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Schwerpunkt
Chronisch-rezidivierende Bauchschmerzen im Kindesalter
Neue Aspekte in der Diagnostik und Therapie
Von Dr. med. Peter Bähler
Chronisch rezidivierende Bauchschmerzen (CRB) im Kindes- und Jugendalter sind eine sehr häufige Klage. Sie gehören zu einer Gruppe schwer zu diagnostizierender, so genannter funktioneller gastrointestinaler Störungen mit chronischer oder rezidivierender Symptomatik, die nicht mit bekannten biochemischen oder strukturellen Anomalien erklärt werden können. Mehr als die Hälfte der Konsultationen einer Spezialsprechstunde für pädiatrische Gastroenterologie und 2 bis 4 Prozent einer allgemeinpädiatrischen Praxis erfolgen wegen CRB. Über die ganze Altersperiode beobachtet man dabei eine leicht überwiegende Prävalenz der Mädchen. Auffallend in der Literatur sind die über Jahrzehnte kaum geänderte Inzidenz, Prävalenz oder das klinische Bild. Die Lebensqualität von Patienten mit CRB ist deutlich schlechter, verglichen mit der beschwerdefreien Allgemeinbevölkerung sowie Asthma- oder Migränepatienten.
E ine neuere epidemiologische Studie aus Deutschland zeigt, dass 10- bis 18-jährige Kinder und Adoleszente in 66 Prozent über chronisch-rezidivierende Kopfschmerzen, in 48 Prozent über Bauchschmerzen, 46 Prozent über Gelenkschmerzen und 39 Prozent über Rückenschmerzen klagen. Eine andere Studie zeigte, dass sogar 75 Prozent der Adoleszenten über CRB klagen und rund 20 Prozent davon schwer genug sind, um die täglichen Aktivitäten einzuschränken. Es sind somit etwa 10 bis 15 Prozent der Kinder und Jugendlichen, die wegen CRB früher oder später mit der Familie den Arzt aufsuchen.
Definition
Der Begriff CRB wurde 1958 als «recurrent abdominal pain» von John Apley, gemäss Beschreibungen von Kindern und Jugendlichen, definiert als ≥ 3 Episoden von akuten Bauchschmerzen während ≥ 3 Monaten, die mit Störungen der normalen täglichen Aktivitäten einhergehen. Viele organische Erkrankungen können zu CRB führen; für die tägliche Praxis gilt aber, dass bei den meisten Kindern und Jugendlichen (ca. 70% nach neueren Studien) keine somatische Krankheit (strukturelle oder biochemische Anomalie), sondern sogenannte funktionelle
Bauchschmerzen vorliegen. Um die in der Praxis zu beobachtenden unterschiedlichen Muster von Bauchschmerzen besser zu klassifizieren, hat 1999 erstmals eine Gruppe pädiatrischer Gastroenterologen ein als ROME-IIKriterien bekannt gewordenes Klassifikations-System für funktionelle MagenDarm-Störungen publiziert (Tabelle 1). 2006 wurde eine überarbeitete ROMEIII-Version veröffentlicht, die zusätzlich die beiden Altersgruppen Säuglinge/Kleinkinder und Schulkinder/Adoleszente unterschied. Im Rahmen dieses Artikels werden speziell die Probleme der Altersgruppe der 4- bis 14-Jährigen dargelegt. Im Rahmen der ROME-III-Kriterien werden funktionelle Bauchschmerzen wie folgt näher definiert (Tabelle 1, Punkt 2d): Beobachtung während mindestens zwei Monaten und einmal pro Woche von 1) rezidivierenden oder kontinuierlichen Bauchschmerzen, 2) ungenügende Diagnosekriterien für andere funktionelle gastrointestinale Störungen (Tabelle 1), keine Evidenz für einen entzündlichen, anatomischen, metabolischen oder neoplastischen Prozess, der die Symptome erklärt. Neu unterscheidet man zusätzlich als – klinisch wichtige – Untergruppe Kinder und Jugendliche mit «funktionellem Bauchschmerzen-Syndrom» (Tabelle 1, Punkt 2d1). Diese Patienten leiden zusätzlich zu den Symptomen funktioneller Bauchschmerzen an: 1. gewissen Einschränkungen normaler
