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20 JAHRE SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE – ONKOLOGIE IM WANDEL
Die Chirurgie des Mamma karzinoms im Verlauf der letzten 20 Jahre
Die chirurgischen Verfahren zur Behandlung von Brustkrebs haben sich in den letzten 20 Jahren grundlegend weiterentwickelt. Der folgende Beitrag skizziert die chirurgische Deeskalation im Bereich der Brust und der Axilla. Des Weiteren wird die veränderte Rolle der Chirurgie im Rahmen eines multidisziplinären Konzeptes zur bestmöglichen systemischen, radioonkologischen und operativen Behandlung der jeweiligen Patientin geschildert.
PETER DUBSKY
SZO 2023; 4: 21–25
Peter Dubsky
Foto: zVg
Brustkrebs ist die häufigste Krebserkrankung der Frau. In der Schweiz erkranken jährlich 6000 und 7000 Frauen daran und etwa jede 7. Frau wird bis zum Ende ihres Lebens eine Brustkrebsdiagnose erhalten. Gerade aufgrund der hohen Inzidenz ist es wichtig, den Wandel in Diagnose und Therapie, aber vor allem bezüglich der Prognose des Mammakarzinoms zu betonen.
Im Frühling dieses Jahres wurde im Vereinigten Königreich die Brustkrebssterblichkeit anhand der Daten von mehr als einer halben Million Frauen evaluiert: Die Frauen waren von 1993 bis 2015 an nicht metastasierten Mammakarzinomen (also «frühen Mammakarzinomen») erkrankt und konnten bis 2020 nachverfolgt werden. Bei einer Diagnose vor 1999 verstarben knapp 15% der Frauen innerhalb von 5 Jahren an Brustkrebs. Patientinnen mit einer Diagnosestellung zwischen 2010 und 2015 zeigten im Vergleich eine Sterblichkeit unter 5% (Abbildung 1) (1). Kaum ein Datensatz bringt den Erfolg wissenschaftlicher Erkenntnis und ihrer klinischen Umsetzung so eindrücklich auf den Punkt: Der Grossteil unserer Patientinnen heute wird nicht an Brustkrebs versterben.
SURGERY OF BREAST CARCINOMA IN CHANGE OVER THE LAST 20 YEARS
Breast- and axillary surgery have undergone profound change during the last 20 years. For the most part, less surgery or smaller resection volumes have led to improved outcomes for many of our patients. In patients with locally advanced disease mastectomy and axillary dissection in combination with irradiation and systemic therapy remain the standard. Deescalation of surgery remains an important goal. However, optimization of local therapy is the true goal and is no longer the responsibility of a single surgeon. Individualized therapy fitted to the need of our patient is a multidisciplinary task.
Keywords: breast cancer, axillary surgery, breast conserving surgery, mastectomy
Die chirurgische Therapie von Brust und Axilla, also die Hauptsäule des kurativen Therapieansatzes des Mammakarzinoms, hat sich in den letzten 20 Jahren eng an die Lokaltherapiepartner der Radio-Onkologie, aber natürlich auch an die systemische Krebstherapie angelehnt und sich dabei grundlegend verändert.
Der Weg zur Brusterhaltung − von Halsted bis zur onkoplastischen Brustoperation
Die Operation nach Halsted darf heute getrost als historisch bezeichnet werden. Sie umfasste die komplette Entfernung der Brust unter Resektion der gesamten Pektoralismuskulatur mit Entfernung der Lymphknoten bis weit medial des M. pectoralis minor: Die ungünstigen kosmetischen Ergebnisse und die sehr hohe Rate an Lymphödemen begründet eine bis heute weit verbreitete Furcht vor Brustkrebs. Seit Anfang der 1970er-Jahre werden mittlerweile weit weniger invasive Formen der Mastektomie durchgeführt. Bis heute erfolgen Mastektomien fast immer unter Mitnahme der Fascia pectoralis, jedoch nur in Ausnahmefällen mit Muskelanteilen. Die Lymphknotenoperationen werden weiter hinten beschrieben.
