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Titel
Motorische Entwicklungsstörungen
Untertitel
Definition, Untersuchung und Therapie
Lead
Zirka 5 bis 6 Prozent der Kinder haben eine umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEMF), eine chronische Störung mit häufiger Komorbidität und beträchtlichen Konsequenzen für das tägliche Leben. Trotzdem ist UEMF zu wenig bekannt oder wird verharmlost. Im Folgenden handelt es sich um kurz gefasste Auszüge aus der Deutsch-Schweizerischen Leitlinie UEMF, in welchen die für den Schweizer Pädiater in der Praxis besonders relevanten Aspekte abgehandelt werden.
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Motorische Entwicklungsstörungen
Definition, Untersuchung und Therapie

Zirka 5 bis 6 Prozent der Kinder haben eine umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEMF), eine chronische Störung mit häufiger Komorbidität und beträchtlichen Konsequenzen für das tägliche Leben. Trotzdem ist UEMF zu wenig bekannt oder wird verharmlost. Im Folgenden handelt es sich um kurz gefasste Auszüge aus der Deutsch-Schweizerischen Leitlinie UEMF, in welchen die für den Schweizer Pädiater in der Praxis besonders relevanten Aspekte abgehandelt werden.

Auszüge aus der Deutsch-Schweizerischen Versorgungsleitlinie UEMF 2011

Die UEMF-Leitlinie ist für Kinder mit länger anhaltenden, nicht progredienten Auffälligkeiten umschriebener motorischer Fertigkeiten konzipiert, die auf kein anderes bekanntes medizinisches beziehungweise psychosoziales Leiden zurückgeführt werden können. Diese Leitlinie bezieht sich nicht auf Kinder, die an motorischen Auffälligkeiten leiden, verursacht durch Zerebralparesen, neurodegenerative Störungen, trau-
Kasten 1: Checkliste Symptome
Verdacht auf eine umschriebene motorische Entwicklungsstörung (UEMF), wenn das Kind (Alter ≥ 3 Jahre) deutliche Probleme in mindestens 2 der folgenden Bereiche A bis F hat:
A Ball kontrolliert und gezielt werfen. Ball in Tennisballgrösse aus einer Entfernung von zirka 2 m fangen. Einen Tennisball mit der Hand auf den Boden prellen.
B Über Hindernisse in der Umgebung oder beim Spielen springen. Durchschnittlich schnell mit angemessenem Laufstil rennen. Interessiert und gerne an sportlichen Aktivitäten teilnehmen.
C In altersangemessenem Tempo nachmalen oder schreiben. Altersentsprechend genau bzw. leserlich ausmalen bzw. schreiben. Mit angemessener Stifthaltung bzw. ökonomischem Kraftaufwand malen/schreiben.
D Bilder oder Formen genau und ohne wesentliche Anstrengung ausschneiden. Eine komplexere motorische Aktivität (z.B. Bauen, Basteln) umsetzen. Schnell und altersangemessen aufräumen, Schuhe anziehen, Anziehen etc.
E Neue motorische Fertigkeiten (z.B. Schwimmen, neue Bewegungsspiele) lernen, das heisst nicht mehr Zeit zum Erlernen als Gleichaltrige benötigen.
F Sich nicht wie ein Elefant im Porzellanladen verhalten. Sich nicht tollpatschig verhalten, z.B. vom Stuhl kippen.

matische Hirnverletzungen, inflammatorische Hirnerkrankungen, toxische und teratogene Störungen, bösartige Tumoren oder durch sonstige medizinische Leiden, die die auffällige motorische Leistungsfähigkeit erklären. Kinder mit schwerer mentaler Retardierung kommen aufgrund von evaluativen Problemen nicht für die Diagnose einer UEMF infrage. Diese Kinder können jedoch trotzdem Symptome einer schlechten motorischen Koordination aufweisen. Deshalb können allgemeine Behandlungsindikationen und spezifische Interventionsmethoden auch auf die Gruppe derjeniger Kinder mit mentaler Retardierung angewendet werden, wenn auch die Forschung diese Kinder bisher von der Evaluation ausgeschlossen hat.
Ist UEMF eine eigenständige Krankheit?
Aufgrund der Komorbidität von UEMF, ADHS, Lernstörungen und Autismus (s. unten) wurde eine gemeinsame Ätiologie diskutiert. Eine grosse jüngst publizierte Zwillingsstudie konnte eine durchgehende Komorbidität nur in schweren Fällen bestätigen. Es konnte gezeigt werden, dass die motorischen Symptome einer UEMF bei den meisten Kindern getrennt von Verhaltensmerkmalen wie Verhaltensstörungen und ADHS auftraten. Ähnliches war bereits aus einer früheren repräsentativen Bevölkerungsstichprobe bekannt. Trotz vielfacher Komorbiditäten bei Kindern mit UEMF liegen insgesamt Hinweise vor, dass die UEMF als eigenständige Störung existiert, zumindest ebenso wie ADHS, Autismusspektrum-Störung sowie andere Entwicklungs- und Lernstörungen. UEMF scheint kritisch für die Prognose, etwa bei ADHS und sozioemotionalen Problemen, zu sein, und sie scheint den Erfolg bei bestimmten schulischen Fähigkeiten zu prognostizieren.

