). Die nähere Ausgestaltung der KESB wird dem kantonalen Recht überlassen, sodass in den einzelnen Kantonen unterschiedliche Organisationsmodelle bestehen. Im Vergleich zum alten Recht brachte die
Der Fall
Der 8-jährige David lebt bei seinen Eltern Clara und Roger. Anlässlich einer Behandlung von David bemerkt sein Arzt mehrere ausgeprägte, unterschiedlich verfärbte Hämatome. Auf Nachfrage des Arztes erzählt David, er werde ab und zu von seinem Vater geschlagen, wenn dieser unzufrieden mit ihm sei. Der Arzt schätzt das Risiko für eine weitere Gefährdung des Kindes als erheblich ein und möchte daher, eventuell nach Rücksprache mit einer Kindesschutzgruppe (8), die KESB kontaktieren.
Gesetzesrevision auch eine gewisse schweizweite Vereinheitlichung der Regeln für das Kindesschutzverfahren mit sich. Nach wie vor bestehen aber zahlreiche kantonale Verfahrensregeln, welche nur im jeweiligen Kanton einschlägig sind.
Schweigepflicht für ärztliche Fachpersonen
Grundsätzlich kann jede Person der KESB eine Meldung erstatten, wenn eine Person hilfsbedürftig erscheint (3). Dieses Melderecht kann problematisch sein. Es gibt Bereiche, in denen nur aufgrund des bestehenden Vertrauensverhältnisses eine Zusammenarbeit möglich ist. In der Medizin etwa vertrauen Patienten ihren behandelnden Ärztinnen und Ärzten unter Umständen Informationen nur an, weil sie von der Vertraulichkeit des Gespräches ausgehen. Aus diesen Überlegungen ist für bestimmte Berufsgruppen ein Berufsgeheimnis vorgesehen: Neben Geistlichen oder Rechtsanwälten dürfen auch Ärzte, Zahnärzte, Chiropraktiker, Apotheker, Hebammen und Psychologen ein Geheimnis, das ihnen infolge ihres Berufes anvertraut worden ist oder das sie in dessen Ausübung wahrgenommen haben, nicht an Dritte weitergeben (4). Die Verletzung des Berufsgeheimnisses ist auch nach Beendigung der Berufsausübung strafbar (5). Verwaltungsangestellte, unter ihnen auch in öffentlichrechtlichen Spitälern tätige Ärztinnen und Ärzte, unterstehen zusätzlich dem Amtsgeheimnis ([6]; auf spezifische Problemstellungen im Zusammenhang mit dem Amtsgeheimnis wird im Folgenden nicht eingegangen). Im Fall der Widerhandlung gegen das Berufs- beziehungsweise Amtsgeheimnis droht den betreffenden Personen eine Freiheitsstrafe von bis zu drei Jahren oder eine Geldstrafe (7). Träger des Berufsgeheimnisses sind also nicht berechtigt, ohne Weiteres der KESB eine Meldung zu er-
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statten (9). Behandelnde Ärztinnen und Ärzte müssen sich zunächst mittels einer schriftlichen Bewilligung der vorgesetzten Behörde oder Aufsichtsbehörde vom Berufsgeheimnis entbinden lassen. Im Kanton Zürich ist hierfür die Gesundheitsdirektion zuständig (10), im Kanton Basel-Stadt das Gesundheitsdepartement (11). Daneben kann man sich auch durch den Patienten selbst vom Berufsgeheimnis entbinden lassen. Für eine solche Einwilligung bedarf es keiner besonderen Form (12). Der Patient muss jedoch urteilsfähig sein, beziehungsweise es muss die Einwilligung seines gesetzlichen Vertreters vorliegen.