Die brusterhaltende Therapie (BET) ist in den letzten beiden Jahrzehnten zum bevorzugten chirurgischen Ansatz für Brustkrebs im Frühstadium geworden, da gezeigt wurde, dass sie ähnliche Überlebensraten wie die Mastektomie bietet. Mehrere randomisierte klinische Studien
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Kumulatives Risiko (%)
Brustkrebsmortalität 30
1993–99
2000 – 04 20
2005– 09 10
2010 –15
0 0 2.5 5
10 15 20
Zeit seit Diagnose (Jahre)
Abbildung 1: Outcome in Abhängigkeit vom Zeitpunkt der Diagnose. Adaptiert nach (1).
haben die Gleichwertigkeit der beiden chirurgischen Ansätze in Bezug auf lokale Rückfallraten, entfernte Metastasen und das Gesamtüberleben gezeigt.
Exemplarisch ist sicher die Studie der National Surgical Adjuvant Breast and Bowel Project (NSABP)B-06-Studie (2): Hier wurden 1851 Frauen randomisiert einer Lumpektomie mit Strahlentherapie oder einer totalen Mastektomie zugeteilt. Nach einer medianen Nachbeobachtungszeit von 20 Jahren ergab die Studie keinen signifikanten Unterschied in den Gesamtüberlebensraten zwischen den beiden Gruppen. Eine Reihe von Metaanalysen randomisierter klinischer Studien, die BET mit Mastektomie bei Frühstadiumbrustkrebs verglichen haben, zeigten ähnliche Überlebensraten zwischen den beiden chirurgischen Ansätzen (3). Die verbesserte Lebensqualität und die kosmetischen Ergebnisse, die mit der BET verbunden sind, gelten als signifikante Faktoren, die zu ihrer Anwendung als bevorzugtem chirurgischem Ansatz beigetragen haben. Die BET ermöglicht es Frauen, ihre
Brust zu erhalten und ihr Körperbild zu bewahren, was einen erheblichen Einfluss auf ihr psychosoziales Wohlbefinden haben kann. Es sei erwähnt, dass die wissenschaftliche Evidenz sicher bis Mitte der 1980er-Jahre vorlag − die konsequente klinische Umsetzung dauert bis heute an. Viel Diskussionsstoff haben zeitgenössische Beobachtungen in epidemiologischen Untersuchungen geliefert: In Tabelle 1 zeigen eine Reihe von Datensätzen deutliche Überlebensvorteile für die Brusterhaltung im Vergleich mit der Mastektomie − zum Teil sicher ein statistischer Effekt bei fehlender Vergleichbarkeit, aber natürlich ein gutes Zeichen, dass es zeitgenössischen Chirurgen gut gelingt, Patientinnen für die BET auszuwählen. Eine Weiterentwicklung der BET stellt die Möglichkeit der onkoplastischen Operationen dar. Techniken, die prinzipiell in der kosmetischen oder rekonstruktiven Brustchirurgie zum Einsatz kommen, werden vermehrt eingesetzt: Die unterschiedlichen Verfahren ermöglichen es, mehr Volumen zu resezieren und dabei die Brust neu zu formen bzw. den Defekt komplett zu decken. Ein typisches Beispiel ist die Reduktionsmastopexie. Dabei können oft mehr als 30% des gesamten Gewebes im Rahmen einer Bruststraffung entfernt werden − die Vorteile in Sachen Kosmetik und Bestrahlung liegen auf der Hand. Gleichzeitig machen diese Therapien jedoch häufig Angleichungsoperationen auf der Gegenseite notwendig. Die Morbidität in Verbindung mit dem Eingriff − v.a. Hämatome und Wundrandnekrosen − steigt dabei ebenfalls stark an. Die Rekonstruktion der Brust nach einer Mastektomie hat in den letzten 20 Jahren ebenfalls grundlegende Fortschritte gemacht. Eine detaillierte Ausführung sprengt den Rahmen des Artikelss. Es seien jedoch wenige paradigmatische Veränderungen in Stichworten genannt: ■ Die chirurgischen Techniken der hautsparen-
