Transkript
IM FOKUS: GASTROENTEROLOGISCHE TUMOREN
Organerhalt bei Rektumkarzinom
Aktuelle und zukünftige Optionen für die Papillon-Strahlentherapie
Rektumkarzinome erfordern typischerweise eine Kombination aus Strahlentherapie, Chemotherapie und Chirurgie. Die damit verbundenen funktionellen Störungen und die Beeinträchtigung der Lebensqualität haben jedoch zu einem wachsenden Interesse an Organerhaltungsstrategien geführt. Eine Dosisstei gerung der Strahlentherapie würde die Rate des vollständigen Ansprechens verbessern. Aufgrund der po tenziellen Toxizität für die umliegenden Gewebe bleibt diese Strategie aber selbst bei modernen externen Strahlentherapietechniken begrenzt. Mit der Papillon-Methode, die weiche Röntgenstrahlen benutzt, kann der Tumor direkt an seiner Oberfläche behandelt werden – mit deutlich höheren Ansprechraten und günstigerem Toxizitätsprofil.
CRISTINA PICARDI
SZO 2023; 5: 16–22
Cristina Picardi
Foto: zVg
Das kolorektale Karzinom ist in der Schweiz und weltweit die dritthäufigste Krebsart (nach Prostata und Lunge) bei Männern und die zweithäufigste (nach der Brust) bei Frauen (1, 2). In der Schweiz werden jedes Jahr etwa 4500 neue Fälle von Darmkrebs diagnostiziert (1), von denen 20 bis 30 % im Enddarm auftreten (2-4). Obwohl auch die Inzidenz bei jüngeren Patienten (< 50 Jahre) in den letzten Jahren zugenommen hat, steigt die Inzidenz des Rektumkarzinoms proportional zum Alter und erreicht bei 70 Jahren ihren Höhepunkt. Das oft hohe Alter bei der Diagnose erschwert das multimodale Patientenmanagement im Hinblick auf Komorbiditäten und kumulative Risikofaktoren. Ausser in den seltenen Fällen, in denen der Tumor in einem sehr frühen Stadium diagnostiziert wird und direkt operiert werden kann, ist bei den meisten Rektumkarzinomen eine Kombination aus Strahlentherapie und Operation erforderlich. Ein ABSTRACT Organ preservation in rectal cancer – Current and future options for Papillon radiotherapy Rectal cancer typically requires a combination of radiotherapy, chemotherapy and surgery. However, the associated functional disorders and impairment of quality of life have led to a growing interest in organ preservation strategies. Increasing the dose of radiotherapy would improve the rate of complete response, but due to the potential toxicity to surrounding tissues, this strategy remains limited even with modern external beam radiotherapy techniques. With the Papillon method, which uses soft X-rays, the tumour can be treated directly at its surface – with significantly higher response rates and a more favorable toxicity profile. Keywords: rectal cancer, radiotherapy, dose escalation, organ preservation genaues Staging-Verfahren ist für die Einteilung in klinisch definierte Risikokategorien und für die Wahl der Behandlung von entscheidender Bedeutung. Jeder Fall sollte in einem multidisziplinären Tumorboard besprochen werden – die Behandlung des Rektumkarzinoms gilt heute als ein hervorragendes Beispiel für einen interdisziplinären und multimodalen Therapieansatz. Während in der Vergangenheit der Schwerpunkt vor allem auf der Verbesserung der langfristigen onkologischen Ergebnisse lag, stehen heute zunehmend die Lebensqualität und die funktionellen Aspekte der verschiedenen Therapieformen im Vordergrund. Die Strahlentherapie (RT) mit Chemotherapie (CT) spielt eine wichtige Rolle bei der lokalen Kontrolle (LC) und der Sterilisierung des Tumors. Eine Erhöhung der Bestrahlungsdosis würde die Rate des vollständigen Ansprechens (CR) verbessern. Aufgrund der potenziellen Toxizität für das umliegende Gewebe bleiben dieser Strategie