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20 JAHRE SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE – ONKOLOGIE IM WANDEL
Ernährungsintervention – ein fester Bestandteil der Krebstherapie
Mit ausgewählten, meist neueren Publikationen werden wichtige Erkenntnisse zur Integration der Ernährungsintervention in die Krebsbehandlung aufgezeigt, die für eine optimierte und in Zukunft weiter verstärkte Zusammenarbeit im Krebsmanagement bedeutsam sind.
STEFAN MÜHLEBACH
SZO 2023; 4: 29–30
Stefan Mühlebach
Foto: zVg
Ernährungsintervention und Outcome
Eine angepasste Ernährungsintervention in der Behandlung von Erkrankungen als multimodaler Therapieansatz hat sich in den letzten Jahren etabliert. Die Evidenz ist auf Grund prospektiver, randomisierter und kontrollierter Studien sowie systematischer Reviews gewachsen. Eine leitliniengestützte klinische Ernährung kann die Morbidität und die Mortalität, welche durch krankheitsassozierte Mangelernährung und deren Folgen bedingt sind, verbessern. Dies gilt auch für chronische Erkrankungen inklusive Krebs. Die EFFORT-Studie bei stationären Erwachsenen und die Subanalyse bei Krebskranken zeigt dies in einem prospektiven Ansatz exemplarisch und mit internationaler Ausstrahlung aus der Schweiz. Die Interventionsgruppe erhielt während des Spitalaufenthaltes mindestens 75 % der empfohlenen Kalorien- und Eiweissmenge oder rund 20 % mehr als die Gruppe der Erwachsenen ohne
Mangelernährung, Sarkopenie, Anorexie, Kachexie
Anorexie
Chron. Krankheit Alter
Akute Krankheit Entzündung
Ω Ω
Ω Ω
Ω
Mangelernährung Körperbestand , Defizite
PEM
Aktivität
Erschöpfung
Morbidität, Mortalität QoL
Kraft VO2max
Sarkopenie Muskelmasse
(Fett ) Gewicht
Ω Ω
Ω
Kachexie (entzündliche Auszehrung)
Gewicht
Ω
Adaptiert nach Fried L et al.: J. Gerontology 2001;56:M146-M156 (Frailty) und Schütz Ph. et al.: Lancet 2021; 398:1027-1038 (Malnutrition)
Die Entzündungszytokine sind verantwortlich für die Kachexie – die Auszehrung, die letzlich über die Körperfunktion und das Überleben entscheidet. PEM: Protein-Energie-Mangel; QoL: Lebensqualität
Intervention, entsprechend circa 1400 kcal/Tag, respektive 53 g Eiweiss/Tag. Das Nutritional Risk Screening (NRS) 2002 zur Erfassung der Ernährungsrisikos war ein unabhängiger Mortalitätsindikator über eine Beobachtungszeit von 180 Tagen. In der Gesamtstudie und unabhängig von der Diagnose war die Number needed to treat (NNT) zur Verhinderung 1 Todesfalles 37, für eine schwere Erkrankung (Morbidität) 25, was die Bedeutung und Wirksamkeit dieser Intervention aufzeigt. Das Ausmass der Entzündung, gemessen am CRP bei Einschluss der Krebspatienten, kompromittierte bei hohen Werten signifikant den Erfolg der Ernährungsintervention. In der 180-Tage-Beobachtung wurde deshalb die Differenz der kumulativen Inzidenz der «all cause mortality» in der Kaplan-MeierDarstellung zwischen den Gruppen gegenüber den 30-Tage-Werten reduziert. Das Ausmass der Entzündung muss deshalb als unabhängige Variable für das Überleben in entsprechenden Studien untersucht werden, wie das aktuell in der EFFORT-II-Studie zur klinischen Ernährung im posthospitalen respektive ambulanten Bereich erfolgt (1–4). Die Entzündungszytokine sind verantwortlich für die Kachexie und den durch sie induzierten Muskelund Lean-Body-Mass-Verlust (Auszehrung, vgl. Abb.), der letztlich über die Körperfunktion und das Überleben entscheidet.