Ausnahmen von der Schweigepflicht
Es gibt Ausnahmen, in denen Ärztinnen und Ärzte nicht an die gesetzlich vorgesehene Schweigepflicht gebunden sind. Ist an einer minderjährigen Person eine strafbare Handlung begangen worden, oder besteht Grund zur Befürchtung, eine solche Straftat sei begangen worden, so sind die an das Berufsgeheimnis gebundenen Personen berechtigt, dies im Interesse der minderjährigen Person der KESB zu melden (13). Dabei ist der mögliche Täterkreis nicht eingeschränkt: Neben den Eltern kommen auch andere Personen aus dem Umfeld des Kindes als Täterin oder Täter infrage (14). Besteht zudem eine ernsthafte Gefahr, dass eine Person sich selbst gefährdet oder ein Verbrechen oder Vergehen begeht, mit dem sie jemanden körperlich, seelisch oder materiell schwer schädigt, sind die behandelnden Ärztinnen und Ärzte ebenfalls berechtigt, Mitteilung zu machen (15). Im Weiteren können Fachleute aus dem Gesundheitswesen Fälle von vorliegenden oder drohenden suchtbedingten Störungen, namentlich bei Kindern und Jugendlichen, melden, wenn sie solche in ihrer amtlichen oder beruflichen Tätigkeit festgestellt haben, eine erhebliche Gefährdung der Betroffenen, ihrer Angehörigen oder der Allgemeinheit vorliegt und sie eine Betreuungsmassnahme als angezeigt erachten (16). Die Zuständigkeit für die Bearbeitung von Gefährdungsmeldungen nach Art. 3c BetmG ist kantonal unterschiedlich geregelt, zum Beispiel ist im Kanton Basel-Stadt die Meldung bei der KESB einzureichen. Weitere Ausnahmen von der Schweigepflicht können durch das kantonale Recht vorgesehen sein. So sind im Kanton Basel-Stadt unter anderem Ärztinnen und Ärzte gegenüber den zuständigen Behörden von der Schweigepflicht befreit, wenn begründete Zweifel an der Urteilsfähigkeit einer Patientin oder eines Patienten bestehen, medizinische Massnahmen dringend erforderlich sind und die Zustimmung einer allfälligen gesetzlichen Vertretung nicht oder nicht rechtzeitig erlangt werden kann (17). Die Offenbarung des Arztgeheimnisses kann weiter aufgrund einer sogenannten Notstands(hilfe)situation gerechtfertigt sein: Nach Art. 17 StGB ist die Verletzung des Berufsgeheimnisses rechtmässig, wenn sie begangen wird, um das Gut eines anderen aus einer unmittelbaren, nicht anders abwendbaren Gefahr zu retten und dadurch höherwertige Interessen gewahrt werden. Dies kann allenfalls dann der Fall sein, wenn eine ärztliche Fachperson die KESB über die gesund-
heitliche Situation eines Patienten informiert, welcher Dritte unmittelbar durch aggressives Verhalten gefährdet. Schliesslich könnten Ärztinnen und Ärzte auch aufgrund einer mutmasslichen Einwilligung des Patienten berechtigt sein, falls keine explizite Einwilligung vorliegt und eine explizite Einwilligung nicht rechtzeitig eingeholt werden kann. Bevor man sich aber auf das Vorliegen einer Notstands(hilfe)situation oder einer mutmasslichen Einwilligung beruft, sollte man, zum Beispiel durch die anonymisierte Schilderung des Sachverhaltes bei der KESB, unbedingt abklären, ob man tatsächlich vom Vorliegen einer solchen Sachlage ausgehen kann. In den genannten Fällen muss sich die ärztliche Fachperson vor einer Meldung nicht vom Berufsgeheimnis entbinden lassen, vielmehr obliegt ihr die Pflicht zur verantwortungsbewussten Abwägung der involvierten Interessen. Ärztinnen und Ärzte können selbst entscheiden, ob und wann eine Meldung an die Behörde ergehen soll (18, 19). Sofern eine Kooperation mit der Familie nicht möglich oder sinnvoll erscheint, ist grundsätzlich eine möglichst frühzeitige Meldung angezeigt. Es gilt zu verhindern, dass einer vorliegenden Gefährdung nicht mehr oder nur noch mit sehr einschneidenden Massnahmen entgegengewirkt werden kann. Bei Unsicherheit in Bezug auf den Zeitpunkt oder die Angemessenheit einer Meldung ist es auch möglich, mit der zuständigen KESB beziehungsweise Fachstelle Kontakt aufzunehmen und sich bezüglich des weiteren Vorgehens beraten zu lassen.