Tagesaktivitäten und/oder 2. zusätzlichen somatischen Symptomen
wie Kopfschmerzen, Gliederschmerzen oder Schlafstörungen. Die Definition des Reizdarmsyndroms (irritable bowel syndrome: IBS) (Tabelle 1) ist in Abbildung 1 zusammengefasst. In
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Tabelle 1:
ROME-III-Kriterien für funktionelle Magen-Darm-Störungen:
Kinder und Adoleszente
1. Erbrechen und Aerophagie 1a. Ruminationssyndrom des Adoleszenten 1b. Syndrom des zyklischen Erbrechens 1c. Aerophagie 2. Chronisch-rezidivierende Bauchschmer-
zen (CRB) 2a. Funktionelle Dyspepsie 2b. Reizdarm-Syndrom (irritable bowel syn-
drome, IBS) 2c. Abdominalmigräne 2d. Funktionelle Bauchschmerzen 2d1. Syndrom der funktionellen Bauchschmer-
zen 3. Obstipation und Inkontinenz 3a. Funktionelle Obstipation 3b. Stuhlinkontinenz ohne Retention (früher:
Enkopresie)
Modifiziert nach Rasquin A et al: Childhood Functional Gastrointestinal Disorders: child/adolescent. Gastroenterology 2006; 130: 1527–1537.
der Praxis beobachtet man bezüglich Stuhlmuster verschiedene Subtypen mit Überwiegen von Obstipation, Durchfall oder wechselndem Muster. Diese Variationen haben Konsequenzen für die Wahl der Therapie. Obwohl nicht alle Patienten mit CRB genau in dieses Schema passen, hat eine kürzlich publizierte prospektive Studie bestätigt, dass rund 75 Prozent dieser Kinder in die Untergruppen gemäss ROME-II-Kriterien eingeteilt werden können. Es besteht somit die Hoffnung, in Zukunft therapeutische Interventionen bei präziser definierten Patientengruppen besser beurteilen zu können.
Pathophysiologie, Pathogenese
Die Ursachen von CRB sind komplex und nicht mit einem einzelnen Konzept erklärbar. Ausgehend von einer postulierten genetischen Prädisposition, weisen neuere physiologische Studien am enterischen Nervensystem darauf hin, dass mindestens drei, untereinander in Wechselbeziehung stehende Faktoren die Symptome beeinflussen: a) veränderte Darmfunktion (Motilität,
Sekretion) in Antwort auf luminale (z.B. Mahlzeit, Darmdehnung, Darmentzündung, veränderte Dünn- oder Dickdarmflora) oder provozierende Stimuli aus der Umgebung (psychsozialer Stress), die zu Durchfall und/oder Obstipation führen; b) ein überempfindlicher Darm mit verstärkter Wahrnehmung viszeraler Stimuli und Schmerzen (sog. viszerale Hypersensitivität) und c) Dysregulation der bidirektionalen Hirn-Darm-Achse, möglicherweise in Zusammenhang mit erhöhter Reaktion auf Stress und veränderter Wahrnehmung und/oder Modulation von viszeralen afferenten Stimuli (Serotoninrezeptoren in sensorischen Afferenzen). Wichtige Modulatoren im psychosozialen Bereich sind dauernde oder im täglichen Leben wiederholt auftretende Stressfaktoren, Angst- und Depressionszustände, Zustand nach sexuellem oder körperlichem Missbrauch, spezifische Verhaltensmuster mit Begünstigung einer Somatisation. Neuere Studien liefern den verblüffenden Hinweis, dass widrige Lebensereignisse in frühester Kindheit (Neugeborenen- und Säuglingsalter) wie Schmerzen und Stress Langzeitveränderungen des Schmerzempfindens (Nozizeption) induzieren und so zur viszeralen Hypersensitivität beitragen können. Folgende negative Umwelteinflüsse werden in ihrer Bedeutung für die Pathogenese kontrovers beurteilt: Nahrungsmittelallergien, bakterielle Kontamination des Dünndarms, Zustand nach bakterieller Gastroenteritis mit postinfektiösem Syndrom, höhere Prävalenz der Beschwerden und vermehrte Konsultation während der Wintermonate (virale Gastroenteritis), Stresssituationen.