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Komorbiditäten
Häufige Komorbiditäten sind Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörungen (ADHS), spezifische Sprachentwicklungsstörungen, Lernbehinderungen, Autismusspektrum-Störungen (ASD) und Lese-Rechtschreib-Störungen. Ohne Zweifel ist besonders dieses Spektrum der Komorbiditäten im Sinne einer ganzheitlichen Diagnostik und Behandlung zu berücksichtigen. Allerdings müssen wie immer bei multiplen Störungen patienten- und problemorientiert Prioritäten gesetzt werden. Bei einigen Kindern kann nicht immer geklärt werden, inwiefern Verhaltensprobleme komorbide Störungen oder bereits die Folgen langjähriger negativer Erfahrungen mit Tollpatschigkeit im täglichen Leben sind.
Drei Kriterien definieren UEMF
Laut ICD-10 ist UEMF definiert als «Störung, deren Hauptmerkmal eine schwerwiegende Entwicklungs-
Kasten 2: Checkliste: Anamnese
A. Problemerfassung A1. Befragung der Angehörigen: • Einschränkungen im Bereich Aktivitäten des täglichen Lebens und Teilhabe (zu Hause, Sport, Kin-
dergarten/Schule, Freizeit) • Einschränkungen im Bereich der motorischen Funktionen • Exploration möglicher Probleme im medizinischen, bes. neurologischen sowie im psychischen und
sozialen Bereich (z. B. Adipositas, Schilddrüsensymptomatik, neurologische Symptome, depressive Zeichen, Zeichen eines ADHS, einer Autismus-Spektrumsstörung, einer Lernstörung, v. a. Lesen, Rechtschreibung, Rechnen, einer Deprivation) • Beginn der Problematik • Verlauf der Problematik • situatives vs. generalisiertes Auftreten • Leidensdruck.
A2. Befragung des Kindes (soweit möglich): Wie unter 1., insbesondere Leidensdruck, Aktivitäten und Teilhabe.
A3. Situationsübergreifende fremdanamnestische Daten (Kindergarten, Schule) Wie unter 1., Aktivitäten und Teilhabe, Zeichen einer medizinischen oder psychosozialen Problematik, Umgebungsfaktoren, Unterstützungssysteme, individuelle/persönliche Faktoren.
B. Familienanamnese • Hinweise für Störungen (wie unter A1) genannt, insbesondere psychische oder neurologische
Störungen), familiäre Ungeschicklichkeit • ggf. Wohnsituation, familiäre Belastungen.
C. Anamnese des Patienten • Schwangerschaft, Geburt • 1./2. Lebensjahr (z.B. Nahrungsaufbau, Schlafregulation, Spielverhalten, Kontaktverhalten) • Meilensteine (z.B. freies Sitzen, freies Gehen, Pinzettengriff, erste Worte, Sauberkeit, Fahrradfah-
ren, Schwimmen) • Kindergarten: Fertigkeiten (z.B. Ausschneiden, Malen, Bauen), Verhalten, soziale Integration • Schule: Schultyp, Leistungen (z.B. beste/schwächste Fächer), Verhalten, soziale Integration • Sehen (Augenarzt), Hören (HNO-Arzt) • internistische bzw. neurologische Erkrankungen • Unfälle, Operationen, Impfungen • Alltagsfertigkeiten (z.B. An- und Ausziehen, Waschen, Essen, Trinken [Besteck-/Geschirrgebrauch]) • Kommunikation (Bedürfnisse äussern, Aufforderungen verstehen) • Interaktion, Umgang mit Gefahren, Aktivität, Unruhe, Ablenkbarkeit • Ressourcen/Begabungen • bisherige Therapien (z.B. Dauer, Intensität, Verlauf, Erfolg) • bisherige Eingliederungen (z.B. Kindergarten/Schule, Wechsel).

beeinträchtigung der motorischen Koordination ist, die nicht allein durch eine Intelligenzminderung oder eine spezifische angeborene oder erworbene neurologische Störung erklärbar ist». Ein UEMF wird für gewöhnlich im Laufe des Kleinkindalters offenkundig, soll jedoch typischerweise nicht vor dem Alter von 5 Jahren diagnostiziert werden. 3 Kriterien definieren eine UEMF: 1. Die motorischen Fähigkeiten liegen erheblich unterhalb des Niveaus, das aufgrund des Alters des Kindes und angemessener Möglichkeiten zum Erwerb der Fähigkeiten zu erwarten wäre. Die Störungen manifestieren sich wie folgt: • schlechter Gleichgewichtssinn, Tollpatschigkeit,
Fallenlassen von oder Zusammenstossen mit Gegenständen • fortbestehende Schwierigkeit beim Erwerb grundlegender motorischer Fähigkeiten (z.B. Fangen, Werfen, Treten, Rennen, Springen, Hüpfen, Schneiden, Anmalen, Schreiben) • anamnestisch werden zuweilen merkliche Verzögerung beim Erreichen von Meilensteinen in der motorischen Entwicklung (z.B. Gehen, Krabbeln, Sitzen) berichtet. 2. Die Störungen beeinträchtigen das alltägliche Leben und/oder die Schulleistung erheblich. 3. Die Störungen sind idiopathisch, das heisst, sie sind nicht allein durch mentale Retardierung, angeborene oder erworbene neurologische Störungen oder irgendeine schwerwiegende psychosoziale Auffälligkeit erklärbar (z.B. schwere Aufmerksamkeitsdefizite oder schwere psychosoziale Probleme, wie etwa Deprivation). UEMF soll nicht diagnostiziert werden, wenn die motorischen Fähigkeiten aufgrund mentaler Retardierung oder einer medizinischen Störung nicht durch einen standardisierten Test motorischer Fertigkeiten bewertet werden können.