den Mastektomie (mit oder ohne Mitnahme des Nippel-Areola-Komplexes) erlaubt die Er-
Tabelle 1
Vergleich des Überlebens zwischen Brusterhaltung und Mastektomie
Autor und Jahr
Agarwal 2014
Hartman 2015
Chen 2015
Niederlande 2016, 2017
Zeitraum
1998 bis 2009 1998 bis 2008 2004 bis 2011 1999 bis 2012
Datenquelle Stadium
SEER Norway NCDB Dutch Registry
T < 4 cm, N0–1 T1–2, N0–1 T1–2, N1–3 T1–2, N0–2 n 132’149 13’015 160’880 129’692 Outcome BET+RT 10-JahresBCSS 10-Jahres-OS 94% 86% 8-Jahres-OS 86,5% 11,7-JahresBCSS HR:0,72 Mx 90% 84% 72,3% HR: 1 BCSS: brustkrebsspezifisches Überleben; OS: Gesamtüberleben; BET: brusterhaltende Therapie; RT: Radiotherapie; MX: Mastektomie. Adaptiert nach (4). Mx+RT 83% – 70,4% – 22 SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 4/2023 20 JAHRE SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE – ONKOLOGIE IM WANDEL haltung der ursprünglichen Submammärfalte und ermöglicht damit eine verbesserte Kosmetik der Rekonstruktionen. ■ Die Technik und das Material der prothetischen Rekonstruktion erlaubt immer häufiger Rekonstruktionen in wenigen chirurgischen Schritten. Zunehmend haben rekonstruktive Chirurgen auch Erfolg mit Implantaten, welche vor und nicht mehr hinter den M. pectoralis gelegt werden. ■ Die mikrochirurgische Technik und damit die autologe Rekonstruktion kann mit Gewebe von Bauch, Gesäss oder Oberschenkel durchgeführt werden. Die OP-Zeiten haben sich in den letzten 10 Jahren halbiert und die Langzeit ergebnisse sind in praktisch allen Dimensionen der Lebensqualität der Prothese überlegen. Diese Eingriffe bleiben technisch sehr anspruchsvoll und bedürfen einer hohen Spezialisierung des chirurgischen Teams. Der Weg von der axillären Dissektion zur Sentinel-Lymphknoten-Biopsie Zumindest bis Ende der 1990er-Jahre blieb die axilläre Dissektion, also die Entfernung der axillären Lymphknoten von lateral des M. pectoralis minor bis medial des Muskels (axilläre Level 1–3), die Standardtherapie beim invasiven Mammakarzinom. In vielen Ländern galt die Entfernung von besonders vielen Lymphknoten als Zeichen für chirurgische Qualität. Das Lymphödem des Armes fand wenig Beachtung bei den noch fast ausschliesslich männlichen Chirurgen. Die Deeskalation dieser Therapie erfolgte anhand von mehr als 7 randomisierten Studien (Abbildung 2): Bei der Sentinel-Technik wird nur jener Lymphknoten oder jene Lymphknotengruppe entfernt, die primär den Lymphabfluss der Brust versorgt. Eine einfache Blaufärbung und/oder die Markierung mit radioaktiv markiertem Albumin ermöglicht dabei die Identifikation des Pförtnerlymphknotens (Abbildung 3, Seite 24). In Zusammenschau der Studien ergaben sich ganz wesentliche Schlussfolgerungen für die weitere Lymphknotentherapie bis heute: AATRM IBCSG 23-01 (NSABP 32) NSABP 32 ALMANAC Milan trials SNAC Genoa, GIVOM Addenbrookes ACOSCOG Z11 AMAROS OTOASOR 1995 2000 2010 2017 Abbildung 2: Die Entwicklung der Sentinel-Technik bei zunehmender Tumorlast in den Lymphknoten, adaptiert nach (5). ■ E ine Reihe von Färbungen/Injektionen/ Techniken führen zu sehr ähnlichen Ergebnissen. Die Spezialisierung der Operierenden ist entscheidend für den Erfolg der Technik. ■ Die wichtigste und für unsere Patientinnen erfreulichste Erkenntnis betrifft das chronische Lymphödem des Arms. Die Rate an Lymphödemen konnte sowohl zu frühen Zeitpunkten, aber auch nach mehr als 2 Jahren halbiert werden. Gerade in Fällen, bei denen die komplette axilläre