Psychologische Faktoren Bei Entwicklung und Spontanverlauf von CRB spielen bei der Verarbeitung durch das Kind die Art der Schmerzbeherrschung und der zwischenmenschlichen Beziehungen eine wichtige Rolle. Hier lassen sich vier Bewältigungsmuster unterscheiden (Abbildung 2). Sie helfen dem behandelnden Arzt, die Patienten mit ungünstiger Prognose zu erkennen und sie gegebenenfalls einer gezielten
psychotherapeutischen Unterstützung zuzuweisen.
Klinik und Diagnose
Da die Pathogenese der Schmerzen bis heute unklar ist und keine spezifischen diagnostischen Marker existieren, wurde die Diagnose von funktionellen Bauchschmerzen bisher oft noch als Exklusionsdiagnose angesehen. Es ist jedoch gerade die typische klinische Präsentation, basierend auf einer gut strukturierten Anamnese, möglichst in Anwesenheit beider Eltern (Tabelle 2a und 2b), sowie detailliertem, normalem Allgemeinstatus (Tabelle 3), die heute die positive Diagnose einer CRB funktioneller Ursache erlaubt, sofern klinische Warnzeichen in der Anamnese (Tabelle 4) respektive im Status (Tabelle 5) fehlen. Hierbei sind die oben beschriebenen ROME-Kriterien – obwohl bisher vorwiegend zur klinischen Forschung benutzt – geeignet, dem behandelnden Arzt klare diagnostische Kriterien zu liefern. Ein einfacher Algorithmus für das praktische Vorgehen bei der Abklärung in der Praxis ist in Abbildung 3 dargestellt. Entscheidend bei der Erstabklärung ist, dass Kind und Eltern das Gefühl haben, dass ihnen mit Empathie zugehört wird und ihre Bedenken ernst genommen werden. Gerade bei der Erstkonsultation sollte deswegen genügend Zeit eingeplant werden. Ein wichtiges Element der Anamnese ist der Einfluss der BauchwehEpisoden auf die normalen Aktivitäten und die Schulpräsenz. Typischerweise beobachtet man bei funktionellen Bauchschmerzen eine für die geschilderten Beschwerden überproportional hohe Schulabsenzrate. In diesem Zusammenhang lässt die sorgfältige Anamnese oft zusätzliche intrafamiliäre Stressfaktoren erkennen wie zum Beispiel elterliche Beziehungskonflikte, Beziehungsstörungen Eltern-Kind, chronische Krankheit bei einem Elternteil, Angst- und Depressionszustände bei einem Elternteil, finanzielle Probleme der Eltern, soziale Probleme (finanzielle Sorgen usw.). Diese Störfaktoren der intrafamiliären Beziehung führen oft zu einer, aus Sicht der Eltern, verzerrten Wahrnehmung der Häufigkeit und Intensität der Beschwer-
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Tabelle 2a:
Diagnose des CRB: Strukturierung der Anamnese
Gezielte Frage nach typischen positiven (Tabelle 2b) respektive negativen (Tabelle 4) Symptomen Gezielte Frage nach Stuhlfrequenz und -konsistenz: Tendenz zu Obstipation respektive Durchfall? Ernährungsgewohnheiten: geringer/grosser Konsum von Milchprodukten, Früchten, (künstlich gesüssten) Süssigkeiten und Süssgetränken? Persönliche Anamnese: Andere funktionelle Störungen? Familienanamnese: Angehörige mit Reizdarmsyndrom, Migräne usw.?