Meldepflicht für ärztliche Fachpersonen
Neben den beschriebenen Melderechten kann für Ärztinnen und Ärzte unter Umständen auch eine Meldepflicht bestehen. So sind etwa Personen, die in amtlicher Tätigkeit von der Hilfsbedürftigkeit einer Person erfahren, zur Meldung verpflichtet (20). Dazu gehören Angestellte sämtlicher Organisationseinheiten der Verwaltung sowie Private, soweit sie öffentliche Aufgaben wahrnehmen. Das ist etwa der Fall bei Mitarbeitenden eines öffentlichrechtlichen Spitals oder kommunaler beziehungsweiser kantonaler Fachstellen (z.B. schulpsychologischer Dienst) (21, 22). Die Kantone können hier weitergehende Meldepflichten vorsehen. Der Kanton Appenzell Ausserrhoden sieht etwa für alle Gesundheitsfachpersonen eine Meldepflicht vor (23). Der Kanton Schwyz verpflichtet alle Ärztinnen und Ärzte, eine Meldung zu machen, sofern nicht mit anderen Massnahmen Abhilfe geschafft werden kann (24). Die Kantone Zürich, BaselStadt oder Bern sehen keine erweiterten Meldepflichten für Ärztinnen und Ärzte vor. Für einen Überblick über die kantonalen Gesetzgebungen siehe (22) und (25) sowie die Motion 08.3790 der Nationalrätin Josiane Aubert, in der eine allgemeine Anzeigepflicht mit gewissen Ausnahmen angeregt wird (26). Besteht in Bezug auf die Meldepflicht Unsicherheit, können die jeweiligen Kantonsärzte Auskunft geben. Unklar ist, ob das Berufsgeheimnis auch in denjenigen Fällen gilt, in denen eine gesetzliche Meldepflicht besteht (22, 27–29). Um sicherzugehen, sollte die
Neben dem Melderecht kann auch eine Meldepflicht bestehen.
Eine präzise Dokumentation ist wichtig.
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Anonyme Meldungen sind zulässig, aber problematisch.
Der Obhutsentzug ist nicht zwingend die Folge einer Gefährdungsmeldung.
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ärztliche Fachperson auch bei Bestehen einer gesetzlichen Meldepflicht nicht unbesehen die KESB kontaktieren: Liegt keiner der gesetzlich vorgesehenen Notfälle vor ([30–32] oder ein kantonales Melderecht), sollten sich die meldepflichtigen Ärztinnen und Ärzte vor einer Meldung an die KESB vom Berufsgeheimnis entbinden lassen (siehe oben). Die Verletzung der Meldepflicht ist grundsätzlich nicht strafbar. Die Kantone können für die von ihnen erlassenen Meldepflichten bei Nichtbefolgen jedoch Sanktionen und disziplinarrechtliche Massnahmen oder Haftungsansprüche vorsehen. Begeht die hilfsbedürftige Person ein Delikt und hätte dies durch das gebotene Handeln leicht verhindert werden können, kann die pflichtwidrig unterlassene Meldung allenfalls ein strafrechtliches Unterlassungsdelikt darstellen (33).
Tipps für ärztliche Fachpersonen
Im Zusammenhang mit Meldungen durch ärztliche Fachpersonen kommt in einem ersten Schritt der möglichst präzisen Dokumentation der sichtbaren Befunde und Beobachtungen grosse Bedeutung zu. In der Langzeitbetreuung eines Kindes und seiner Familie kommt es immer wieder vor, dass Ärztinnen und Ärzten Aussagen und Befunde sonderbar erscheinen. Im Moment kann zu wenig Grund bestehen, den Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung auszusprechen. Solche Befunde, Gedanken und Gefühle sollen aber in der Patientendokumentation festgehalten werden. Zudem kommt insbesondere bei der sexuellen Ausbeutung, aber auch bei anderen Formen von Kindsmisshandlung der Aussage des Kindes zentrale Bedeutung zu. Äusserungen in diesem Zusammenhang sollen deshalb unverzüglich wortgetreu (in Dialekt, nicht in Schriftdeutsch) in der Patientendokumentation festgehalten werden. Anzugeben ist auch, in welchem Kontext die Aussage gemacht wurde (z.B. bei der Untersuchung des Abdomens oder der Genitalien) und in wessen Gegenwart (Mutter, Vater, Drittperson) (8). Die Gefährdungsmeldung selbst ist an keine bestimmte Form geknüpft. Auch anonyme Meldungen sind zulässig (34). Da in diesen Fällen keine Nachfragen möglich sind, sind solche Meldungen allerdings problematisch. Eine Gefährdungsmeldung sollte schriftlich an die KESB am