aber auch mit modernen Bestrahlungstechniken Grenzen gesetzt. Mit einer endokavitären Kontaktstrahlentherapie mit weichen Röntgenstrahlen (PapillonTechnik, 50 kV) kann ein Rektumkarzinom aufgrund seiner physikalischen Eigenschaften direkt an der Oberfläche mit hohen Dosen behandelt werden. Dieses Vorgehen ermöglicht deutlich bessere Remissionsraten mit einem günstigen Toxizitätsprofil. Auch die Lokalrezidivrate nach einer Radiochemotherapie (RCT) ist mit einem solchen zusätzlichen Boost deutlich niedriger. Dieser Beitrag soll einen Überblick über die Kontaktstrahlentherapie 16 SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 5/2023 IM FOKUS: GASTROENTEROLOGISCHE TUMOREN mit Papillon und ihre Entwicklung zur Organerhaltung geben. Das chirurgische Vorgehen, jahrzehntelang der Goldstandard, ist beim Rektumkarzinom mit hoher Morbidität verbunden. Das sogenannte Low Anterior Resection Syndrome (LARS) tritt bei bis zu 50 % der operierten Patienten auf (5). Das Risiko für ein permanentes Stoma aufgrund von Funktionsstörungen liegt bei bis zu 22% (6). Die Sterblichkeit bei älteren Patienten kann bis zu 30 % betragen (7). In den späten 1990er-Jahren wurde bei Patienten, die nach einer CRT ein vollständiges klinisches Ansprechen erreichten, eine Watch-and-Wait (WW)-Strategie eingeführt (8). Seitdem ist die Organerhaltung bei Patienten mit Rektumkarzinomen weltweit ein Thema von wachsendem Interesse. Trotz sehr ermutigender Daten kommt es jedoch bei einem Viertel der Patienten im initialen Stadium und bei 50 % der Patienten mit einem lokal fortgeschrittenem Tumor zu einem Rückfall. Watch-and-Wait-Strategie Angelita Habr Gama, eine Chirurgin aus San Paolo, war die erste, die mit der WW-Strategie Pionierarbeit leistete und 2004 gute Ergebnisse veröffentlichte (8). In dieser Studie wurden Patienten, die nach der Vorbehandlung ein vollständiges klinisches Ansprechen (cCR) erreichten, beobachtet und nicht operiert. Sowohl das Gesamtüberleben (OS) als auch das krankheitsfreie Überleben (DFS) waren davon nicht beeinträchtigt. Zu dieser Zeit wurden die Ergebnisse breit diskutiert und teils kritisiert; aber zusätzliche Daten aus der französischen Greccar-Studie und weitere niederländische und britische Studien zeigten, dass diese Strategie für Patienten machbar und sicher ist (9–11). Die internationale multizentrische Watch & Wait Database (IWWD) ist ein gross angelegtes Register mit mehr als 800 Patienten in 15 Ländern. Bei einer Auswertung lag die kumulative 2-Jahres-Inzidenz von Lokalrezidiven nach einer medianen Nachbeobachtungszeit von 3 Jahren bei etwa 30 %, wobei die meisten Rezidive (88 %) in den ersten 2 Jahren diagnostiziert wurden (12). Parallel dazu wurden in den letzten Jahren mehrere Übersichten und Metaanalysen zu diesem Thema veröffentlicht (13–16). Bei mehr als 1000 Patienten wurden eine WW-Strategie und Organerhaltung verfolgt. Nach mehr als 5 Jahren Überwachung sind die Gesamtüberlebensraten und das krankheitsspezifische Überleben jenen von historischen Kohorten ähnlich, so dass dieses konservative Verfahren bei ausgewählten Patienten als onkologisch sicher angesehen werden kann. Leider kommt es trotz dieser vielversprechenden Ergebnisse bei etwa 30 % der Patienten zu einem Rückfall, der eine Operation erforderlich macht. Eines der Hauptargumente gegen eine konservative Behandlung und für eine radikale Proktektomie ist das Risiko einer Becken-, Lymph- oder Venen invasion. Im Laufe der Zeit hat sich gezeigt, dass dieses Risiko wahrscheinlich überschätzt wurde. 