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S3-Leitlinie Psychoonkologie – Was ist neu?
Das Leitlinienprogramm Onkologie hat die S3-Leitlinie zur psychoonkologischen Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatienten aktualisiert. In der überarbeiteten Fassung wurden die Kapitel zu psychoonkologischen Interventionen und zur Psychopharmakotherapie von Krebspatienten durch neue Themen ergänzt.
Die Leitlinie bezieht sich auf erwachsene Krebspatienten ab 18 Jahren. Die Empfehlungen basieren auf Studiendaten, die anhand systematischer Literaturrecherchen ermittelt wurden. In Bereichen, wo diese nicht durchgeführt werden konnten, strebten die Experten einen Konsens an. Im Folgenden werden die neu aufgenommenen Inhalte im Überblick dargestellt.
Psychoonkologische E-Health- Interventionen
In der aktualisierten Fassung empfehlen die Experten erstmals, allen Krebspatienten, unabhängig von ihrer Belastung, psychoonkologische E-HealthInterventionen anzubieten. In Studien konnten diese zur Verminderung psychischer Belastungen, Depressivität, Angst und Fatigue beitragen. Im Hinblick auf die Linderung von Schmerzen oder der Verbesserung sexueller Funktionsstörungen lässt die derzeitige Datenlage keine Empfehlung für oder gegen den Einsatz von E-Health-Angeboten zu. Das E-Health-Angebot beinhaltet GesundheitsApps oder -Websites sowie telemedizinische Angebote. In der Praxis sind vor allem niederschwellige psychotherapeutische Angebote von Bedeutung, die ortsunabhängig nutzbar sind. So haben auch Krebspatienten in Regionen mit geringer Versorgungsdichte Zugang zu psychoonkologischen Angeboten. Die Leitlinienautoren weisen ausdrücklich darauf hin, dass E-Health-Interventionen die Angebote mit persönlichem Kontakt nicht ersetzen, sondern diese ergänzen sollen.
Spezifische psychoonkologische Interventionen in der Palliativphase
Des Weiteren empfehlen die Leitlinienexperten spezifische psychoonkologische Interventionen für Krebspatienten in der Palliativphase zur Verminderung von psychischen Belastungen, Depressivität, Angst oder Fatigue. In dieser speziellen Situation können Entspannungsverfahren, achtsamkeitsba-
sierte Interventionen und Meditation sowie hypnotherapeutische Elemente, kognitiv-verhaltenstherapeutische Interventionen, supportiv-expressive Interventionen und systemisch-familientherapeutische Ansätze oder künstlerische Therapien die Lebensqualität verbessern. Ausserdem wurden in den letzten Jahrzehnten spezifische Interventionen wie die Meaning-Centered Psychotherapy, die Managing Cancer and Living Meaningfully (CALM)-Therapie und die Dignity Therapy für die Arbeit mit Palliativpatienten entwickelt.
Psychoonkologische Krisenintervention
Für Patienten sowie für Angehörige, die sich in einer akuten Krisenreaktion befinden, empfehlen die Experten eine zeitnahe psychoonkologische Krisenintervention durch psychoonkologisch weitergebildete Fachkräfte. Diese speziellen Interventionen sollen den Betroffenen psychisch stabilisieren und ihn durch Unterstützung seiner Bewältigungsfähigkeiten wieder in die Lage versetzen, die problematische Situation aus eigener Kraft zu meistern.
Schlafstörungen
Viele Krebspatienten leiden unter Schlafstörungen infolge von psychischen Belastungen, der Behandlung oder der Krebserkrankung selbst, wie einer Schlafapnoe aufgrund von Kopf-/Halstumoren. Die Experten empfehlen, die Notwendigkeit einer psychopharmakologischen Behandlung der Schlafstörungen zu prüfen und unter Berücksichtigung aktueller Leitlinienempfehlungen vorzunehmen. Ergeben sich aus der Anamnese somatische Symptome wie Schmerz, Übelkeit, Dyspnoe oder Hitzewallungen als Ursache, wird zunächst eine Optimierung der Behandlung dieser Symptome angestrebt. Die Wirksamkeit einer kognitiven Verhaltenstherapie bei Schlafstörungen ist auch bei Krebspatienten gut belegt. Zur Verträglichkeit und Sicherheit von Psychopharmaka liegen dagegen nur wenige empirische Untersuchungen vor.