Prognose
UEMF persistiert bei etwa 50 bis 70 Prozent der Fälle bis weit ins Erwachsenenalter hinein. Im Kindergarten- und frühen Schulalter scheinen Motorikprobleme gehäuft mit Sprach- und Kommunikationsproblemen einherzugehen. Bei Kindern mit UEMF werden im späteren Verlauf schlechtere Schulleistungen, insbesondere im Bereich Leseverständnis sowie Arithmetik (evtl. korreliert mit visuell-räumlichen Auffälligkeiten), beschrieben. Als somatische Folge wird gehäuft Adipositas bei Jungen (nicht bei Mädchen) beobachtet, möglicherweise auch als Folge geringerer mannschaftssportlicher Aktivitäten. Langfristig ist die Teilnahme an sozialen Aktivitäten im Allgemeinen verringert.
Wie wird die Diagnose gestellt?
Die Komorbidität mit Störungen wie ADHS, ASD und Lernstörungen (v.a. Sprachentwicklungsstörungen und Leseverständnisprobleme) muss durch sorgfältige Anamnese, klinische Untersuchung und spezifische Testuntersuchungen eruiert werden. Sofern die Komorbidität die Testsituation beeinflusst, sollte auch eine Testwiederholung stattfinden. Die ko-

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gnitiven Funktionen müssen nicht durch objektive Testverfahren (z.B. IQ-Test) untersucht werden, wenn das Kind unauffällige schulische Leistungen zeigt. Im Zweifel wird eine Intelligenzuntersuchung jedoch empfohlen. Als Screeningverfahren können Fragebogenverfahren, zumeist in Form von Eltern- oder Lehrerfragebögen, sehr sinnvoll sein. Insgesamt scheinen Informationen von den Eltern valider zu sein als von den Lehrern. Checklisten zu Symptomen, Anamnese und Untersuchung sind in den Textkästen 1 bis 3 dargestellt.
Wer soll die Diagnose stellen?
Die Diagnose UEMF soll im Rahmen eines Untersuchungssettings durch eine erfahrene Fachperson erfolgen, die die entsprechende Qualifikation besitzt, um die genannten Kriterien zu überprüfen. In der Schweiz ist dies der Arzt. Gegebenenfalls kann die Untersuchung auch einen multidisziplinären Ansatz erfordern.
Stufe 1: Versorgung durch den Hausarzt oder Pädiater Alle Kinder in der Schweiz sollten im Rahmen von Vorsorgeuntersuchungen vor allem von den Pädiatern sowie den Hausärzten gesehen werden. In diesen Vorsorgeuntersuchungen werden systematisch neben einer Vielzahl anderer körperlicher sowie psychosozialer Merkmale auch motorische Meilensteine und Probleme im Alltag systematisch exploriert und klinisch untersucht. Bei einem begründeten Verdacht ist bis jetzt eine nähere Untersuchung bezüglich Anamnese und klinischer Befunde insbesondere für die Verordnung der Ergotherapie notwendig. Der Hausarzt oder Pädiater kann die Durchführung eines normierten Testverfahrens an einen Therapeuten (Ergo- bzw. Physiotherapeut) mit entsprechender Ausbildung oder an ein entsprechendes Fachzentrum delegieren. Dieses Vorgehen betrifft die Verordnung im Rahmen der Regelversorgung. Entsprechend dem bisherigen Vorgehen wurden in der Regel als Erstverordnung 3-mal 9 Therapieeinheiten verschrieben. Entsprechend der aktuellen Empfehlung ist eine störungsbildabhängige Zwischendiagnostik spätestens nach 27 Behandlungen erforderlich. Dabei wären die oben genannten Kriterien erneut zu überprüfen. Bei mangelndem Therapiefortschritt, bei Auftreten von Komorbiditäten, bei mangelnder Umsetzung im psychosozialen Umfeld oder sonstigen Komplikationen sind weiterführende Massnahmen, wie zum Beispiel die Überweisung an ein Fachzentrum, in Betracht zu ziehen.