90 % der Rezidive befinden sich in der Enddarmwand, in der der Tumor entstanden ist, so dass eine sekundäre kurative Operation durchgeführt werden kann. Rezidive im perirektalen Fettgewebe, im Mesorektum oder im distalen Becken scheinen ungewöhnlich (9). Selbst die anfängliche Befürchtung, dass Patienten, die eine WW-Strategie verfolgen, ein höheres Risiko für Fernmetastasen haben, scheint sich nicht zu bestätigen. Es sollte auch erwähnt werden, dass sich das anfängliche Staging heute dank der Einführung der multiparametrischen und hochauflösenden MRT, die eine genauere Auswahl der Patienten ermöglicht, erheblich verbessert hat. Eine Voraussetzung für ein WW-Verfahren ist die Weiterverfolgung der Patienten nach Abschluss der RCT. Da die meisten Rezidive in den ersten 2 Jahren auftreten, ist diese Zeit für die Patienten sehr intensiv. Die Leitlinien mehrerer Länder sind sich grundsätzlich einig und empfehlen alle 3 Monate eine Rektoskopie, DRE und MRT. Die Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Gastroenterologie (SGG) sind in Abbildung 1 zusammengefasst (17). Massnahmen Anamnese, klinische Untersuchung, CEA-Titer1 Endoskopie: Koloskopie Bildgebung: CT Thorax-Abdomen-Becken Monate nach Therapieabschluss 4 8 12 16 20 24 30 36 42 48 60 XXXXXXXXXXX X X2 X3 X3 X X3 X3 X X3 X X3 X X 1 Präoperative Bestimmung des CEA-Titers als Routine dringend empfohlen. Im Falle eines Titeranstiegs im postoperativen Verlauf grosszügiger Einsatz bild gebender Untersuchungen. 2 Anschliessend Koloskopie alle 5 Jahre, wenn keine Polypen. 3 Oder Magnetresonanztomographie Abdomen und Thorax-Röntgen, alternativ Low-Dose-Computertomographie (CT) T horax bei Status nach Entfernung von Lebermetastasen. Abb.1 Konsensusempfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Gastroenterologie (SGG) zur Nachsorge nach konservativer Behandlung (adaptiert nach 17) SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 5/2023 17 IM FOKUS: GASTROENTEROLOGISCHE TUMOREN Totale neoadjuvante Therapie bei lokal fortgeschrittenen Tumoren und WW Der Einsatz der neoadjuvanten Chemotherapie bei der Behandlung eines lokal weit fortgeschrittenen Rektumkarzinoms (LARC) wurde durch die randomisierten Phase-III-Studien RAPIDO (18) und PRODIGE-23 (19) revolutioniert. Die Einschlusskriterien waren in diesen Studien leicht unterschiedlich; grundsätzlich aber wurden Patienten mit ungünstigen prognostischen Faktoren (cT3-T4, N2, EMVI) entweder zum klassischen RCT-Schema oder einer intensivierten Chemotherapie mit Oxaliplatin randomisiert. Die Rationale liegt bei der systemischen Behandlung potenzieller Mikrometastasen in einem frühen Stadium, was das krankheitsfreie Überleben verbessert hat. Ein wichtiges Ergebnis beider Studien ist die erhöhte Rate (25 %) des pathologischen vollständigen Ansprechens. Dadurch erhöht sich möglicherweise die Zahl der Patienten, die von einer WW-Strategie profitieren könnten, wobei der Schwerpunkt auf Patienten mit einem tiefen Tumor (< 5 cm vom Analrand) liegt, bei denen eine Amputation hätte vermieden werden können (22–38 %). In der OPRA-Studie, die kürzlich vom Memorial Sloan Kettering Cancer Center veröffentlicht wurde, wurden keine negativen Auswirkungen auf die langfristigen Behandlungsergebnisse festgestellt. In dieser Studie wurden LARC-Patienten nach dem Zufallsprinzip in einen der beiden TNT-Arme (neoadjuvante Chemotherapie gefolgt von CRT oder CRT gefolgt von Chemotherapie) eingeteilt und erhielten je nach Ansprechen des Tumors eine onkologische Operation oder wurden in eine WW-Strategie überführt. Nach einer Nachbeobachtungszeit von 3 Jahren wurden keine Unterschiede zwischen den Gruppen hinsichtlich des Überlebens ohne