Bauchschmerzen oder abdominales Unwohlgefühl während ≥ 1x/Woche seit ≥ 2 Monaten + ≥ 2 der folgenden Symptome:
Abnahme der Schmerzen nach Defäkation
und/ oder
Beginn mit Modifikation der Stuhlfrequenz
und/ oder
Modifikation der Stuhlkonsistenz
Keiner der folgenden Prozesse erklärt die Symptome: • Entzündungsprozess • Anatomische Anomalie • Metabolische Störung • Neoplasie
Adaptiert nach Rasquin A et al. Childhood functional gastrointestinal disorders: child/adolescent. Gastroenterology 2006; 130: 1527–1537
Abbildung 1: Definition des Reizdarmsyndroms gemäss ROME-III-Kriterien
Tabelle 2b:
Diagnose der CRB: Typische anamnestische Charakteristika
Alter 5–14 Jahre; selten: < 5 Jahre/ > 14 Jahre Chronische und rezidivierende Symptomatik Häufig symptomfreie Intervalle (Wochen bis Monate) Periumbilikal lokalisierte Schmerzen ohne Ausstrahlung Grosse Variabilität von Schmerzcharakter (krampf-/kolikartig, brennend), Schmerzdauer (wenige Minuten bis einige Stunden) und Schmerzintensität (Protokoll) Keine nächtlichen Schmerzepisoden Allgemeinzustand und gewohnte Tagesaktivitäten nur gering gestört Verstärkung der Symptome durch diverse Stressfaktoren Gelegentlich vegetative Begleitsymptome wie Blässe, Übelkeit und Kopfschmerzen Tendenz zu Obstipation bzw. Durchfall Suche nach typischen Stigmata im Charakter: eher introvertiert, ängstlich, leicht depressiv, eher zurückgezogen, tiefes Selbstwertgefühl Erniedrigte Schmerzgrenze
den und somit zu einer zusätzlichen Verunsicherung. Nach der Erstbeurteilung mit Verdacht auf funktionelle Bauchschmerzen kann es nützlich sein, dass Kind und Eltern gemeinsam während etwa vier Wochen ein detailliertes Beschwerdeprotokoll führen. Unter Einbezug von Dauer und Intensität der Schmerzen sowie Stuhl- und Essgewohn-
heiten können die Beschwerden so besser objektiviert und eventuell auslösende Faktoren festgestellt werden. Bei der anschliessenden gemeinsamen Besprechung des Protokolls in der Praxis kommt es typischerweise zu einem «Aha»-Erlebnis bei den Eltern, die einerseits sehen, dass die Beschwerden deutlich seltener und milder auftreten als vorher subjektiv empfunden und dass andererseits plötzlich auslösende Faktoren klar zu Tage treten.
Differenzialdiagnose
Weichen Anamnese und/oder klinische Befunde vom oben beschriebenen charakteristischen Bild ab, sind also Warnzeichen erkennbar, können einige gezielt eingesetzte, paraklinische Untersuchungen hilfreich sein und typische labormässige Warnzeichen aufzeigen (Tabelle 6). Häufige und weniger häufige Differenzialdiagnosen sind in Tabelle 7 zusammengefasst. Seit Apley vor mehr als 50 Jahren aus seinen Untersuchungen folgerte, dass weniger als 10 Prozent aller Fälle mit CRB organischer Ursache sind, haben sich unsere diagnostischen Techniken verbessert, unsere medizinischen Kenntnisse erweitert, und es sind neue Untersuchungsmethoden entwickelt worden. Neuere Studien zeigen heute, dass bei Kindern mit CRB in rund 30 Prozent der Fälle eine organische Pathologie nachgewiesen werden kann. Der Nachweis einer kausalen Beziehung zwischen diesen or-
ganischen Abnormitäten und Bauchschmerzen steht allerdings noch aus. Erwähnenswert ist die seit einigen Jahren als Routineuntersuchung verfügbare Bestimmung des Calprotektins im Stuhl. Dieses in den neutrophilen Granulozyten produzierte Protein gehört zur Gruppe der Ca2+-bindenden Proteine der S100Familie, ist Proteolyse-resistent und bleibt auch nach mehreren Einfrier- und Auftauzyklen stabil. Dieser Test hat – im Vergleich zu den bekannten hämatologischen Entzündungsmarkern – das Potenzial, sich in den nächsten Jahren als zuverlässiger, nichtinvasiver Marker für chronisch-entzündliche Darmerkrankungen zu etablieren.