Stufe 2: Versorgung durch Spezialeinrichtungen Wenn die diagnostischen Ressourcen bei Hausarzt oder Pädiater nicht ausreichen, werden die Kinder an entsprechende Fachstellen wie zum Beispiel entwicklungspädiatrische oder neuropädiatrische Fachärzte oder Fachabteilungen, kinder- und jugendpsychiatrische Institutsambulanzen oder andere spezialisierte Ärzte überwiesen. Eine solche Überweisung erfolgt häufig:

• bei Verdacht auf spezifische medizinische oder neurologische Erkrankungen
• bei hoher Komplexität (Komorbidität) • bei schwierigen sozialen Bedingungen • bei Notwendigkeit koordinierter komplexer Behand-
lungsplanung • bei schwierigen Untersuchungsbedingungen oder
Therapieresistenz. In dieser Versorgungsstufe erfolgt eine umfassende mehrdimensionale Diagnostik. Diese hat im Gegen-
Kasten 3: Checkliste: Untersuchung (ab 3 Jahren)
Allgemeiner Status • internistische Untersuchung (z.B. Adipositas, Zeichen der Gewalteinwirkung, Stoffwechselstörung)
Neurologischer Befund • Spontanmotorik, Visus, MER, BHR, grobe Kraft, Halte- und Zeigeversuche, Einbeinstand, Seiltän-
zergang, Diadochokinese, Fingeroppositionstest (Ausschluss: kortikospinale, extrapyramidale, zerebelläre Zeichen, Zeichen einer neuromuskulären Störung), vegetative Zeichen, Sensibilität, Tonus, Gelenkbeweglichkeit
Klinische Beobachtung und Exploration • Sprache (z.B. Artikulation, expressive Sprache, Sprachverständnis) • Verhalten während der Untersuchung (z.B. Orientierung; Bewusstsein; Wahrnehmung; Aufmerk-
samkeit und Konzentration; Denken und Gedächtnis; Affekt; Ich-Erleben) • Fertigkeiten (Aktivitäten) (z.B. An-/Ausziehen, Mal- oder Schreibversuch (z.B. Mann-Zeichen-Test) • gezieltes Werfen, Fangen, Hüpfen, Objektmanipulation (z.B. Greifen im Pinzettengriff und Hinein-
stecken, Bauen).
Orientierende Verfahren zur allgemeinen Entwicklung • orientierende Entwicklungsdiagnostik (analog Vorsorgeuntersuchungen, bei Kindern < 8 Jahre) Medizinische Zusatzuntersuchungen zur Klärung der Ätiologie (bei spezieller Fragestellung, fakultativ bzw. problemorientiert, ggf. Delegationsverfahren): • EKG • EEG • Labor • bildgebende Verfahren (z.B. MRT) • augenärztliches Konsil (z.A. Visusstörungen) • neuropädiatrisches Konsil • orthopädisches Konsil. Motorisches Testverfahren (objektive Untermauerung, Therapiemonitoring bei UEMF): • M-ABC-2 (alternativ BOT-2). Test- und Fragebogendiagnostik (problemorientiert, bei spezieller Fragestellung bzw. zur Klärung von Begleit- oder Folgestörungen, ggf. Delegationsverfahren): • Intelligenzdiagnostik und Teilleistungsdiagnostik: Sprache, auditive Wahrnehmung, Lesen, Rechtschreibung, Rechnen, Graphomotorik/visuelle Wahrnehmung • motorische Leistungsfähigkeit (z.B. Zürcher Neuromotorik, MOT4-6, FEW2/DTVP2) • Verhalten allgemein (orientierende Fragebogenverfahren) • Verhalten (zum Ausschluss häufiger Komorbiditäten): Fragebogen-/Interviewverfahren zu ADHS, Autismus, Störung des Sozialverhaltens, Emotionalstörungen • Persönlichkeitsdiagnostik (Fragebogen-/Interviewverfahren, z.B. zu depressiven Störungen) • Lebensqualität (Fragebogenverfahren) • Alltagsaktivitäten (Fragebogen- oder Interviewverfahren). Die Basisdiagnostik beim niedergelassenen Arzt ist problemorierentiert, sie richtet sich nach Praxisressourcen. Die weitergehende Spezial- und Komplexdiagnostik ist bei hoher Komorbidität, bei vermuteten spezifischen medizinischen oder neurologischen Erkrankungen, schwierigen sozialen Bedingungen, koordinierter komplexer Behandlungsplanung, schwierigen Untersuchungsbedingungen und Therapieresistenz von Bedeutung. 1/13 27 SCHWERPUNKT satz zu den diagnostischen Resultaten bei der Regelverordnung ein umfassendes Behandlungsgutachten mit Definition aller Ebenen zur Folge. Dieses Behandlungsgutachten ist Grundlage des weiteren therapeutischen Vorgehens. Allgemeine Überlegungen zur Therapie Wenn die Kriterien für die Diagnose UEMF nicht erfüllt sind, jedoch Probleme im Alltag bestehen, sollten entsprechende pädagogische Fördermassnahmen zur Unterstützung der Teilhabe unter Berücksichtigung unterschiedlicher Lebenskontexte stattfinden. Besonders zweckmässig kann dies für Kinder unter 5 Jahren sein, die signifikante motorische Einschränkungen aufweisen, ohne dabei die Diagnosekriterien für eine UEMF zu erfüllen. Da Kinder komorbide Störungen, wie zum Beispiel