Wohnort, sofern nicht bekannt am Aufenthaltsort des jeweiligen Patienten erfolgen (35). Wenn immer möglich sind das Kind und/oder die Eltern über die Meldung zu informieren. Vorbehalten sind Fälle, in denen eine Strafanzeige angezeigt erscheint oder mit der Information über die Meldung eine erhöhte Gefährdung des Kindes einhergeht. Eine Gefährdungsmeldung sollte die Personalien des Kindes, der Eltern beziehungsweise der sorgeberechtigten Personen und der Meldenden sowie eine möglichst präzise und sachliche Umschreibung der Tatsachen und eigenen Beobachtungen enthalten (siehe Merkblatt des Kantons Zürich, abrufbar unter www.kesbzh.ch/sites/default/files/attachments/merkblatt_gefaehrdungsmeldung.pdf). Für den eingangs dargelegten, fiktiven Sachverhalt bedeutet dies Folgendes: Der Arzt von David untersteht grundsätzlich dem Berufsgeheimnis und müsste
sich vorerst von der kantonalen Gesundheitsbehörde entbinden lassen oder die Einwilligung der Eltern von David als seinen gesetzlichen Vertretern einholen, sollte David in Bezug auf die Frage der Entbindung vom Arztgeheimnis nicht urteilsfähig sein. Vorliegend besteht jedoch der dringende Verdacht, dass David geschlagen und somit an ihm eine strafbare Handlung gemäss Art. 364 StGB begangen wurde. Die Pflicht zur Entbindung vom Berufsgeheimnis entfällt in diesem Fall. Ist der behandelnde Arzt unseres Fallbeispiels von einem öffentlichen Spital angestellt, bestünde für ihn die Pflicht, seine Wahrnehmung weiterzuleiten. Sonst liegt es im pflichtgemässen Ermessen des Arztes zu entscheiden, ob er die KESB über die infrage stehende Schutzbedürftigkeit informieren will oder nicht. Möglicherweise fürchtet sich das Kind vor der Reaktion der Eltern, und behutsames Vorgehen ist angezeigt. Wie erwähnt ist aber im Grundsatz ein möglichst frühzeitiges Vorgehen sinnvoll, allenfalls nach Absprache mit einer ärztlichen Kindesschutzgruppe oder einer anderen auf Kindesschutz spezialisierten Institution. Vorliegend wird nun also der Arzt der KESB oder einer anderen zuständigen Fachstelle Meldung machen.
Einleitung des Verfahrens durch die KESB
Erfolgt eine Meldung, ist die KESB verpflichtet, das Vorliegen einer Gefährdung zu prüfen und abzuklären, ob ein Verfahren einzuleiten ist (36). Sofern die Meldung nicht offensichtlich unbegründet und die KESB örtlich zuständig ist, wird daraufhin ein Verfahren eröffnet. Bei dringendem Handlungsbedarf können vorsorglich Massnahmen beschlossen werden. Mit diesen wird die rechtliche Situation bis zum definitiven Entscheid der KESB geregelt. Bei besonderer Dringlichkeit sind superprovisorische Entscheide möglich. Diese ergehen ohne Anhörung der betroffenen Person. David könnte beispielsweise vorsorglich fremdplatziert werden. Ein Obhutsentzug ist allerdings nicht zwingend die Folge einer Gefährdungsmeldung. Mildere Massnahmen wie eine Weisung an die Eltern, eine sozialpädagogische Familienbetreuung, eine Entlastung durch Fremdbetreuung oder die Errichtung einer Erziehungsbeistandschaft sind in der Praxis häufig gewählte Unterstützungsformen. Die KESB nimmt bei Bedarf Kontakt mit der meldenden Person auf. Diese hat aber grundsätzlich keinen Anspruch auf Beteiligung am Verfahren, sie muss daher auch nicht über dessen Eröffnung informiert werden (37). Die Situation wird sodann von der KESB oder von einer spezialisierten Stelle in ersten Gesprächen mit dem gefährdeten Kind, den Eltern und weiteren Bezugspersonen abgeklärt. In einem weiteren Schritt erfolgt eine vertieftere Abklärung des Sachverhaltes. Dabei wird bereits versucht, mit den Betroffenen Lösungen zu erarbeiten und diese umzusetzen. Möglicherweise führen aber auch Kontakte mit dem Kind und seinem Umfeld zu keinem klaren Gesamtbild. Für eine adäquate Einschätzung der Situation ergibt sich unter Umständen die Notwendigkeit, vertiefte ärztliche Auskünfte ein-
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zuholen. Es stellt sich hier die Frage, inwiefern ärztliche Fachpersonen zur Mitwirkung verpflichtet sind.
