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Schwerpunkt
Wirksamkeit und Sicherheit von Kinderarzneimitteln aus pharmakologischer Sicht
Im Kindesalter ist die Pharmakokinetik vieler Medikamente bei Kindern gegenüber Erwachsenen in vielfacher Hinsicht verändert, was unter anderem mit deutlichen Unterschieden im Verteilungsvolumen und den Leistungen der Eliminationsorgane, also Leber und Niere, zusammenhängt. Um Arzneimittel bei Kindern unterschiedlicher Lebensalter sicher zu dosieren, ist es wichtig, die Veränderungen in der altersgemässen Entwicklung der Organfunktionen zu kennen. Der nachfolgende Beitrag fasst die wichtigsten Erkenntnisse zusammen.
Ursula von Mandach
Pharmakologie bei Kindern: Was ist anders?
Früh- und Neugeborene stellen innerhalb der verschiedenen kindlichen Altersgruppen eine Gruppe dar, die sich in ihrer Pharmakokinetik speziell auszeichnet. In der ersten Lebenswoche vollziehen sich die meisten Veränderungen. Organbarrieren (z.B. Blut-Hirn-Schranke) sind für Arzneistoffe durchlässiger als beim reiferen Kind oder Erwachsenen. Beim Magen führt die geringere Azidität zu einer verminderten Resorption von sauren und fettlöslichen Substanzen, hingegen verursacht eine verzögerte Magenentleerung eine längere «Liegezeit» der Substanz, wodurch sich auch längere Resorptionsphasen ergeben. Theoretische Voraussagen über die Resorption nach oraler Applikation sind somit schwierig. Bei Frühgeborenen vor der (ca.) 28. Schwangerschaftswoche (SSW) besteht die Epidermis der Haut nur aus 1 bis 2 Schichten. Frühgeborene mit diesem Gestationsalter zeigen daher eine erhöhte perkutane Resorption, und zwar so lange, bis die Haut quasi nachgereift ist (innerhalb der ersten 3 Wochen). Das Gesamtkörperwasser und der Anteil des Extrazellulärvolumens sind bei Früh- und Neugeborenen höher und nehmen bis zu einem Alter von 5 Jahren stetig ab. Arzneistoffe mit vorwiegender Verteilung im Extrazellulärraum (z.B. AminoglykosidAntibiotika) müssen daher bei Früh- und Neugeborenen sowie kleinen Kindern höher dosiert werden. Umgekehrt sind Substanzen mit prioritärer Verteilung im Fettgewebe aufgrund seines geringeren Anteils tiefer zu dosieren (z.B. Diazepam). Einen weiteren wichtigen Faktor
stellt die reduzierte Plasmaproteinbindung dar, was bei Arzneistoffen mit ursprünglich hoher Proteinbindung zu einem höheren freien und somit wirksamem Anteil führt – eine Dosisanpassung nach unten ist so beispielsweise für Digoxin notwendig. Bei Frühgeborenen und unreifen Neugeborenen ist die Leberfunktion aufgrund nicht exprimierter oder nicht funktionierender Enzyme eingeschränkt. Entsprechend ist die hepatische Metabolisierungs- und Clearancerate eingeschränkt. Bei vielen Medikamenten, die über das Zytochrom-P450-Enzymsystem abgebaut werden, haben wir es aus diesem Grund bei Früh- und Neugeborenen – unabhängig von ihrer genetischen Disposition – mit eigentlichen «poor metabolizern» zu tun. Die im Vergleich zur späteren Entwicklung niedrige glomeruläre Filtrationsrate hat eine niedrigere renale Ausscheidung und eine erhöhte Eliminationshalbwertszeit zur Folge. Bei Frühgeborenen mit etwa 28 SSW beträgt sie 10, bei Termingeborenen 40 ml/min/ 1,73m2, um dann vor allem in der ersten Woche deutlich anzusteigen. In dieser frühen Lebensphase verändert sich die Elimination renal ausgeschiedener Medikamente täglich, denn zur Änderung der glomerulären Filtrationsrate kommen noch der Verlust des Körpergewichts um 10 bis 20 Prozent in Form von Wasser und das in der Folge abnehmende Verteilungsvolumen dazu. Die Änderungen und Anpassungen in der Pharmakokinetik verlangen daher unmissverständlich nach pharmakologischen Studien, wobei der Forschungsbedarf bei Früh- und Neugeborenen am dringendsten ist. Ohne solche Daten sind
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weder zuverlässige Dosisempfehlungen möglich noch sind Wirksamkeit und Sicherheit gesichert. Im Folgenden ein kurzer Überblick über die momentane Situation von pädiatrischen klinischen Studien und der Arzneimittelentwicklung für Kinder.
Gesetzlicher Status
In den USA gibt es seit 1997 einen gesetzlichen Rahmen, der die Pharmaindustrie zu mehr Forschung bei der Verwendung von Arzneimitteln in der Pädiatrie anhält. In der EU trat 2007 die Paediatric Regulation in Kraft, die pharmazeutische Firmen zur Berücksichtigung von Kindern in der Arzneimittelentwicklung verpflichtet (1). Für Medikamente in Entwicklung muss nach Abschluss der Humanpharmakokinetik (Phase-1-Studien) ein Paediatric Investigation Plan (PIP) eingereicht werden. Für bereits zugelassene Medikamente müssen Firmen einen PIP einreichen, wenn sie neue Indikationen oder Darreichungsformen zulassen wollen. Das Paediatric Committee (PDCO) (1) prüft die PIP und entscheidet über «waivers» (keine pädiatrische Forschung) und «deferrals» (Verschiebung der Forschung auf später). Auf der Website der Europäischen Zulassungsbehörde (European Medicines Agency, EMEA [1]) kann man die Liste der produktspezifischen Entscheidungen (product-specific decisions) einsehen.