ADHS, aufweisen können, müssen unter Umständen Behandlungsprioritäten festgelegt werden. Fehlende Motivation und individuelle Faktoren (z.B. zerrüttete Familienverhältnisse, Eltern mit psychiatrischen Störungen) können die Wirksamkeit der Behandlung stark einschränken oder die Behandlung insgesamt unmöglich machen. Bei einigen Kindern mit UEMF könnten hingegen eine Förderung von kompensatorischen Massnahmen und die Unterstützung durch die Umgebung ausreichen. Bei Schulkindern können spezifische feinmotorische Probleme massgeblicher für schulische Erfolge sein als grobmotorische Probleme. Grobmotorische Probleme wiederum scheinen aber wichtig für die Teilhabe und den Aufbau sozialer Kontakte zu Gleichaltrigen zu sein. Für die Behandlungsplanung soll eine individuelle Zielsetzung benutzt werden. Zielen, die auf der Ebene der Aktivitäten und der Teilhabe gesetzt werden, sollte Vorrang eingeräumt werden. Ferner sollte der Sichtweise des Kindes Rechnung getragen werden. Es kann als evidenzbasiert gelten, dass bei valider Diagnose eines UEMF eine Therapie grundsätzlich von Vorteil ist. In der Fachliteratur werden folgende Interventionen für Kinder mit UEMF genannt: • therapeutische Ansätze in der Ergo- und Physio- therapie • Nahrungsergänzungsmittel und Medikamente • pädagogische Ansätze. Training, Ergound Physiotherapie Die Verbesserung der körperlichen Funktionen wie Wahrnehmung, sensorische Integration, Muskelkraft, visuell-motorische Wahrnehmung und so weiter soll zu besserer Leistungsfähigkeit führen. Die Therapie bei Kindern mit UEMF schliesst häufig auch ein Training grobmotorischer Funktionen sowie Krafttraining mit ein. Kurzzeiteffekte sind möglich. Derzeit gibt es für die therapeutische Effektivität bestimmter Methoden keine hohe Evidenz. Differenzielle Effekte zwischen verschiedenen Interventionen sind noch zu wenig untersucht. Aufgaben- und alltagsorientierte Ansätze mit konkreten Zielen für die Verbesserung der motorischen Aufgaben scheinen er- folgreicher zu sein als prozessorientierte Ansätze, wobei sowohl Einzel- wie auch Gruppenprogramme geeignet sind. Die Auswirkungen manuell-medizinischer Interventionen auf motorische Funktionen und Leistungsfähigkeit bei Kindern mit UEMF sind unklar. Zusammengefasst treten manualmedizinische Auffälligkeiten möglicherweise häufig bei Grundschulkindern mit motorischen Problemen auf und können auch behandelt werden. Allerdings sind diese Probleme wohl eher als Folge und nicht als Ursache zu sehen. Bei Kindern mit UEMF kommen in der Schweiz bei der Verordnung von Therapieeinheiten bei niedergelassenen Therapeuten folgende Indikationsschlüssel zur Anwendung: Ergotherapie: Diagnosegruppe Entwicklungsstörungen (Kinder bis 18 Jahre): • sensomotorisch-perzeptive Behandlung oder • motorisch-funktionelle Behandlung • Erstverordnung 3-mal 9 Sitzungen • Folgeverordnung von 2-mal 9 Sitzungen bis zu einer Gesamtverordnungsmenge des Regelfalls bis zu 63 Einheiten • Frequenzempfehlung: 1-mal/Woche. Physiotherapie: Diagnosegruppe Entwicklungsstörung (Kinder bis 18 Jahre): • Erst- und Folgeverordnung je 9 Sitzungen • bis zu einer Gesamtverordnungsmenge des Regelfalls bis zu 45 Einheiten • Frequenzempfehlung: 1-mal/Woche Nahrungsergänzungsmittel und Medikamente Fettsäuren und Vitamin E können nicht zur Verbesserung motorischer Funktionen empfohlen werden, da hierfür keine Evidenz besteht. Methylphenidat scheint nicht nur positive Auswirkungen auf das Verhalten von Kindern mit ADHS zu haben, sondern auch auf motorische Fertigkeiten (z.B. Handschrift). Zusätzliche motorische Therapie wird dennoch bei 50 Prozent der mit Methylphenidat behandelten Kinder mit ADHS im Rahmen einer multimodalen Behandlung mit edukativer und psychosozialer Unterstützung erforderlich. Unter Methylphenidat scheint sich die motorische Präzision zu verbessern, allerdings auf Kosten der Flüssigkeit. Methylphenidat ist sicherlich nur ein Behandlungsbaustein für Kinder mit UEMF und ADHS. Angesichts der besonders schlechten Langzeitprognose von Kindern mit kombiniertem ADHS und UEMF erscheint dies bedenkenswert. Methylphenidat sollte Kindern mit UEMF und gleichzeitig vorhandenem ADHS verabreicht werden, auch um feinmotorische Symptome (Handschrift) zu verbessern. Methylphenidat kann empfohlen werden, wenn es eine angemessene klinische Indikation bei