Auskunftspflicht der ärztlichen Fachpersonen in einem Kindesschutzverfahren
Im vorliegenden Fall ist unklar, wie lange die vermuteten Misshandlungen von Roger bereits andauern. Die KESB möchte nun in Erfahrung bringen, ob dem behandelnden Arzt bereits im Rahmen früherer Untersuchungen Hinweise betreffend eine allfällige Gefährdung von David vorgelegen haben. Alternativ ist – in Abweichung zum vorliegenden Sachverhalt – der Fall denkbar, dass eine andere Person als der Arzt eine Meldung an die KESB erstattet hat und die KESB nun den behandelnden Arzt kontaktiert, um auch von seiner Seite Informationen zu David und seinem Umfeld zu erhalten. Art. 448 Abs. 1 ZGB hält unter anderem fest, dass Dritte zur Mitwirkung bei der Abklärung eines Sachverhaltes verpflichtet sind, wobei die KESB die zur Wahrung schutzwürdiger Interessen erforderlichen Anordnungen zu treffen hat. Diese Bestimmung kollidiert mit dem im Vorhergehenden erläuterten Arztgeheimnis. Der Gesetzgeber hat sich auch in Bezug auf die Mitwirkung von Ärztinnen und Ärzten für einen Mittelweg zwischen einem uneingeschränkten Geheimnisschutz und der vorbehaltlosen Mitwirkungspflicht entschieden (38): Sie sind dann zur Mitwirkung verpflichtet, wenn die geheimnisberechtigte Person sie dazu ermächtigt oder die vorgesetzte Stelle sie auf Gesuch hin vom Berufsgeheimnis entbunden hat (39). Ein solches Gesuch kann die KESB stellen. Darüber hinaus ist der Arzt, über den Wortlaut von Art. 448 Abs. 2 ZGB hinaus, berechtigt, selbst um Entbindung vom Arztgeheimnis zu ersuchen (40). In der Praxis zeigt sich, dass es in dringenden Fällen nicht immer möglich ist, sich rechtzeitig vom Arztgeheimnis entbinden zu lassen oder eine Einwilligung des Patienten beziehungsweise des gesetzlichen Vertreters einzuholen. Auch in solchen Fällen ist die KESB aber auf eine rechtzeitige Mitwirkung der Ärztinnen und Ärzte im Verfahren angewiesen. Nach der vorliegend vertretenen Ansicht sind weiterführende Auskünfte gegenüber der KESB, gestützt auf die im Vorhergehenden vorgestellten Bestimmungen ([30–32] oder kantonale Melderechte) auch ohne Entbindung vom Arztgeheimnis zulässig, sofern diese Artikel in der jeweiligen Situation zutreffen. Von ihrem Wortlaut her haben diese Bestimmungen aber nur eine Mitteilung an die KESB zum Gegenstand. Sie befassen sich somit nicht explizit mit der Offenbarung weiterführender Angaben, nachdem bereits eine Mitteilung erfolgt ist. Daher erscheint nicht gesichert, ob die Gerichte in einem Streitfall der vorliegend vertretenen Meinung folgen würden. Wie bereits festgehalten, kann die KESB selbst bei der zuständigen Stelle um Entbindung eines Arztes vom Berufsgeheimnis ersuchen. Insbesondere in diesen Konstellationen stellt sich die Frage, ob ein Arzt auch gegen seinen Willen im Verfahren vor der KESB mitwirken muss (und nicht «lediglich» hierzu berechtigt ist). Diese Frage ist im Grundsatz zu bejahen (41). Eine