Therapie
Bis heute sind alle verwendeten Therapieansätze (Tabelle 8) nur selten aus randomisierten und kontrollierten Studien abgeleitet oder gesichert. Grund dafür ist die komplexe und multifaktorielle Pathogenese der CRB, die einen bio-psychosozialen Therapiezugang verlangt. Dokumentiert sind zurzeit eine über dem Plazeboeffekt liegende Wirksamkeit für Famotidin (H2-Rezeptor-Antagonist) bei funktioneller Dyspepsie, Pizotifen (Serotonin-Antagonist) bei Abdominalmigräne sowie Pfefferminzöl und Verhaltenstherapie bei CRB und Reizdarmsyndrom. Fehlen nach initialer Abklärung Warnzeichen und kann eine positive Diagnose von CRB funktioneller Ursache gestellt werden, ist das in Tabelle 8 nach Priorität
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Tabelle 3:
CRB: Wichtige Elemente der klinischen Untersuchung
Bestimmung von Gewicht, Grösse, Kopfumfang; wenn möglich Vergleich mit früheren Daten Blutdruck Abdomen: weich keine Défense Druckdolenz – sofern vorhanden – ohne klare Lokalisation Keine umschriebene Resistenz/Masse Bei Fehlen einer Koprostase/palpabler Stuhlmassen keine routinemässige Rektalpalpation Sorgfältige Inspektion der Perianalregion Ausschluss von «red flags» (Tabelle 4 und 5)
Tabelle 4:
CRB: «red flags» (Warnzeichen) in der Anamnese
Lokalisation der Schmerzen in Distanz vom Nabel (z.B. epigastrisch, Unterbauch) Schmerzen in Zusammenhang mit einer Transitstörung (z.B. Obstipation, Durchfall, nächtlicher Stuhlgang) Nächtliches Erwachen infolge von Schmerzen Assoziiertes Erbrechen (v.a. wenn biliär) Symptome einer systemischen Beteiligung, wie: Rezidivierendes Fieber Inappetenz Müdigkeit, Apathie Alter > 14 Jahre resp. < 4 Jahre
Tabelle 5:
CRB: «red flags» (Warnzeichen) in der klinischen Untersuchung
Gewichtsverlust oder Abflachung der Wachstums- und /oder Gewichtskurve Hepato- und/oder Splenomegalie Lokalisierte Druckdolenz bei der Abdominalpalpation (v.a. wenn vom Nabel entfernt) Deutliche Vorwölbung des Abdomens Perianale Veränderungen: Fissuren Ulzerationen Marisken Zeichen entzündlicher Haut- und/oder Gelenksveränderungen Aphtöse Veränderungen im Mund-/Rachenbereich
Soziales Beziehungsnetz
positiv negativ
Schmerzbeherrschung
positiv
negativ
Engagierte Bewältigung Selbstbewusste Bewältigung
Abhängige Bewältigung Introvertierte Bewältigung
Abbildung 2: Bewältigungsmuster bei CRB
aufgelistete, strukturierte und schrittweise Vorgehen am sinnvollsten und kann bereits beim behandelnden Arzt in der Praxis durchgeführt werden. 1. Beruhigung und Information: Bereits als erster Therapieschritt ist die mit Empathie durchgeführte Erstabklärung zu werten. Die danach ohne Zeitdruck gegebenen zusätzlichen Erklärungen in Anwesenheit des Patienten und möglichst beider Eltern zur Pathophysiologie und multifaktoriellen Genese sowie dem Einfluss von Stressoren (z.B. in Familie und/oder Schule) auf die real existierenden Bauchschmerzen tragen zusätzlich zum Therapieerfolg bei. Primäres Ziel dieser Erklärungen muss es sein, bei den Eltern das oft vorhandene Krankheits(Miss-)Verständnis: «Mein Kind ist wohl gesund, bildet sich die Schmerzen aber nur ein, obwohl es fast täglich darunter leidet» auszuräumen. 2. Diätmodifikationen: Sie tragen gemäss neueren Studien kaum zur Symptomverbesserung bei. Bei anamnestisch begründetem Verdacht auf Kohlenhydratmalabsorption, zum Beispiel von Fruktose- oder Sorbitol-haltigen Nahrungsmitteln, kann ein zeitlich begrenzter (1–2 Wochen) Auslassversuch sinnvoll sein. Sowohl bei Zugabe von Nahrungsfasern oder Probiotika (Lactobacillus spp) als auch durch das Vermeiden laktosehaltiger Nahrungsmittel konnte in systematischen Studien keine signifikante Verbesserung der Symptome festgestellt werden. 3a. Pharmakotherapie: Medikamente folgender therapeutischer Gruppen werden eingesetzt:
Sedativa und Anxiolytika Antidepressiva Antiepileptika Serotonin- und 5HT-3-Rezeptor-Antagonisten Somatostatin-Rezeptor-Agonisten.