lokales Rezidiv, des Überlebens ohne Fernmetastasen oder des Gesamtüberlebens festgestellt (20). Die Ergebnisse dieser Studie unterstreichen die Machbarkeit einer konservativen Behandlung bei selektionierten Patienten, die ein komplettes Ansprechen nach der Vorbehandlung aufweisen – auch bei lokal fortgeschrittenen Tumoren. Papillon X-Röntgen-Kontaktstrahlentherapie: geschichtlicher Rückblick Die Kontaktstrahlentherapie CXB, umgangssprachlich auch als «Papillon-Methode» bezeichnet, ist eine Strahlenbehandlung mit weichen Röntgenstrahlen (50 kV). Lamarque aus Montpellier (F) setzte sie in den 1950er-Jahren bei Rektumkarzinomen ein, doch Papillon aus Lyon (F) leistete mit dieser Methode Pionierarbeit. In den folgenden Jahrzehnten wurde die CXB durch die grossen Erfolge von Prof. Jean Papillon bei der Behandlung des frühen Rektumkarzinoms (TI-T2-Tumoren) mit dem Philips RT 50TM-Gerät perfektioniert und populär gemacht, so dass die Technik seinen Namen erhielt. Parallel dazu lieferte eine französische Gruppe mit Sitz in Nizza ebenfalls vielversprechende Ergebnisse. Obwohl mehrere Hundert Patienten mit dieser Technik behandelt wurden, wurde der Prototyp des Philips 50 kV-Röntgengenerators, der in den meisten der ursprünglichen Studien verwendet wurde, in den 1980er-Jahren vom Hersteller eingestellt, was die weitere Verbreitung der CXBMethode behinderte und ihre Popularität auf einen kleinen Kreis von etwa 10 Zentren weltweit beschränkte. Ausserdem wurden in diesen Jahren Linearbeschleuniger entwickelt, die die damaligen Kobaltgeräte ersetzten, so dass die CXB-Behandlung für mehr als zwei Jahrzehnte «vergessen» wurde. Diese Probleme wurden 2007 mit der Gründung einer internationalen Gruppe für die Bewertung der Kontaktstrahlentherapie (ICONE) angegangen, kV Applikator Dosis an der Oberfläche: 100% = 30 Gy Dosis in 5 mm Tiefe: 47% = 14,1 Gy Rektalwand – 5 mm Abb. 2 Schematische Darstellung der Papillon-Behandlung und des Dosisabfalls im Gewebe 18 SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 5/2023 IM FOKUS: GASTROENTEROLOGISCHE TUMOREN Abb. 3 Klinisches Beispiel eines T3-Rektumkarzinoms im Verlauf: bei Diagnose (li.) und nach 2 weiteren Fraktionen deren Ziel es war, die Papillon-Methode wieder in die klinische Praxis einzuführen, ein neues Verabreichungsgerät bereitzustellen und ein einheitliches Konsensrahmenprotokoll für weitere Studien zu erstellen. Daraufhin brachte die britische Firma Ariane 2009 ein hochmodernes 50 kV-Gerät zur Behandlung von Rektumkarzinomen, den Papillon 50, auf den internationalen Markt. Derzeit sind etwa 12 Papillon-Geräte in Grossbritannien, Frankreich, Dänemark, Schweden, den Niederlanden und der Schweiz in der Klinik Bethanien in Zürich und neu in der Clinique generale Beaulieux in Genf installiert. Radiobiologische und physikalische Einheiten Der Vorteil der Papillon-Methode beruht auf den physikalischen Eigenschaften von 50 kV-Röntgenstrahlen, die einen schnellen Dosisabfall aufweisen. Konkret bedeutet dies, dass die Dosis hauptsächlich an der Oberfläche des Tumors deponiert wird und nur wenige Millimeter in das Gewebe eindringt, so dass die Umgebung vollständig vor Strahlung geschützt ist. Bei jeder Anwendung wird der Tumor in einem sehr kleinen Gewebevolumen, in der Regel < 5 cm3, Schicht für Schicht behandelt (siehe Abbildung 2). Dies ermöglicht die Anwendung sehr hoher Dosen. In der Regel wird eine Dosis von 20–30 Gy pro Fraktion verabreicht, was einer biologisch äquivalenten Dosis von 80–100 Gy entspricht. Die Papillon-Therapie ist als ablative und adaptive Bestrahlung zu betrachten, da die Dosis und