Ausnahme wird in der Rechtslehre für den Fall erwogen, dass das Geheimhaltungsinteresse von involvierten Personen das Interesse an der Wahrheitsfindung überwiegt (42). Dies kann allenfalls dann der Fall sein, wenn zu befürchten ist, dass ein Patient durch Offenlegung einer Krankheit psychisch schwerst belastet werden würde. Weitere Ausnahmen von der Mitwirkungspflicht können sich aus dem jeweils anwendbaren kantonalen Verfahrensrecht ergeben oder allenfalls ausnahmsweise aus der verfahrensrechtlichen Stellung einer Person. Für den hier dargelegten Sachverhalt bedeutet dies Folgendes: Damit der behandelnde Arzt im Kindesschutzverfahren über die Gefährdungsmeldung hinaus zur Auskunft berechtigt ist, kann er sich von den Eltern Clara und Roger vom Arztgeheimnis entbinden lassen, sofern diese Inhaber der elterlichen Sorge sind und anzunehmen ist, dass David in Bezug auf die Frage der Entbindung vom Arztgeheimnis nicht urteilsfähig ist. Alternativ besteht für den Arzt die Möglichkeit, um Entbindung vom Berufsgeheimnis zu ersuchen. Nach der vorliegend vertretenen Auffassung dürfte der Arzt zudem die KESB auch ohne Einwilligung der Eltern von David oder Entbindung vom Berufsgeheimnis weiterführende Auskünfte erteilen. Dies, weil der dringende Verdacht vorliegt, dass David geschlagen und somit an ihm eine strafbare Handlung gemäss Art. 364 StGB begangen wurde. Sollte der Arzt nicht mit der KESB zusammenarbeiten wollen, könnte diese die zuständige Stelle um Entbindung des Arztes vom Berufsgeheimnis ersuchen. Sofern diesem Ersuchen entsprochen wird, müsste der Arzt im Grundsatz auch gegen seinen Willen der KESB Auskunft erteilen.
Abschluss des Verfahrens
Nach Abschluss sämtlicher Abklärungen hat die KESB darüber zu entscheiden, ob definitiv eine Kindesschutzmassnahme angeordnet beziehungsweise welche Kindesschutzmassnahme angeordnet werden soll. Vor ihrer Entscheidfindung hat die KESB die am Verfahren beteiligten Personen anzuhören. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung können dabei Kinder im Sinne einer Richtschnur ab dem vollendeten 6. Altersjahr angehört werden (43). Ihren Entscheid begründet die KESB schriftlich. Im vorliegenden Fall entscheidet die KESB nach Anhörung von David sowie den Eltern Clara und Roger, ob beziehungsweise welche Kindesschutzmassnahmen angeordnet werden müssen. Zu betonen ist, dass es nicht die einzig «richtige» Kindesschutzmassnahme gibt. Auch bei einer körperlichen Misshandlung eines Kindes wird nur dann eine Aufhebung der elterlichen Obhut angeordnet, wenn das Kindeswohl nicht mit weniger starken Massnahmen geschützt werden kann. Zudem ist in der Regel auf die Anordnung von Kindesschutzmassnahmen zu verzichten, wenn Eltern auf freiwilliger Basis bereit sind, die erforderliche Unterstützung zur Abwendung einer Kindeswohlgefährdung anzunehmen. Gegen die Entscheide der KESB können hierfür legitimierte Personen eine Beschwerde an das zuständige
Die Meldung erstattende Person hat keinen Anspruch auf Beteiligung am Verfahren.
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kantonale Gericht richten. Zu diesem Personenkreis zählen die betroffenen Personen, aber nicht automatisch die ärztlichen Fachpersonen. Im Grundsatz sind diese nur dann zur Erhebung einer Beschwerde legitimiert, wenn sie selbst als nahestehende Person eines minderjährigen Patienten oder seiner Eltern einzustufen sind (44). Falls von der KESB beziehungsweise von der Beschwerdeinstanz nichts Gegenteiliges angeordnet wird, hat die angeordnete Kindesschutzmassnahme während der Dauer des Beschwerdeverfahrens in aller Regel noch keine Rechtswirkung. Gegen den Entscheid der kantonalen Beschwerdeinstanz kann Beschwerde in Zivilsachen an das Bundesgericht erhoben werden.