Sedativa und Anxiolytika: Es ist keine signifikante Wirkung in klinischen Studien nachweisbar, dafür gibt es umso mehr Berichte über die Anwendung einschränkender Nebenwirkungen. Antidepressiva: Sie wirken günstig sowohl auf das zentrale als auch periphere Nervensystem (anticholinergisch, Verzögerung der MD-Passagezeit, Relaxation des Magenfundus, Behebung von Schlafstörungen, Behandlung einer begleitenden Depression, direkter Einfluss auf die Schmerzübertragung). Trizyklische Antidepressiva sowie Inhibitoren der Serotonin- und Monoamin-Wiederaufnahme zeigen eine gut dokumentierte Reduktion der Symptome bei funktioneller Darmerkrankung. Antiepileptika: Die Wirkung von Antiepileptika erster Generation bei chronischen Schmerzen wie diabetischen oder postherpetischen Neuralgien oder Migräne ist nur beim Erwachsenen dokumentiert. Trotzdem wurden diese «off label» zunehmend bei Kindern mit funktionellen Darmerkrankungen eingesetzt. Auch für Antiepileptika der zweiten Generation (Gabapentin, Lamotrigin, Topiramat usw.) ist die Datenlage völlig ungenügend, und von ihrem Einsatz muss abgeraten werden. Serotonin- und 5HT3-Rezeptoren-Antagonisten: Die Wirksamkeit von Alosteron und Cilansetron ist beim Erwachsenen, nicht aber beim Kind, mit Reizdarmsyndrom (mit Durchfall) gut dokumentiert. Beide Medikamente zeigten aber schwere Nebenwirkungen und wurden bereits vom Markt zurückgezogen. Tegaserod, ein 5HT-4-Antagonist mit prokinetischer Wirkung, ist nur mit eingeschränkter Indikationsliste einsetzbar. Somatostatin-Rezeptor-Agonisten (z.B. Octreoid): Die seit 30 Jahren verfügbaren Substanzen mit antisekretorischer Wirkung besitzen auch analgetische Effekte
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Tabelle 6:
CRB: «red flags» (Warnzeichen) in ausgewählten Laboruntersuchungen
BSR erhöht Erniedrigte Eisenparameter (unter normaler Ernährung) Chronische Anämie (unter normaler Ernährung) Okkulttest im Stuhl positiv Calprotectin im Stuhl erhöht Andere Zeichen eines chronischen Entzündungsprozesses, wie z.B. Thrombozyten Leukozyten Stabkernige Leukozyten Eosinophile Leukozyten
bei funktionellen Darmerkrankungen, sind aber nur parenteral applizierbar und somit in der Praxis kaum einsetzbar. 3b. Psychotherapie/Verhaltenstherapie: Gezielte psychologische Therapieansätze betreffend Wahrnehmung und Verhaltensänderung bei CRB wurden in den letzten Jahren sowohl bei Erwachsenen als auch Kindern systematisch untersucht und ihre ähnliche oder sogar bessere Wirksamkeit im Vergleich zur pharmakologischen Behandlung dokumentiert. Man beobachtete nicht nur eine direkte Reduktion der Symptome, es wurde auch das Selbstmanagement der Symptome durch das Kind selbst gefördert. Dazu gehören weiter Elternschulung, Familientherapie, Psychotherapie, Erlernen von Entspannungstechniken, Hypnose-
Abbildung 3: Algorithmus bei chronisch rezidivierenden Bauchschmerzen