der Durchmesser des Strahlenapplikators bei jeder Behandlung an die Dicke und Grösse des Tumors angepasst werden. Aufgrund dieser sehr hohen Dosis, die direkt auf den Tumor aufgebracht wird, ist nach jeder Anwendung eine allmähliche Verkleinerung des Tumors zu beobachten. Am Ende der dritten Behandlung ist der Resttumor bei einem ansprechenden Tumor sehr klein (siehe Abbildung 3). Technische Aspekte Technisch ist die Anwendung der PapillonMethode sowohl für das Behandlungsteam als auch für den Patienten einfach und unkompliziert. Die Behandlung wird ambulant durchgeführt und erfordert keine Vollnarkose. Für den Komfort des Patienten kann jedoch eine Sedierung angeboten werden. Das Verfahren ähnelt einer Darmspiegelung, doch ist keine spezielle Vorbereitung mit Abführmitteln erforderlich (in der Regel wird 30–40 Minuten vor der Behandlung ein Einlauf verabreicht). Je nach Lage des Tumors wird der Patient in Seitenlage, Knie-Ellenbogen-Lage oder Steinschnittlage gelagert. Der Tumor wird durch eine starre Rektoskopie lokalisiert und dann in direkten Kontakt mit dem Strahlentherapie-Applikator gebracht. Dafür muss der Tumor für den Applikator zugänglich sein und darf nicht weiter als 10 cm vom Analrand entfernt sein. Für die Behandlung stehen 3 Applikatoren mit 3 verschiedenen Durchmessern (2,2, 2,5 und 3 cm) zur Verfügung. Diese werden je nach Grösse des Tumors ausgewählt. Die Behandlung selbst dauert nur wenige Minuten und ist schmerzlos. Zur Behandlung eines T2-T3-Tumors sind in der Regel 3 bis 4 Anwendungen erforderlich. Sie erfolgen meist in Abständen von 1 oder 2 Wochen. Evidenz aus retrospektiven und prospektiven Studien Seit über 20 Jahren in Vergessenheit geraten, beherrschen nur noch wenige Ärzte in etwa 12 Zentren weltweit diese Technik. Daher ist es verständlich, dass keine randomisierten Studien verfügbar sind. Es liegen jedoch gute retrospektive Daten und zwei prospektive Studien vor. SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 5/2023 19 IM FOKUS: GASTROENTEROLOGISCHE TUMOREN Abgesehen von älteren Veröffentlichungen von Jean Papillon, der in den 1970er- und 1980er-Jahren die grosse Fähigkeit dieser Technik zur Behandlung kleiner polypoider Tumoren (LC = 91 %) demonstrierte (21, 22), haben europäische Zentren ihre Erfahrungen mit Papillon als Einzelbehandlung kleiner polypoider Tumoren oder in Kombination mit Radiochemotherapie als Teil einer geplanten organerhaltenden Therapie veröffentlicht. In einer von Sun Myint et al. durchgeführten Studie erreichten 86 % der Patienten nach Behandlung mit CRT und einer weiteren Verbesserung mit Papillon eine langfristige Remission nach 5 Jahren (23). Die Lokalrezidivrate war deutlich niedriger als in den Vergleichskohorten ohne Papillon-Boost. Auch die Studie von Frin et al. zeigte ein überraschend hohes klinisches vollständiges Ansprechen (96 %) mit einem hohen langfristigen Organerhalt (89 %, n = 112) (24). Es sollte betont werden, dass eine weitere Anreicherung mit Papillon das lokale Wiederauftreten um zwei Drittel reduzieren kann. Im Vergleich mit Studien zur Organerhaltung mit klassischer Radiochemotherapie (oder mit einem Boost durch externe Strahlentherapie) sank die Rezidivrate in Studien mit der Papillon-/fokalen Radiotherapie von 33% auf 11% (23–25). Selbst in Situationen, in denen ein chirurgischer Eingriff im Voraus geplant war, führte die zusätzliche Behandlung mit Papillon zu einem signifikant höheren klinischen vollständigen Ansprechen (28 vs. 2 %). In der randomisierten Lyon-Studie R96-02 konnte bei 2/3 der Patienten zum Zeitpunkt der Operation ein definitives Stoma