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Neben- und Wechselwirkungen von Psychopharmaka bei Krebspatienten
Die Experten weisen darauf hin, dass es bei der Anwendung von Psychopharmaka bei Krebspatienten zu einer Verstärkung der Nebenwirkungen von Medikamenten zur Behandlung somatischer Grunderkrankungen sowie zu pharmakokinetischen Interaktionen von Psychopharmaka mit der onkologischen Medikation kommen kann. Dies ist beispielsweise im Zusammenhang mit Antidepressiva der Fall. Anticholinerge Nebenwirkungen können bei Patienten problematisch werden, die bereits eine Schmerzbehandlung mit Opioiden erhalten. Manche Antidepressiva beeinflussen auch die Reizweiterleitung am Herzen (QTZeit) oder den Elektrolythaushalt (Hyponatriämie) oder sie sind mit Organtoxizitäten wie einer Hepatotoxizität verbunden. In diesen Fällen sind regelmässige Kontrollen der erforderlichen Parameter und Nutzen-Risiko-Abwägungen erforderlich. Bei Brustkrebspatientinnen unter Tamoxifen (Generika; das Original Nolvadex® wird nicht mehr vertrieben) kam es in Studien bei zusätzlicher Applikation von Antidepressiva zu einer Erhöhung der Mortalität. Dies war darauf zurückzuführen, dass die Gruppe der selektiven Serotonin-WiederaufnahmeInhibitoren (SSRI) erhebliche Unterschiede im Hinblick auf Interaktionen mit dem Cytochrom-P450-System aufweist. Starke CYP2D6-Inhibitoren verhindern die Transformation von Tamoxifen in das biologisch wirksame Endoxifen und reduzieren so die antitumorale Wirksamkeit. In einer retrospektiven Studie wurde unter Tamoxifen und Paroxetin (Deroxat® und Generika) bei Brustkrebspatientinnen eine erhöhte krebsbedingte Mortalität beobachtet, während Citalopram, Sertralin (Zoloft® und Generika), Fluvoxamin (Floxyfral®) und Venlafaxin (Efexor® und Generika) die krebsbedingte Mortalität nicht beeinflussten. Als Psychopharmaka mit mittlerer bis starker CYP2D6-inhibitorischer Aktivität gelten die Antidepressiva Paroxetin, Fluoxetin (Fluctine® und Generika), Bupropion (Wellbutrin® XR) und Duloxetin (Cymbalta® und Generika) sowie die Antipsychotika Thioridazin (in der Schweiz nicht mehr erhältlich), Perphenazin (Trilafon®) und Pimozid (Orap®).
Psychopharmaka bei P atienten mit malignen Z NS-Tumoren oder zerebralen Metastasen
Bei Patienten mit malignen ZNS-Tumoren oder zerebralen Metastasen liegt ein deutlich erhöhtes Risiko für epileptische Anfälle vor, das mit der Lokalisation und der Histologie des Tumors in Zusammenhang steht. Vor einer psychopharmakologischen Behandlung von Patienten mit malignen
ZNS-Tumoren oder zerebralen Metastasen sollten deshalb potenzielle psychische Nebenwirkungen einer bestehenden antikonvulsiven Therapie und potenzielle Interaktionen von Psychopharmaka mit bereits eingenommenen Antikonvulsiva beachtet werden. Trizyklische Antidepressiva – vor allem Clomipramin (Anafranil®) und Imipramin (Tofranil®) – und das tetrazyklische Maprotilin (in der Schweiz nicht mehr im Handel) sind mit einem erhöhten Risiko für epileptische Anfälle verbunden. Bupropion erhöht das Risiko für einen Anfall in Abhängigkeit von der Dosierung und ist bei Patienten mit ZNS-Tumoren kontraindiziert. SSRI und andere neuere Antidepressiva wirken bei korrekter Dosierung dagegen möglicherweise antikonvulsiv. Das Risiko der Auslösung epileptischer Anfälle durch Antidepressiva wird insgesamt als gering erachtet. Die Auswirkungen von Antipsychotika auf das Anfallsrisiko von Patienten mit Hirntumoren wurden bis anhin nicht systematisch untersucht. In Phase II- und -III- Zulassungsstudien waren Clozapin (Leponex® und Generika), Olanzapin (Zyprexa® und Generika) und Quetiapin (Seroquel®, Generika und Autogenerika) bei nicht onkologischen Patienten mit einem erhöhten Risiko für epileptische Anfälle assoziiert.