Dissektion und Strahlentherapie in Kombination vermieden werden kann, sind die Vorteile für die Patientin augenscheinlich. ■ Neuere Studien, welche bei 1–3 positiven Sentinel-Lymphknoten die Dissektion mit dem Sentinel ohne weitere OP verglichen, zeigten ganz klar, dass bei einem wesentlichen Anteil der Patientinnen eine invasive Tumorlast in der operierten Achsel verbleibt (Tabelle 2). Es ist somit mehrfach wissenschaftlich belegt, dass eine nicht resezierte Tumorlast in der Axilla nicht zwingend zu einem schlechteren Überleben führt. Es waren Tabelle 2 Verbleibende metastatische Lymphknoten sind nicht mit erhöhter Rezidivgefahr verbunden Anteil der verbleibenden positiven LK Rezidiv nach axillärer Dissektion Rezidiv nach Sentinel Medianes Follow-up (Jahre) Anteil der Brusterhaltung adaptiert nach (5) IBCSG n = 933 13% 0,2% 1% 5 91% AATRM n = 233 13% 1,0% 1,7% 5,1 88% Z0011 n = 856 27% 0,5% 1,1% 9,25 100% AMAROS n = 1425 33% 0,4% 1,2% 6,1 83% OTOASOR n = 474 39% 2% 1,7% 8 84% SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 4/2023 23 20 JAHRE SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE – ONKOLOGIE IM WANDEL diese Studien, welche ein wesentliches Umdenken in der Lokaltherapie der Lymphknoten bewirkt haben. Zunehmend wurde die Lymphknoten-OP als diagnostische und nicht als therapeutische Massnahme wahrgenommen. Derzeit wird in mehreren randomisierten Studien bei Tumoren bis 2 cm die Sonographie der Lymphknoten mit der diagnostischen Sentinel-OP verglichen. Im März 2023 (im Rahmen des St. Gallen Symposiums in Wien) zeigte die italienische SOUND-Studie erstmalig positive Ergebnisse: Die Sonographie war mit einem vergleichbaren Überleben verbunden. Die adjuvanten Therapien in beiden Studienarmen schienen ebenfalls nicht unterschiedlich. Eine klinische Umsetzung der Daten ist sicher nach Klärung der Konsequenzen für die Strahlentherapie zu erwarten (6). Chirurgische Deeskalation nur zusammen mit optimaler Systemtherapie und Strahlentherapie Obwohl die Dokumentation der strahlentherapeutischen Massnahmen (Inklusion des Lymphabflusses in die Therapievolumen) in vielen chirurgischen prospektiven Studien schlecht war, musste schon früh angenommen werden, dass gerade nach Brusterhaltung und Strahlentherapie relevante Anteile der Axilla mitbestrahlt wurden. In neueren Studien mit grösser Tumorlast in der Axilla war das Ziel, einen Teil der Lymphknotenchirurgie durch eine gezielte Applikation von Strahlentherapie zu ersetzen (AMAROS/ OTOASOR-Studie, Abbildung 2). Es waren vor allem diese Studien, welche die Zusammenarbeit der Radio-Onkologie mit den Chirurgie hervorheben. In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig zu betonen, dass praktisch alle wirksamen systemi- Abbildung 3: Ein blau eingefärbter Sentinellymphknoten wird reseziert. Foto: Dubsky schen Therapien das Risiko des lokoregionären Rezidivs senken. Die relative Risikoreduktion (RR) ist dabei fast immer ähnlich gross wie der Einfluss auf die viel öfter zitierte Fernmetastasierung. Gute Beispiele dafür sind die RR der Aromatasehemmer im Vergleich zu Tamoxifen oder auch die Wirkung von Trastuzumab in Kombination mit Chemotherapie. Das Zusammenspiel von systemischer und lokaler Therapie wird jedoch vor allem am Beispiel der präoperativen systemischen Therapien deutlich. Die neoadjuvante – oder auch präoperative – systemische Therapie (NST) hat in den letzten 20 Jahren eine