vermieden werden und nach 10 Jahren Nachbeobachtung war die Rate der Organerhaltung hoch (63 vs. 29 %; p < 0,001) (26, 27). Die multizentrische (UK, FR, CH) Phase-III-Studie OPERA wurde 2015 mit dem Ziel initiiert, den Nutzen eines Papillon-Boosts prospektiv zu belegen (28). Tiefe und intermediäre cT2/cT3 cN0cN11-Rektumkarzinome wurden zu einer konventionellen Radiochemotherapie mit oder ohne CXB-Boost randomisiert. Die Patienten in Arm A erhielten eine zusätzliche perkutane Strahlentherapie (EBRT) mit einer kumulativen Dosis von 54 Gy (ähnlich wie in der Habr-Gamma-Referenzgruppe). In Arm B wurde der Boost mit Papillon (3 x 30 Gy) verabreicht. Die Patienten wurden in Abständen von 14, 20 und 24 Wochen untersucht. Bei vollständigem klinischem Ansprechen wurde die WW-Strategie fortgesetzt. Bei Patienten, die keine Remission oder kein Rezidiv zeigten, wurde ein chirurgischer Eingriff (TME oder transanale Resektion) vorgeschlagen. Die Ergebnisse wurden Anfang des Jahres publiziert und zeigen einen deutlichen Vorteil bei der Organerhaltung mit zusätzlichem Papillon-Boost: 81 versus 60% (p = 0,005); dieser Vorteil ist bei Tumoren < 3 cm noch deutlicher: 97 versus 65% (p = 0,02). Ein wichtiger Punkt sind auch die deutlich höheren Raten für ein komplettes Ansprechen und für eine Sterilisation, die durch einen Papillon-Boost erzielt werden können: Die Remission nach der RCT ist ein starker Vorhersagewert, da sie mit der langfristigen Organerhaltungsrate und den Überlebensaussichten korreliert (29). Interessant ist auch, dass bei 14 % der operierten Patienten in der OPERA-Studie kein Tumor mehr nachgewiesen werden konnte (pCR) (30). Es wurde behauptet, dass wegen der Fibrose oder des radioinduzierten Ödems eine Dosissteigerung bei der Papillon-Therapie die Ergebnisse einer Salvage-Chirurgie negativ beeinflussen könnte; dies aber wurde in Studien nicht bestätigt. Die Patienten, die einen Rückfall erleben, können weiterhin ohne zusätzliche Gefahren operiert werden (26). In der Schweiz wurden bereits mehr als 80 Patienten mit verschiedenen Indikationen (geplante Organerhaltung, adjuvant nach Resektion eines malignen Polypen, palliativ oder als Salvage nach einem Rückfall nach klassischer Radiochemotherapie) mit Papillon behandelt. Die Erfahrung in unserer schweizerischen Patientengruppe zeigt eine hohe Rate an vollständigem lokalem Ansprechen. Das ermöglicht es, die Organe langfristig zu erhalten, mit erhaltener Sphynkterfunktion und sehr guter Lebensqualität (31, 32). Unsere Ergebnisse entsprechen den kürzlich vorgestellten 3-Jahres-Ergebnissen der randomisierten OPERA-Studie. Die europäische OPERA- und die amerikanische Opra-Studie bieten eine gute Grundlage für weitere Untersuchungen. Die TRESSOR-Studie (FR) wird den Nutzen des CXB-Boosts in Kombination mit TNT und CRT bei fortgeschrittenen Tumoren untersuchen. Verträglichkeit Ebenfalls ein wichtiger Aspekt ist der Funktions erhalt. Die mit Papillon behandelten Patienten zeigen eine sehr hohe Lebensqualität in Bezug auf die Darmfunktion (23, 24, 28, 33). Aufgrund der oben beschriebenen physikalischen Eigenschaften sind die akuten und späten Toxizitäten im Zusammenhang mit der Verwendung von CXB sehr begrenzt. Akut kann es bei weniger als einem Drittel der Patienten zu einer intermittierenden Proktitis Grad I, einer rektalen Ulzeration Grad I und/oder einer lokalen Teleangiektasie Grad I–II in Verbindung mit einer leichten, selbstlimitierenden Hämatochezie kommen. Spättoxizität ist sehr selten; in weniger als 1% der Fälle wurden Stenosen oder Fistelbildungen beschrieben, die in Ausnahmefällen eine Kolostomie erfordern. Es wurde keine Sterblichkeit im Zusammenhang mit CXB-Toxizität beschrieben (23-25, 28, 33). 