therapie und Biofeedback. Sie sollen zudem sowohl den Eltern als auch dem Patienten eine bio-psycho-soziale Sichtweise ihrer Beschwerden vermitteln. Die zukünftige Forschung fokussiert sich auf den Direktvergleich zwischen medikamentöser und psychologischer Therapie, wobei deren paralleler Einsatz zu verbesserter Wirkung und grösserer Patientenzufriedenheit führen könnte. 4. Komplementärmedizin: Alternative Methoden wie Akupunktur, Chiropraktik, Homöopathie, spirituelles Heilen und Therapien für das Körper-SeeleGleichgewicht (Mediationsformen usw.) sind gerade bei Patienten in der pädiatrischen Gastroenterologie sehr beliebt,
und deren parallele Anwendung ist bei chronischen Beschwerden bei gezielter Befragung fast die Regel. Umso wichtiger ist es für den behandelnden Arzt, mit den am häufigsten angewendeten Alternativtherapien für funktionelle Darmerkrankungen – Pflanzentherapie, Massage, Akupunktur und Hypnose – vertraut zu sein. Pflanzen-Kräuter-Therapie: Obwohl seit vielen hundert Jahren angewendet, fehlen gute wissenschaftliche Daten zu ihrer Wirksamkeit bis heute. Einzig für Pfefferminzöl ist in einer kleinen, doppelblind randomisierten Studie bei Kindern mit Reizdarmsyndrom ein positiver Effekt versus Plazebo dokumentiert. Für
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Tabelle 7:
CRB beim Kind: Differenzialdiagnosen organischer Ursachen
Infektiös Virale Gastroenteritis Chronische Gastritis (mit H.-pylori-Infektion) Parasitose (Giardiasis, Blastocystis hominis, Dientamoeba fragilis) Kolitis mit Clostr. difficile, Campylobacter spp, Yersinia spp, Tuberkulose
Inflammatorisch Gastro-ösophageale Refluxkrankheit (mit Ösophagitis) Peptisches Ulkus Nebenwirkung von NSAR Chronisch-entzündliche Darmerkrankung (M. Crohn, Colitis ulcerosa) Eosinophile Ösophagitis/Gastroenteropathie Lymphozytäre Gastritis (bei Zöliakie)
Störungen der Motilität Funktionelle Obstipation Malrotation mit rezidiv. partieller Darmobstruktion (z.B. Volvulus)
Extraintestinale Erkrankungen Kohlenhydrat-Intoleranz (Fruktose, Sorbital, Laktose) Rezidiv. Harnwegsinfekte, Ureterabgangsstenose Gynäkologische Pathologie Chronische Pankreatitis
Tabelle 8:
Bio-psycho-soziale Therapieansätze bei CRB
1. Beruhigung, Information von Kind und Eltern mit Empathie:
Erklärung der Pathophysiologie und multifaktoriellen Genese (bio-psycho-sozialer Zugang) 2. Diätmodifikationen bei begründetem Verdacht für Kohlenhydrat-Malabsorption 3a. Pharmakotherapie 3b. Psychotherapie/Verhaltenstherapie 4. Komplementärmedizin: Pflanzen/Kräuter Massage Akupunktur Hypnose
andere populäre Kräutertherapien wie chinesische oder japanische Kräutermedizin und Ingwer (Zingiber officinale) fehlen kontrollierte Studien. Massage: Ihre Anwendung basiert auf der Annahme, dass Massage eine Überstimulation viszeral afferenter Nervenfasern