zunehmende Bedeutung in der Behandlung des frühen Mammakarzinoms erhalten. Es ist sehr gut bewiesen, dass hinsichtlich des Überlebens keine Unterschiede zwischen adjuvanter und neoadjuvanter Chemotherapie bestehen. Am ehesten könnte ein kleiner Vorteil für junge Frauen und/oder bei aggressiven Tumoren mit hohen Proliferationsraten bestehen, welche präoperativ statt erst adjuvant behandelt werden. Aus chirurgischer Sicht ermöglicht die NST jedoch neue Möglichkeiten in Brust und Axilla. Die neoadjuvante Therapie und ihr Einfluss auf die Chirurgie der Brust Die neoadjuvante Verabreichung der Chemotherapie ermöglicht im Vergleich zur adjuvanten Gabe eine Verbesserung der Brusterhaltungsrate. Die wesentliche Metaanalyse beschreibt im Durchschnitt eine Erhöhung der BET-Rate von circa 50 auf knapp 65% durch die präoperative Applikation (7). Deutlich rezentere Analysen zeigen noch dazu eine Reihe von Vorteilen für die Brusterhaltung: Im Gegensatz zu den älteren Daten zeigen die neuen, retrospektiven Daten eine Assoziation für ein verbessertes Überleben und ein geringeres Lokalrezidivrisiko nach BET (8). Auch hier ist eine erhebliche statistische Verzerrung bei fehlender Randomisierung zu nennen. Aber es gilt auch hier: Chirurgen sind in der Lage, die Brusterhaltung nach NST zum Vorteil der Frauen einzusetzen. Trotz der insgesamt positiven Datenlage ist die Resektion entsprechend der neuen Grenzen bei geschrumpftem Tumor immer noch nicht durchwegs der Therapiestandard. Eine Reihe von Initiativen haben versucht, mehr Licht auf die Möglichkeit der BET nach NST zu werfen. Darunter auch der Konsensus der «Lucerne Toolbox»: Das Ziel des Konsensus ist es, die Möglichkeit der Brusterhaltung durch Einbezug des gesamten multidisziplinären Teams zu verfolgen (9). Es ist dabei völlig klar, dass von der Diagnose bis hin zur Markierung des Tumors sowie durch die Dynamik der Tumorgrösse völlig neue Voraussetzungen entstehen. Die Aufgaben der Chirurgen werden dabei neu definiert. 24 SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 4/2023 20 JAHRE SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE – ONKOLOGIE IM WANDEL Gerade durch die COVID-19-Pandemie wurde die präoperative Gabe der endokrinen Therapie (ET) in einer Reihe von Ländern mit starker Einschränkung der OP-Kapazität wieder aktuell. Für postmenopausale Patientinnen mit östrogenrezeptorpositiven Tumoren (und ohne relevante Expression von HER2 neu) ist die «neoendokrine» Therapie in einer Reihe von klinischen Studien gut beschrieben: Eine Metaanalyse zeigt, dass die Möglichkeit der BET bei ca. der Hälfte der Mastektomiepatientinnen (zum Zeitpunkt der Diagnose) besteht (10). Die präoperative Gabe einer ET sollte über 6 Monate erfolgen. Die Messung des Tumoransprechens ist aufgrund der sehr langsamen Dynamik anspruchsvoll. Zusätzlich sollte nie vergessen werden, dass es primäre Resistenzen bei der ET gibt und ein Tumorprogress früh erkannt werden muss. Die neoadjuvante Therapie und ihr Einfluss auf die Chirurgie der Axilla Auch die lokale Behandlung der Achsellymphknoten hat durch die NST eine völlig neue Dynamik erhalten. Eine axilläre Metastasierung bei Diagnose spricht oft sehr gut auf NST an. Dies eröffnet die Option, im Rahmen der chirurgischen Therapie weniger Lymphknoten zu entfernen. Die ersten prospektiven Untersuchungen setzten hier die klassische Sentineltechnik ein. Die Studien zeigten deutlich