20 SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 5/2023 IM FOKUS: GASTROENTEROLOGISCHE TUMOREN Ökonomische Aspekte Bei der multimodalen Behandlung des Rektumkarzinoms übersteigt die wirtschaftliche Belastung der chirurgischen Behandlung eindeutig die der konservativen Ansätze. Trotz der scheinbar teuren Notwendigkeit einer häufigen Nachsorge nach WW sind die Kosten für die radikale Operation, aber auch für die Kolostomie und die Behandlung von Komplikationen immer noch deutlich höher (34). In der Schweiz belaufen sich die Kosten für eine Papillon-Behandlung mit drei oder vier Fraktionen auf etwa 3000 Schweizer Franken, was bis zu 10- bis 20-mal niedriger ist als die Kosten, die direkt mit einer abdominal-perinealen Resektion des Enddarms verbunden sind. Die Behandlung wird in der Schweiz von der Krankenkasse übernommen. Indikationen zur Papillon-Kontaktstrahlentherapie Derzeit gibt es (noch) keine offiziellen Leitlinien für die Anwendung der Papillon-Kontakttherapie. Die Indikationen lassen sich aber wie folgt zusammenfassen: ■ nach der Entfernung eines bösartigen Poly- pen, wenn eine Nachbehandlung angezeigt ist (insbesondere bei sehr tief liegenden Tumoren, bei denen die Operation zu funktionellen Beschwerden oder einem Stoma führt); besteht ein erhöhtes Risiko für okkulte Lymphknotenmetastasen wird Papillon ■ als einzige Therapie bei kleinen polypoiden T1N0-Tumoren, bei denen weder eine Operation noch eine transanale Resektion möglich ist ■ als zusätzlicher Impuls für die geplante Organerhaltung im tiefen und mittleren Enddarm; für T1-T3 N0–N1 kombiniert mit RCT, für LARC (definiert nach der RAPIDO- und der PRODIGE 23-Studie) in Kombination mit TNT und RCT ■ Downstaging, wenn eine Operation geplant ist – besonders wichtig bei sehr tiefen Tumoren, um eine Amputation zu vermeiden ■ lokale Rezidive nach RCT ■ palliative Situationen (z. B. Blutungen) ■ inoperable oder Hochrisikopatienten. Resümee und Ausblick Das derzeitige Konzept zur Behandlung von Rektumkarzinomen entwickelt sich rasch weiter. Es ist sehr wichtig, die Behandlungsmethode individuell auf jeden einzelnen Patienten abzustimmen, wobei Lebensqualität und funktionelle Aspekte eine sehr wichtige Rolle spielen. Mit der derzeitigen Chemoradiationstherapie erreicht etwa ein Viertel der Patienten eine vollständige klinische Remission. Diese Patienten sind gute Merkpunkte ■ Lebensqualität und funktionelle Aspekte sind wichtige Punkte bei der Behandlung von Enddarmkrebs, um eine Operation und ein dauerhaftes Stoma zu vermeiden. ■ Die «Watch-and-Wait»-Strategie ist eine attraktive Option für Patienten, die nach einer RCT eine vollständige klinische Remission aufweisen, ganz zu schweigen von der 30 %-igen Rezidivrate. ■ Papillon ist eine einfache Behandlungsmethode, mit der der Tumor direkt an seiner Oberfläche behandelt wird. ■ Durch die zusätzliche Behandlung mit Papillon (CXB) konnten die langfristige lokale Kontrolle bzw. die Rezidivraten deutlich verbessert werden. Retrospektive Veröffent lichungen und zwei randomisierte Studien in Europa belegen den Nutzen der CXB. Kandidaten für ein WW-Verfahren, ohne ihr Überleben zu gefährden. Leider ist die Rezidivrate mit 30 % nach wie vor relativ hoch. Mit der Papillon-Kontaktstrahlentherapie können jedoch die langfristige lokale Kontrolle und die Rezidivraten deutlich verbessert werden. Ausgewählte lokale Rezidive können ebenfalls mit dieser Methode behandelt werden, um zu versuchen, Organe zu erhalten und die Nebenwirkungen