Kindern mit ADHS und UEMF gibt und wenn die Medikation mit zusätzlicher Behandlung und Unterstützung verbunden ist, um funktionelle Probleme wie Schreiben und Zeichnen zu verbessern. Übung macht den Meister Regelmässiges Üben ist wesentlich für das motorische Lernen und den Fertigkeitenerwerb. Daher ist 28 1/13 SCHWERPUNKT die Unterstützung durch Eltern, Lehrer und weitere bedeutsame Menschen in der Umwelt des Kindes wichtig für den Erfolg der Behandlung. Eine professionelle Anleitung und ein Training der Eltern wird empfohlen. Dabei soll eine positiv unterstützende Haltung der Eltern und Erzieher/Lehrer gefördert werden, die spezifischen Probleme des Kindes mit UEMF sollen akzeptiert werden, um schliesslich dem Kind mit UEMF zu helfen, die Möglichkeit zu bekommen, seine motorischen Fähigkeiten und Teilhabe an alltäglichen Aktivitäten (zu Hause, in der Schule, bei Freizeit- und Sportveranstaltungen) zu verbessern. Speziell das Schreiben ist eine komplexe Aktivität, die eine zeitliche und räumliche Bewegungskoordination auf Grundlage sensorisch-motorischer Fähigkeiten sowie visueller und auditiver Wahrnehmung umfasst. Es ist kein Selbstzweck, sondern erfordert eine Automatisierung der Bewegungen, damit man in die Lage versetzt wird, sich auf höhere Prozesse wie Inhalt, Grammatik und Syntax zu konzentrieren. Möglicherweise sind Instruktionen, die eine Kombination aus visuellen Hinweisen (Pfeilen) und Gedächtnistraining (wie Buchstaben zu gestalten sind) benutzen, am effizientesten. Eine Adaption der Schreibutensilien führt bei 3- bis 6-jährigen Kindern nicht zu einer leserlicheren oder schnelleren Graphomotorik. Diese Zusammenstellung von Auszügen der Deutsch-Schweizerischen Versorgungsleitlinie zu Definition, Diagnose, Untersuchung und Behandlung bei umschriebenen Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen (UEMF) erfolgte durch die Redaktion PÄDIATRIE unter Verwendung des Originaltextes mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. med. Rainer Blank, Deutsche Gesellschaft für Neuropädiatrie. Die Verantwortung für die Auswahl der Auszüge, die umfangreichen Kürzungen und die Zwischentitel liegt bei der Redaktion PÄDIATRIE. Quelle und Downloadlink: AWMF-Register Nr. 022/017: Umschriebene Entwicklungsstörungen motorischer Fähigkeiten aktueller Stand 07/2011; Klasse: S3; Deutsch-Schweizerische Versorgungsleitlinie zu Definition, Störungsmechanismen, Untersuchung und Therapie bei Umschriebenen Entwicklungsstörungen Motorischer Funktionen (UEMF). Kurz- und Langversion Juli 2011 Kurzfassung: http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/022-017k_S3_Umschriebene_Entwicklungsstörungen_motorischer_Funktionen_2011-08.pdf Langfassung: http://www.awmf.org/uploads/tx_szleitlinien/022-017l_S3_Umschriebene_Entwicklungsstörungen_motorischer_Funktionen_2011-08.pdf Kommentar zur Deutsch-Schweizerischen Versorgungsleitlinie UEMF Für Uneingeweihte missverständlich Die umschriebene Entwicklungsstörung motorischer Funktionen (UEFM) ist als Spektrumstörung schwer fassbar, und es braucht viel Erfahrung, um die Diagnose im konkreten Fall zu stellen. Alle Kinderärzte haben sich ihre eigenen Abklärungswege und inneren Standards durch Praxiserfahrung angeeignet. Von Philipp Trefny B ei der Deutsch-Schweizerischen Versorgungsleitlinie zu umschriebenen Entwicklungsstörungen motorischer Funktionen (UEFM) handelt es sich um das Ergebnis von Verhandlungen der deutschen Krankenkassen und der deutschen Ärzteverbände zur Umschreibung einer Diagnose, mit dem Ziel, eine Therapie für entsprechend auffällige Kinder verordnen zu können: Ergotherapie und Physiotherapie. In der Schweiz kennen wir die Diagnose nach ICD-10 F82 schon länger und dürfen seit 2008 wieder Ergotherapie verordnen, nachdem dies von 2006 bis 2008 fast unmöglich geworden ist, weil ein Krankenkassenvertreter Einsparungspotenzial bei den Kindern sah (ca. 0,001% der jährlichen Gesundheitskosten der Schweiz). Das Scoreblatt wurde damals zwischen Krankenkassenvertretern (vornehmlich der CSS) und Entwicklungspädiatern erarbeitet. Es war wie immer mit den Krankenkassen: Will man Leistungen im Bereich der Entwicklung von Kindern beanspruchen, muss man sich akribisch rechtfertigen. Der Generalverdacht, Kinder würden wegen unklarer Befindlichkeitsstörungen unrechtmässig therapiert, steht