Sicherheit
PIP geben neben generellen Produktbeschreibungen einen Überblick über geplante pädiatrische präklinische Studien (Toxikologie und Sicherheit, einschliesslich ggf. Studien an jungen Tieren), klinische Studien (Pharmakologie, klinische Wirksamkeit und Verträglichkeit), die Entwicklung pädiatrischer galenischer Formulierungen sowie Pläne zu pädiatrischer Pharmakovigilanz. Studien mit Medikamenten dürfen nicht bei gesunden, sondern nur bei kranken Kindern im Rahmen einer Therapie durchgeführt werden. Voraussetzung ist in der Regel, dass für eine gegebene Substanz eine klinische Wirksamkeit an Erwachsenen nachgewiesen ist. Bei lebens-
bedrohlichen Erkrankungen, für die es keine wirksame Behandlung gibt, wird die EMEA Kinderstudien bereits zu einem früheren Entwicklungszeitpunkt fordern beziehungsweise zulassen. Es ist klar, dass in jedem einzelnen Fall Risiken und potenzieller therapeutischer Nutzen sorgfältig gegeneinander abgewogen werden müssen. Ein PIP für ein Medikament, das für Erwachsene bereits zugelassen ist, kann die klinische Wirksamkeit in Form von klinischen Studien bei Erwachsenen aufzeigen. An diesem Punkt sollte betont werden, dass viele (für Erwachsene) registrierte Medikamente im «off-label use» für Kinder verwendet werden. Ein Offlabel-Einsatz (Verwendung in nicht zugelassener Indikation/Therapiegruppe) verlangt immer die Aufklärung und das Einverständnis des zu Behandelnden, bei Kindern die Zustimmung der Eltern. Die Anwendung von Medikamenten im Offlabel-Einsatz liegt in der Verantwortung des Arztes/der Ärztin und verlangt nicht automatisch den Rahmen einer Studie. Studien mit Off-label-Einsatz von Medikamenten werden allerdings oft an Kliniken durchgeführt, besonders dann, wenn der Einsatz eines bestimmten Arzneimittels bei Kindern unverzichtbar beziehungsweise unersetzlich erscheint, und man gezielt Erfahrungen sammeln will. Die fortlaufenden Bemühungen auch vonseiten der Zulassungsbehörde sollten dazu führen, dass solche Studien den formalen Voraussetzungen für eine spätere Zulassung für Kinder in der angegeben Indikation genügen. Bei Medikamenten, die in Entwicklung stehen, können bei Einreichung des PIP am Ende der humanen Pharmakokinetikstudien bei Erwachsenen noch keine sicheren Angaben über die klinische Wirksamkeit bei Erwachsenen gemacht werden. Die Verfassung eines PIP ist daher nicht leicht. Der PIP muss sich zunächst auf rein epidemiologische Betrachtungen konzentrieren, wie eine zukünftige Entwicklung bei Kindern aussehen könnte, und muss Annahmen machen, die später aufgrund wachsender Informationen kontinuierlich ergänzt werden. Eher ein Sonderfall ist ein Medikament, das von einer Firma zur Behandlung
einer ausschliesslich bei Kindern auftretenden Krankheit entwickelt wird. Hier kann nicht auf Daten bei Erwachsenen zurückgegriffen werden, und alle geplanten Studien (Präklinik und Klinik) fokussieren von Anfang an auf Kinder (bzw. Jungtiere).
Interdisziplinäre Zusammenarbeit
Die pharmazeutische Industrie, die europäische Zulassungsbehörde EMEA, die nationalen europäischen Zulassungsbehörden (in der Schweiz die Swissmedic), die pädiatrischen Kliniker und Akademiker müssen zusammenarbeiten, um die Entwicklung voranzutreiben. Dabei ist es wichtig, dem praktischen Anwender den Stand der Entwicklung bewusst zu machen, sei es in Form von Fortbildungen oder Mitteilungen. Die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Perinatale Pharmakologie (SAPP) (2) bemüht sich, ein solches Gefäss zum Austausch von Informationen zu bieten. Eine Vorstellung der SAPP erfolgt im Detail zu einem späteren Zeitpunkt.
Danksagung: Die Autorin dankt Herrn Klaus Rose, MD, MS, Head Pediatrics, Hoffmann-La Roche LTD, Basel, für wertvolle Informationen.
Korrespondenzadresse: Professor Ursula von Mandach, Präsidentin SAPP Universitätsspital Zürich Departement Frauenheilkunde Forschung Geburtshilfe Frauenklinikstrasse 10, 8091 Zürich E-Mail: ursula.vonmandach@usz Internet: www.sappinfo.ch
Quellen: 1. www.emea.europea.eu 2. www.sappinfo.ch
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