reduzieren und die zentrale Schmerzempfindung und -verarbeitung günstig beeinflussen kann. Vier ältere kontrollierte Studien bei chronischer Obstipation zeigten einen positiven Effekt der Massage, ohne dass weitere Studien dies bestätigen konnten. Die Fussreflexzonen-Massage zeigte in einer Beobachtungsstudie an 50 Kindern im Alter von 3 bis 14 Jahren bei chronischer Obstipation nach 6 Therapiesitzungen eine Zunahme der Stuhlfrequenz und Abnahme der Stuhlinkontinenz-Episoden. Die gleiche Methode ergab bei einer einzelnen kleinen kontrollierten Studie bei Erwachsenen mit CRB keinen signifikanten Effekt. Akupunktur: Dieser Teil der traditionellen chinesischen Medizin ist in westlichen Industrieländern seit Jahrzehnten sehr populär. Tierstudien haben positive Effekte der Akupunktur auf die Säuresekretion, Magen-Darm-Motilität, viszerale Schmerzempfindung und postoperative Übelkeit nachgewiesen. Randomisierte und kontrollierte Studien bei Patienten mit Reizdarmsyndrom waren jedoch bisher enttäuschend. Gute Studien bei Kindern mit funktionellen MagenDarm-Erkrankungen fehlen. Eine einzige unkontrollierte Studie bei 17 Kindern mit Obstipation zeigte eine Erhöhung der wöchentlichen Stuhlfrequenz nach Akupunktur. Hypnose: Mehrere Studien haben bei Erwachsenen ihre – sogar langfristige – Wirksamkeit bei funktionellen MagenDarm-Erkrankungen belegt. Eine kürzlich an 53 Kindern mit CRB und Reizdarmsyndrom durchgeführte Untersuchung hat die deutliche Überlegenheit von Hypnose gegenüber der Standardtherapie auch bei Verlaufskontrolle nach einem Jahr bestätigt.
Prognose
Kinder mit der Diagnose CRB oder Reizdarmsymdrom zeigen in Langzeitstudien nach 5 Jahren mehr Bauchschmerzen, Funktionsstörungen und psychiatrische Symptome im Vergleich zu Kontrollen. Obwohl eine andere Langzeitstudie bei mehr als 70 Prozent ein spontanes Verschwinden der Bauchschmerzen innert 5 Jahren beobachtete, leiden schliesslich ein Drittel bis die Hälfte der betroffenen
Kinder unter persistierenden Symptomen bis ins Erwachsenenalter. Eine organische Ursache wird bei diesen Langzeitbeobachtungen in weniger als 1 Prozent der Fälle verpasst.
Fazit
CRB sind ein häufiges Beschwerdebild (10–15%) in der Population der 5- bis 14-Jährigen, mit leicht erhöhter Prävalenz bei den Mädchen. Die Diagnose basiert im Wesentlichen auf einer detaillierten Anamnese und einer sorgfältigen klinischen Untersuchung, bei Bedarf ergänzt durch einige einfache paraklinische Untersuchungen. Es handelt sich dabei nicht (mehr) um eine Exklusionsdiagnose nach breiten Abklärungen. Therapeutisch ist ein bio-psycho-sozialer Zugang, eventuell ergänzt durch eine medikamentöse Therapie, am erfolgreichsten. Gezielte Diätmanipulationen bei klar definierten Kohlehydratintoleranzen können nützlich sein. Die Prognose der CRB ist insgesamt gut, das Risiko, eine organische Ursache zu verpassen, ist gering, sofern die Warnzeichen («red flags») der klinischen und paraklinischen Abklärung beachtet werden. Die Überweisung an den pädiatrischen Gastroenterologen oder Kinderpsychiater/-psychologen ist in der Mehrzahl der Fälle nicht notwendig.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Peter Bähler Sprechstunde für pädiatrische Gastroenterologie Kinderklinik, HFR Freiburg – Kantonsspital Bertigny 1708 Fribourg Tel. 026-426 74 05 E-Mail: baehlerp@h-fr.ch
Literatur beim Verfasser.
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