Körperzusammensetzung und Risikoerfassung
Mangelernährung und Kachexie verändern die Körperzusammensetzung und den Ernährungszustand, die in der individualisierten Krebstherapie entscheidend für die Wirksamkeit und Toxizität sind. Letztere ist häufig therapielimitierend. In einer neu erschienenen Arbeit zu Patienten mit Weichteilsarkoma, die sich einer «state of the art firstline»-Palliativtherapie unterzogen, wurden die
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Nebenwirkungen in einem zusammengesetzten Gesamtscore erfasst und mit Patientendaten korreliert (5). Die retrospektive Studie bei einer kleinen Patientenzahl zeigte eine signifikante Assoziation des Mangelernährungsrisikos, erfasst mit dem NRS 2002, der Psoas-Muskel-Dicke, berechnet aus vorhandenen CT-Scans auf der Höhe des 3. Lendenwirbels, der Körpergrösse (BMI) und den Komorbiditäten für die Behandlungstoxizität. Diese ebenfalls in der Schweiz durchgeführte Studie zeigt, wie wichtig und unabdingbar die Integration der Ernährungsintervention als fixer Bestandteil der multimodalen Krebstherapie ist und wie nötig eine standardisierte Erfassung der Muskelmasse für eine erfolgreich individualisierte und optimierte Krebstherapie ist.
Dosierung der Krebstherapeutika sollte Ernährungszustand Rechnung tragen
Die Dosierung von «small index»-Krebsmedikamenten nach Körperoberfläche trägt diesen Erkenntnissen nicht Rechnung. Krebspatienten zeigen eine sehr hohe krankheitsbezogene Malnutrition von bis zu 80 %, die die Körperzusammensetzung und den Ernährungszustand und dadurch auch die Therapietoleranz massiv verändert. Als erster Schritt ist deshalb eine initiale und anschliessend regelmässig durchgeführte Erfassung des Ernährungsrisikos mit möglichst validierten Methoden während der Zeit des Krebsmanagements nötig (6). Der daraus abgeleitete Ernährungsplan, mit dem Bezug zur Körperzusammensetzung und dem Ernährungszustand, muss mit der Krebstherapie abgestimmt werden, um die Wirksamkeit der Therapie zu optimieren und die Toxizität zu minimieren. Der Malnutritionsscore und die nötige, eventuell auch proaktive Ernährungsintervention, angelehnt an existierende und
regelmässig aufdatierte Richtlinien, wie jene der ESPEN (7, 8), erlauben dem Stand der Wissenschaft, entsprechende Ernährungsinterventionen zu definieren und als obligaten und integralen Bestandteil einer erfolgreichen onkologischen Behandlung zu implementieren. Sie wird so patientenzentriert ausgerichtet, was aktuell in einer «common sense»Onkologie international gefordert wird (9).
Multidisziplinäres Team
In den letzten Jahren hat sich die Zusammenarbeit von Onkologie und Ernährung in der Betreuung der Patienten verstärkt und etabliert; sie entwickelt sich interdisziplinär weiter und erlaubt den vermehrten Einbezug des Patienten in die komplexe Krebstherapie, um diese mit einem individuellen Ernährungsbeitrag zu verbessern.
Prof. em. Dr. Dr.hc. Stefan Mühlebach Dept. Pharmazeut. Wissenschaften, Universität Basel E-Mail: stefan.muehlebach@unibas.ch
Referenzen: 1. Schütz P et al.: Individualised nutritional support in medical inpatients at nutri-
tional risk: a randomised clinical trial. Lancet. 2019;393(10188):2312-2321. 2. Bargetzi L et al.: Nutritional support during the hospital stay reduces mortality
in patients with different types of cancers: secondary analysis of a prospective randomized trial. Ann Oncol. 2021;38(8):1025-1033. 3. Bargetzi L et al.: Inflammation reduces the effect of nutritional therapy on clinical outcomes in cancer patients. Ann Oncol. 2021;32(11):1451-1452. 4. Wunderle C et al.: EFFORT-II-Studie – erster Einblick. Was bringt die ambulante Ernährungstherapie nach Spitalentlassung? Schweiz. Zeitschr Ernähr Med 2023;21(2):10-13. 5. Schönenberger KA et al.: Determinants of treatment toxicity in patients with soft tissue sarcomas. Nutr Cancer. 2023;75(8):1638-1645. 6. Reber E et al.: Nutritional Risk Screening in Cancer Patients: the first step toward better clinical outcome. Front Nutr. 2021 Apr 7;8: 603936 doi: 10.3389/ fnut.2021.603936. 7. Arends J et al.: ESPEN guidelines on nutrition in cancer patients. Clin Nutr. 2017;96:11-48. 8. Pironi L et al.: ESPEN Practical Guideline: home parenteral nutrition Clin Nutr. 2023;42:411-430. 9. Booth CM et al.: Common Sense Oncology: outcomes that matter. Lancet Oncol. 2023;24(8):833-835.
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