erhöhte falsch-negative Raten; d.h. obwohl der Sentinel keinen Befall zeigte, fanden sich im Resektat der axillären Dissektion positive Lymphknoten. Sowohl die verbesserte radiologische Begutachtung im Verlauf wie auch die chirurgische Technik haben hier neue Optionen eröffnet: Befallene Lymphknoten können zum Zeitpunkt der Diagnose markiert werden. Dies ermöglicht gezielte Resektionen in Kombination mit der Sentineltechnik. Mit der Vielzahl der operativen Techniken (klassische Sentineltechnik versus «gezielte axilläre Dissektionen») in sehr unterschiedlichen klinischen Situationen hat sich erneut die «Lucerne Toolbox» auseinandergesetzt (siehe Linktipp). Zusammenfassung Die Brustchirurgie hat in den letzten 20 bis 30 Jahren sowohl im Bereich der Brust wie auch in der Axilla grundlegende Veränderungen durchlaufen. Die Optimierung der Lokaltherapie erfolgt individuell angepasst an die Bedürfnisse und Vorstellungen der Patientin sowie an die Biologie und Last des Tumors. LINKTIPP LUCERNE TOOLBOX Peter Dubsky ist Gründer der «Lucerne Toolbox», einem Konsensus für die Therapie des Mammakarzinoms und Teil des wissenschaftlichen Komitees der International Breast Cancer Study Group (IBCSG/ETOP). Der detaillierte Konsensus wurde im Juli 2023 in eClinicalMedicine publiziert und kann kostenfrei heruntergeladen werden unter https://authors.elsevier.com/sd/article/S2589-5370(23)00262-6. In vielen Zentren bleibt das chirurgisch tätige Fach (Gynäkologen oder Chirurgen) die zentrale Schaltstelle in der Therapieplanung. Dabei entsteht jedoch ein neues Selbstverständnis: Die Lokaltherapeuten sind Teil eines multidisziplinären Teams und die optimierte und individualisierte Chirurgie erfolgt nicht mehr aufgrund der Entscheidungen einer einzelnen technisch/chirurgisch versierten Person. Die optimierte Therapie bedarf eines eingespielten Teams, das die Patientin von der Bildgebung bis zum letzten Schnitt und darüber hinaus begleitet. Prof. Dr. med. Peter C. Dubsky Brust- und Tumorzentrum der Hirslanden Klinik St. Anna Lützelmattstrasse 3 St. Anna-Strasse 32 CH-6006 Luzern E-Mail: peter.dubsky@hirslanden.ch Referenzen 1. Taylor C et al.: Breast cancer mortality in 500 000 women with early invasive breast cancer diagnosed in England, 1993-2015: population based observational cohort study. BMJ 2023;381:bmj-2022-074684. 2. Fisher B et al.: Twenty-year follow-up of a randomized trial comparing total mastectomy, lumpectomy, and lumpectomy plus irradiation for the treatment of invasive breast cancer. N Engl J Med. 2002;347(16):1233-1241. 3. De la Cruz Ku G et al.: Does Breast-Conserving Surgery with Radiotherapy have a Better Survival than Mastectomy? A Meta-Analysis of More than 1,500,000 Patients. Ann Surg Oncol. 2022;29(10):6163-6188. 4. Gentilini OD et al.: Less is more. Breast conservation might be even better than mastectomy in early breast cancer patients. Breast. 2017; 35:32-33. 5. 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Dubsky P et al.: Breast conservation and axillary management after primary systemic therapy in patients with early-stage breast cancer: the Lucerne toolbox. Lancet Oncology. 2021; 22(1):e18-e28. 10. Spring LM et al: Neoadjuvant Endocrine Therapy for Estrogen Receptor–Positive Breast Cancer; A Systematic Review and Meta-analysis. Jama Oncol. 2016; 2(11):1477-1486. DOI: 10.1001/jamaoncol.2016.1897. SCHWEIZER ZEITSCHRIFT FÜR ONKOLOGIE 4/2023 25