Korrespondenzadresse: Dr. des. Nora Bertschi, LL.M. und lic. iur. Luca Maranta, Advokat Kindes- und Erwachsenenschutzbehörde Basel-Stadt Juristisches Sekretariat Rheinsprung 16/18, 4001 Basel E-Mail: nora.bertschi@bs.ch; luca.maranta@bs.ch
Literatur: 1. vgl. Art. 315a f. ZGB 2. vgl. Art. 440 Abs. 2 ZGB 3. vgl. Art. 443 Abs. 1 ZGB 4. vgl. Art. 321 StGB 5. vgl. Art. 321 Abs. 1 StGB 6. vgl. Art. 320 StGB 7. vgl. Art. 320 ff. StGB 8. Lips U: Kindsmisshandlung – Kindessschutz. Ein Leitfaden zu Früherfassung und Vorgehen in der ärztlichen Praxis. Stiftung Kinderschutz Schweiz 2011. Download: www.djs.tg.ch/documents/leitfaden_frueherfassung_kindsmisshandlungen.pdf 9. vgl. Art. 443 Abs. 1 ZGB in fine 10. vgl. § 15 Abs. 2 GesG ZH 11. vgl. § 26 Abs. 2 GesG BS 12. vgl. BGE 98 IV 217, E. 2. 13. vgl. rt. 364 StGB 14. vgl. BSK-Biderbost, Art. 364 StGB N 8
15. vgl. Art. 453 ZGB 16. vgl. Art. 3c Betäubungsmittelgesetz, BetmG 17. vgl. § 27 Abs. 5 GesG BS 18. vgl. BSK-Auer/Marti, Art. 443 ZGB N 12 m.w.N. 19. vgl. BSK-Biderbost, Art. 364 StGB N 11. 20. vgl. Art. 443 Abs. 2 ZGB 21. vgl. BSK-Auer/Marti, Art. 443 N 20 und 25. 22. Rosch D: Melderechte, Melde- und Mitwirkungspflichten, Amtshilfe: die Zusammenarbeit mit der neuen Kindes und Erwachsenenschutzbehörde. Die Praxis des Familienrechts FamPra.ch 2012; 1020-1032. 23. vgl. Art. 48 EG ZGB AR 24. vgl. § 29 EG ZGB SZ 25. Affolter K: Anzeige- und Meldepflicht (Art. 443 Abs. 2 ZGB). Zeitschrift für Kindesund Erwachsenenschutz ZKE 2013: 48. 26. Aubert J: Schutz des Kindes vor Misshandlung und sexuellem Missbrauch. Motion 08.3790 vom 9.12.2008. Motionstext und Stellungnahme unter: http://www.parlament.ch/d/suche/seiten/geschaefte.aspx?gesch_id=20083790 27. Pally Hoffmann U: Recht in der Geburtshilfe – Ein Leitfaden für den medizinischen Berufsalltag mit Schwangeren, Gebärenden und Wöchnerinnen. Schulthess Verlag 2013; Seite 80. 28. Fassbind P: Erwachsenenschutzrecht. Orell Füssli 2012; Seite: 111 29. vgl. BSK-Oberholzer, Art. 321 StGB N 32. 30. vgl. Art. 364 StGB 31. vgl. Art. 453 ZGB 32. vgl. Art. 3c BetmG 33. vgl. BSK-Auer/Marti, Art. 443 N 28 f. 34. vgl. BernerKomm-Schnyder/Murer, Art. 373 ZGB N 83. 35. vgl. Art. 315 ZGB 36. vgl. FamKomm-Steck, Art. 443 ZGB N 10. 37. vgl. FamKomm-Steck, Art. 443 ZGB N 12 f. 38. vgl. BSK-Auer/Marti Art. 448 ZGB N 26. 39. vgl. Art. 448 Abs. 2 ZGB 40. vgl. BSK-Auer/Marti, Art. 448 ZGB N 31. 41. vgl. FamKomm-Steck Art. 448 ZGB N 34. 42. vgl. FamKomm-Steck Art. 448 ZGB N 34. 43. vgl. BGer 5A_473/2013, E. 3. 44. vgl. BGE 137 III 67, E. 3.5
ZGB: Schweizer Zivilgesetzbuch StGB: Schweizer Strafgesetzbuch BGE: Bundesgerichtsentscheid BSK: Basler Kommentare zum Erwachsenenschutzrecht FamKomm: FamKomm zum Erwachsenenschutzrecht
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