zwischen den Zeilen der diversen Verschreibungsvorschriften! Das Misstrauen der Krankenkassen ist gross. Die deutschen Leitlinien sollen nun in der Schweiz ebenfalls Anwendung finden. Wir sind dabei alle angehalten, möglichst pragmatisch und im Sinne der Kinder vorzugehen, denn Leitlinien wären eigentlich dazu da, Klarheit zu schaffen und die Handhabung der Verschreibungsmodalitäten zu vereinheitlichen. Weil nun aber die UEMF eine sogenannte Spektrumstörung ist, ist diese äusserst schwierig plausibel zu erklären. Entsprechend liest sich dieser Text für Uneingeweihte so, als ob fast jedes Kind Anrecht auf eine Abklärung und eine Therapie hätte (Checkliste Symptome ab vollendetem 3. Lebensjahr!). Ein Arzt muss schon sehr erfahren sein im Bereich der Entwicklungsneurologie, um bei einem konkreten Fall diese Diagnose zu stellen. Die beiden standardisierten Mo- Dr. med. Philipp Trefny, FMH Kinderund Jugendmedizin, spez. Entwicklungspädiatrie, Luzern 1/13 29 SCHWERPUNKT Es herrscht eine gewisse Ratlosigkeit darüber, was die UEMF eigentlich darstellt. toriktests (M-ABC und BOT) setzen ebenfalls ein grosses Wissen voraus. Die Empfehlung bezüglich Nahrungsergänzungsmittel und Medikamente (im Vordergrund steht offenbar Methylphenidat) und die pädagogischen Massnahmen sind nachvollziehbar, aber nicht eins zu eins umsetzbar. Wiederum verlangt es vom Arzt viel Erfahrung und eine gute Vernetzung mit Therapeuten, um das Richtige zu finden und das Kind zu begleiten. Also: Die Kinder immer ganzheitlich betreuen! Die Leitlinien sprechen viel von Ko-Morbiditäten und differenzialdiagnostischen Abgrenzungen. Die langen Differenzialdiagnoselisten und die aufgelisteten Untersuchungsgänge bis hin zu EEG und MRI einschliesslich fast aller häufig vorkommender kinderpsychiatrischer Diagnosen lassen den Schluss zu, dass doch eine gewisse Ratlosigkeit darüber besteht, was die UEMF eigentlich darstellt. Das alleinige Herauslösen eines kleinen, aber wichtigen Aspektes der menschlichen Entwicklung aus dem ganzen Bereich der Psychiatrie, Neurologie und Entwicklungspädiatrie ist fragwürdig. Aber: Das Kind, das unter einer wie auch immer gearteten UEMF leidet, das sich nicht mehr ungestört entwickeln kann, braucht einen geschützten Rahmen und verständig-einfühlsame Therapeuten. Wir Kinderärzte machen gerne mit, füllen weiterhin brav Scoreblätter und Krankenkassenzeugnisse aus und lassen uns von der IV gängeln. In der Schweiz haben wir für Kinder vor dem vollendeten 2. Lebensjahr die Möglichkeit, Physiotherapie über die IV als Geburtsgebrechen GgV 395 anzumelden, um eine Kostengutsprache zu erhalten. Die meisten Regionalärztlichen Dienste (RAD) der IV lehnen die GgV Nr. 390 (Zerebralparese) ab. Der Ausdruck Minimal-CP wird nicht mehr akzeptiert, mit der Begründung, dass der Beeinträchtigungsgrad zu gering sei. Die Leitlinien der UEMF weisen aber richtigerweise genau darauf hin, dass eine Beeinträchtigung der Lebensqualität vorliegen muss. Alle Kinderärzte haben sich ihre eigenen Abklärungswege und inneren Standards durch Praxiserfahrung angeeignet. Sehr viele Kinderärzte kennen den Abklärungsweg von Frau Prof. Ruf-Bächtiger. Zudem findet der Zürcher Neuromotoriktest nach Prof. R. Largo immer mehr Beachtung. Letzterer ist eigentlich der einzige wirklich gut standardisierte neuromotorische Leistungstest für Kinder ab 5 Jahren. Viele Kinder sind aber schon lange vorher «irgendwie» auffällig und weisen sogenannte «soft signs» auf. Kinder können sich recht gut selber einschätzen, wenn ihnen irgendwelche motorischen Aufgaben gestellt werden, welche sie nicht oder nur beschränkt ausführen können. Verhaltensauffälligkeiten, wie zum Beispiel motorische Hyperaktivität, extremes Trotzen und clowneskes Verhalten können dazu dienen, vom eigentlichen Problem abzulenken. Kinder müssen im Kleinkindesalter bereits alle nötigen motorischen Erfahrungen sammeln können. Leider stellen wir fest, dass viele Bezugspersonen Aussenräume für Kinder eher gefährlich einschätzen – sie bringen die Kinder zunehmend drinnen unter. In Zukunft wird es aufgrund von neuesten funktionellen MRT-Untersuchungen und EEG-Ableitungen zunehmend Hinweise dafür geben, dass viele der Ko-Morbiditäten und der Differenzialdiagnosen tatsächlich mit Besonderheiten der Hirnfunktionen in den motorischen und senso-motorischen Arealen der Hirnrinde zu tun haben (z.B. bei Dyskalkulie). Zum Schluss eine Frage: Ist es nicht bedenklich, dass für standardisierte Neuromotoriktests (M-ABC, Psychomotorik-Therapie-Referenzen) jüngst neue, nach unten korrigierte Referenz- und Normwerte eingeführt wurden? 