Blutungsrisiko unter A ntidepressiva
Blutungen stellen vor allem bei fortgeschrittenen Krebserkrankungen eine häufige Komplikation dar. Daher muss beachtet werden, dass Antidepressiva das Blutungsrisiko über verschiedene Mechanismen beeinflussen können. Serotonin-Wiederaufnahmehemmer beeinträchtigen die Blutstillung durch eine Hemmung der Wiederaufnahme von Serotonin in Thrombozyten, wodurch die Thrombozytenaggregation und die Vasokonstriktion in Reaktion auf eine Gefässwandverletzung beeinträchtigt werden. Insgesamt ist ein erhöhtes Blutungsrisiko unter serotonergen Antidepressiva gut belegt. Patienten mit hohem Blutungsrisiko sollten daher zur medikamentösen Behandlung einer Depression bevorzugt
S3-LEITLINIE «PSYCHOONKOLOGISCHE DIAGNOSTIK, BERATUNG UND BEHANDLUNG VON ERWACHSENEN KREBSPATIENT*INNEN»
Herausgeber: Leitlinienprogramm Onkologie der Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften e. V. (AWMF), der Deutschen Krebsgesellschaft e. V. (DKG) und der Stiftung Deutsche Krebshilfe (DKH).
Federführende Fachgesellschaften: Deutsche Krebsgesellschaft (DKG) und Arbeitsgemeinschaft für Psychoonkologie in der Deutschen Krebsgesellschaft (PSO.)
Sie erreichen die Leitlinie direkt via QR-Code:
https://www.leitlinienprogramm-onkologie.de/leitlinien/psychoonkologie/
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Antidepressiva mit geringer Affinität zum Serotonintransporter erhalten. Dazu gehören Bupropion, Mirtazapin (Remeron® und Generika), Trazodon (Trittico®) oder Trimipramin (Surmontil® und Generika).
Besonderheiten einzelner Zielgruppen
Patienten mit Hirntumoren: Hirntumorpatienten leiden nicht nur unter der Krebserkrankung selbst, sondern auch darunter, dass die Identität betroffen ist. Neben Störungen der Motorik, Sensorik oder Sprache können auch das Gedächtnis, die Aufmerksamkeit oder die Persönlichkeit betroffen sein. Zu den schwerwiegendsten Problemen dieser Patientengruppe gehören Fatigue, Antriebslosigkeit, Erinnerungsschwierigkeiten und Schlafstörungen. Junge Krebspatienten: Zu den spezifischen Belastungen junger Krebspatienten gehören Fragen im Zusammenhang mit der Fertilität und der Familienplanung. Zudem müssen sie sich unter Umständen mit dem Verlust der Autonomie, Veränderungen in Beziehungen und Unterbrechungen in der Ausbildung auseinandersetzen. Bei jungen Brustkrebspatientinnen ist die Rate genetisch bedingter Krebserkrankungen höher als bei älteren Frauen, was eine besondere Beratung und Planung hinsichtlich familienplanerischer Aspekte erfordert. Bei jungen Frauen werden die Tumoren zudem auch häufiger in höheren Tumorstadien diagnostiziert als bei Frauen über 40 Jahren.
Ältere Krebspatienten: Obwohl mehr als die Hälfte
aller Krebspatienten älter ist als 65 Jahre, ist diese
Patientengruppe in Studien unterrepräsentiert und
es liegen nur wenige Daten zu ihren Bedürfnissen
vor. Ältere Menschen können mit einer Krebserkran-
kung zwar oft besser umgehen als jüngere; gleich-
zeitige altersbedingte Komorbiditäten sind jedoch
häufig eine zusätzliche Belastung. Die Auswirkun-
gen des Alterungsprozesses in Kombination mit der
Krebserkrankung kann mit einer erhöhten Neigung
zu Ängsten und Depressionen verbunden sein. Zu-
dem ist bei älteren Krebspatienten eine erhöhte
Suizidalität und die höchste Rate an vollzogenem
Suizid zu beobachten. Eine Depression ist bei älte-
ren Patienten häufig schwierig zu diagnostizieren,
da die Symptomatik abweichen kann.
Cancer Survivors: Langzeitüberlebende können
auch viele Jahre nach einer Krebserkrankung unter
emotionalen, physischen und funktionellen Proble-
men leiden, welche die Lebensqualität erheblich
beeinträchtigen. Daher sollten auch in der Langzeit-
nachsorge psychoonkologische Interventionen an-
geboten werden.
n
Petra Stölting
Quelle: Leitlinienprogramm Onkologie (Deutsche Krebsgesellschaft, Deutsche Krebshilfe, AWMF): Psychoonkologische Diagnostik, Beratung und Behandlung von erwachsenen Krebspatient*innen, Langversion 2.0, Mai 2023, AWMF-Registernummer: 032-051OL.
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