sowie die Kosten einer Operation zu vermeiden. Ausführliche Patienteninformationen, interdisziplinäre Zusammenarbeit, ein genaues Staging und eine sorgfältige Nachsorge sind Voraussetzungen für ein erfolgreiches Behandlungskonzept. Dr. Cristina Picardi Fachärztin für Radio-Onkologie, Radiotherapie Fachärztin für Allgemeine Innere Medizin Hirslanden Klinik, Institut für Radiotherapie, Witellikerstrasse 40, 8032 Zürich Swiss Radio-Oncology Network, Bethanien Klinik, Toblerstrasse 51, 8044 Zürich E-Mail: cpicardi@genolier.net Interessenkonflikte: keine Referenzen: 1. Bundesamt für Statistik (Schweiz). Schweizerischer Krebsbericht 2021. Verfüg- bar unter: https://www.krebs.bfs.admin.ch. 2. 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Rao C et al.: A Cost-Effectiveness Analysis of Contact X-ray Brachytherapy for the Treatment of Patients with Rectal Cancer Following a Partial Response to Chemoradiotherapy. Clin Oncol (R Coll Radiol). 2018;30(3):166-177. 22 WESHALB ÜBERGEWICHT ALS RISIKOFAKTOR FÜR DARMKREBS BIS ANHIN UNTERSCHÄTZT WURDE Nach bisherigen Schätzungen ist das Darmkrebsrisiko bei adipösen Personen (BMI ≥ 30 kg/m2) bis zu einem Drittel höher als bei normalgewichtigen. «Allerdings wurde bei diesen Untersuchungen bislang nicht berücksichtigt, dass viele Betroffene in den Jahren vor ihrer Darmkrebsdiagnose an Gewicht verlieren», sagt Hermann Brenner, Epidemiologe und Präventionsexperte am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ). «Das hat dazu geführt, dass der Risikobeitrag von Übergewicht deutlich unterschätzt wurde, wie wir mit einer ersten Fall-KontrollStudie* belegen konnten.» Um dieses Ergebnis an einer grösseren Kohorte zu verifizieren, werteten die DKFZ-Forscher Daten der UK-Biobank aus. Hier erkrankten während eines durchschnittlichen Follow-Ups von zehn Jahren 4794 der insgesamt 453049 verzeichneten Personen an einem Kolorektalkarzinom. Um bei der Berechnung des Zusammenhangs zwischen Übergewicht und Darmkrebsrisiko mögliche Verzerrungen durch prädiagnostischen Gewichtsverlust zu vermeiden, schlossen die Forscher in einem von zwei Rechendurchgängen die ersten Jahre der Nachbeobachtungszeit aus. ■ Berücksichtigte die Berechnung die gesamte Nachbeobachtungszeit (bis zu 13 Jahre), so ergab sich für Übergewichtige ein um 13 Prozent (Frauen) und ein um 23 Prozent (Männer) höheres Darmkrebsrisiko als für Normalgewichtige. ■ Wurden die Krebsdiagnosen der ersten sieben Jahre der Nachbeobachtung aus der Berechnung herausgenommen, so war das Risiko bei übergewichtigen Frauen um 26 Prozent und bei übergewichtigen Männern um 42 Prozent erhöht. Der prädiagnostische Gewichtsverlust kann vermutlich auf den durch den Tumor gesteigerten Stoffwechsel und eine systemische Entzündung zurückgeführt werden, was beides den Energieverbrauch steigert. Die Dauer der prädiagnostischen Phase beträgt durchschnittlich etwa drei bis sechs Jahre. Aufgrund dieser Ergebnisse sollte den Autoren zufolge bei der Planung künftiger Studien verstärkt auf den Zeitpunkt der Gewichtsmessun- gen geachtet werden. «Ein unbeabsichtigter Gewichtsverlust im Erwachsenenalter kann andererseits aber auch ein Hinweis auf eine uner- kannte Krebserkrankung sein und die Ursache dafür sollte daher sorgfältig abgeklärt werden», so Brenner. DKFZ/PS Medienmitteilung des Deutschen Krebsforschungszentrums (DKFZ) vom 26. September 2023 * Marko Mandic et al.: Association of Overweight, Obesity, and Recent Weight Loss With Colorectal Cancer Risk. JAMA Network Open. 2023, doi:10.1001/jamanetworkopen.2023.9556 SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 5/2023