30 1/13 SCHWERPUNKT Kommentar zur Deutsch-Schweizerischen Versorgungsleitlinie UEMF Mein Kind braucht eine Therapie, oder? Ein Kommentar zur UEMF, oder: «Herr Doktor, die Kindergartenlehrperson meines Kindes findet, es müsse in die Psychomotoriktherapie, was meinen Sie dazu?» Von Ramon Möller I ch danke der Redaktion für die zusammenfassende und orientierende Top-down-Übersicht über ein Thema, das uns in der Praxis auf vielfältige Weise begegnet. Meine Sicht als Praktiker, Kinderarzt und Entwicklungspädiater ist eine auf den einzelnen Patienten zentrierte und pragmatische. Das Zitat im Lead ist eine recht häufige Herausforderung, von der ich beispielhaft ausgehen möchte. In Ergänzung zur Differenzialtherapie in der UEMF-Übersicht stellt die Psychomotoriktherapie in der Schweiz eine mancherorts leichter verfügbare Alternative zur Ergotherapie und Physiotherapie dar. Die Frage der Mutter eröffnet ein kleines Büchlein mit sieben Siegeln: 1. Wo ist der Leidensdruck? Im Artikel wird argumentiert, dass die UEMF oft verpasst wird. Unter Berücksichtigung des Leidensdrucks kann dies vermieden werden. Es gilt, ihn ernst zu nehmen, ihn beim Kind, seinen Eltern und den Lehrkräften zu erkennen, zu teilen und zu tragen. Erst durch ihn erlangen die von uns erhobenen Befunde einer auffälligen Motorik alltagsrelevante Bedeutung. 2. Wer erteilt den Auftrag? Der Ursprung des Leidensdrucks und der Erteilung eines Auftrags zur Abklärung und Behandlung müssen in Übereinstimmung gebracht oder wenigstens aufeinander abgestimmt werden. Die Erfahrung hat uns gelehrt, dass der Erfolg und die Nachhaltigkeit einer Abklärung und Behandlung von der sorgfältigen Klärung dieser Frage abhängen. 3. Was bedeutet die Frage? Geht es um die Motorik, oder verbirgt sich in der Anregung eine verschlüsselte Botschaft? Ist das Kind verhaltensoriginell? Hat es Wahrnehmungsstörungen? Lebt es in einer psychosozial belastenden Situation? Rückfragen lohnen sich sicher. dies eine detaillierte Untersuchung. Die Diagnose einer UEMF bedingt den Ausschluss von Störungen aus allen anderen Entwicklungsbereichen. 5. Differenzialtherapie? Die Wahl der geeigneten Massnahme leitet sich aus dem Entwicklungsprofil und dem Leidensdruck ab und wird nicht zuletzt von der lokalen Verfügbarkeit beeinflusst. 6. Tarmed und WZW (Wirksamkeit, Zweckmässigkeit, Wirtschaftlichkeit)? Sowohl der Umfang der Abklärung als auch derjenige der Behandlung haben innerhalb eng gesetzter Grenzen zu erfolgen, eine Auflage des KVG und eine Realität des zunehmenden Kostendrucks. Auch diesen Ansprüchen soll der Praktiker gerecht werden. 7. Die Ethik in der Titelfrage? Mitunter weckt die Titelfrage philosophische, medizin- und sozialpolitische Gedankengänge: 40 Prozent der Kinder in der Schweiz (oder mehr) erhalten eine Therapie oder eine pädagogisch-therapeutische Massnahme. Diese Prävalenz kann somit nicht mehr als Mass der Normalität herangezogen werden. Ist sie Ausdruck eines beherzten und grosszügigen Engagements für unsere Jugend und unsere Zukunft? Oder handelt es sich um einen Markt? Wir leben in einer Gesellschaft der Wohlfahrt. Ich wünsche es jedem Kind, dass es seinen Fähigkeiten und Fertigkeiten entsprechend gefördert wird – auf der ganzen Welt. Die globale Sicht, die Jean Ziegler in seinem neuen Buch vermittelt, ist indessen erschütternd: 70 Millionen Menschen sterben jedes Jahr, davon 19 Millionen an Hunger. Die Sicht auf die lokal verfügbaren Möglichkeiten gibt Anlass zu Dankbarkeit und zur Gelassenheit gegenüber ihren Grenzen. Dr. med. Ramon Möller, FMH Kinderund Jugendmedizin, spez. Entwicklungspädiatrie, Pratteln Der Leidensdruck ist entscheidend für die Praxisrelevanz der Befunde. 4. Wie differenziert soll die Abklärung erfolgen? Die bis dahin gesammelten Informationen sind für die Planung der Abklärung hilfreich, ja unabdingbar. Die Indikation für eine Behandlung kann eventuell aus der Anamnese und den bisherigen Notizen zu den bereits erfolgten Vorsorgeuntersuchungen gestellt werden. Ist das Kind nicht bekannt oder zugewiesen, erfordert 1/13 31