Transkript
Im Fokus: Geriatrische Onkologie
Akute myeloische Leukämie beim älteren Patienten
Adaptierte Therapiestrategien
Während bei jüngeren Patienten mit akuter myeloischer Leukämie (AML) in den letzten Jahrzehnten eine kontinuierliche Verbesserung des Gesamtüberlebens erreicht werden konnte, stellt die Behandlung bei älteren Patienten weiterhin eine grosse Herausforderung dar. Der Artikel gibt einen Überblick über die aktuellen therapeutischen Konzepte bei älteren AML-Patienten. Zusätzlich werden die in der Schweiz derzeit aktiven klinischen SAKK-Studienprotokolle vorgestellt.
GEORG STÜSSI, BERNHARD GERBER
SZO 2016; 5: 10–14.
Georg Stüssi Bernhard Gerber
Die AML ist eine Erkrankung des älteren Menschen mit einem mittleren Alter bei Diagnose von 67 bis 70 Jahren (1). Während bei jüngeren Patienten die Therapieresultate in den letzten Dekaden klar besser geworden sind, bleibt das Überleben bei älteren Patienten ungünstig, und es besteht ein deutlicher Verbesserungsbedarf in dieser Altersgruppe (2, 3). Das Spektrum der Behandlung von älteren Patienten mit AML reicht von einer strikt supportiven Therapie, welche als primäres Ziel die Verbesserung der Lebensqualität ohne chemotherapeutische Behandlung der Leukämie hat, bis hin zu einer intensiven Chemotherapie mit allogener Stammzelltransplantation (4). Eine gute Patientenselektion ist dabei von grösster Bedeutung und stellt im klinischen Alltag häufig eine grosse Herausforderung dar.
Unterschiede zwischen jüngeren und älteren AML-Patienten
Die Behandlung von älteren Patienten ist aus verschiedenen Gründen schwieriger als jene bei jünge-
ABSTRACT
Acute myeloid leukemia of the elderly patient
The acute myeloid leukemia (AML) is a disease of the elderly patient with a median age at diagnosis of 67–70 years. While the treatment results in younger patients have substantially improved during the last decades, the outcome of elderly patients is still unsatisfactory and there is an unmet need for improvement. The therapeutic options range from best supportive care with the primary scope to improve quality of life without treating the underlying disease to intensive chemotherapy followed by allogeneic hematopoietic stem cell transplantation. Patient selection is of primordial importance in the elderly patient population and remains very challenging in clinical routine. This article aims to give an overview about the current options in the treatment of elderly AML patients. Moreover, it shows the current clinical study protocols for these patients in Switzerland.
ren Patienten. Dabei spielen sowohl krankheits- als auch patientenassoziierte Faktoren eine Rolle, denn: L Es werden vermehrt sekundäre Leukämien nach
vorgängiger Chemo- und/oder Radiotherapie diagnostiziert (therapieassoziierte myeloische Neoplasien). Auch vorgängige hämatologische Erkrankungen wie beispielsweise ein myelodysplastisches Syndrom oder eine myeloproliferative Neoplasie sind mit einem höheren Risiko für eine sekundäre AML assoziiert. Die Inzidenz von Sekundärleukämien in der Patientengruppe über 60 Jahre liegt bei zirka 30 bis 40% aller AML-Krankheitsfälle, während sie bei jüngeren Patienten bei 10 bis 20% liegt (1). L Die Häufigkeit von genetischen Veränderungen, die mit einer guten Prognose assoziiert sind, nimmt im Alter ab, während ältere Patienten häufiger genetische Veränderungen aufweisen, die mit einer schlechteren Prognose assoziiert sind (z.B. Monosomie 7 oder Monosomie 5) (5, 6). L AML bei älteren Patienten ist häufiger mit einer «multidrug resistance» (MDR) assoziiert. Dieser Phänotyp führt zu einer vermehrten Resistenz gegenüber der verabreichten Chemotherapie (7). L Ältere Patienten weisen häufiger Komorbiditäten auf, die zu einer vermehrten therapieassoziierten Morbidität und Mortalität führen (8).
Diagnostik bei älteren Patienten
Grundsätzlich sollten keine Unterschiede in der Diagnostik zwischen jüngeren und älteren Patienten gemacht werden. Dies bedeutet, dass auch bei älteren Patienten eine vollständige Abklärung inklusive Knochenmarkspunktion, Zytogenetik und Molekularbiologie durchgeführt werden sollte. Eine reduzierte Diagnostik (z.B. nur peripheres Blut oder Verzicht auf
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Komplette Diagnostik inklusive Zytogenetik/molekulare Diagnostik, Komorbiditäten, soziale Situation des Patienten, Patientenwunsch
Intensive Therapie möglich
Prognostisch Hoch-Risiko Pro l
Intensive Therapie nicht möglich
HOVON 103 Studie Standardinduktionstherapie
Patient potenziell Kandidat für eine allogene Stammzelltransplantation
Ja
HOVON 103 Studie Standardinduktionstherapie
Abklärung allogene Stammzelltransplantation
Abklärung allogene Stammzelltransplantation
Abbildung: Therapiealgorithmus für ältere AML-Patienten
Nein
HOVON 135 Studie Hypomethylierende Substanzen
Low-dose Ara C Experimentelle Therapien
die zytogenetischen und molekularbiologischen Untersuchungen) ist aus unserer Sicht nicht zu empfehlen, da nur die Integration aller Resultate zu einer adäquaten Beurteilung der Behandlungsindikation und damit auch zu einer adäquaten Beratung der Patienten führen kann. Ein wichtiger Unterschied zwischen jüngeren und älteren Patienten ist jedoch die Dringlichkeit, mit der eine Behandlung begonnen werden sollte. Während bei jüngeren Patienten die Therapie sobald wie möglich begonnen werden sollte, kann bei den meisten älteren AML-Patienten gewartet werden, bis alle Resultate eingetroffen sind, sofern keine akute Behandlungsindikation besteht (z.B. aktivierte Gerinnung, Leukostase). Im Gegensatz zu jüngeren Patienten hat die Zeit von der Diagnose bis zum Therapiebeginn bei älteren Patienten keinen Einfluss auf das Überleben (9).
Risikobeurteilung und Therapieentscheidungen bei älteren Patienten
Die Auswahl von älteren Patienten, die für eine intensive Chemotherapie geeignet sind, ist häufig schwierig. Zytogenetische und molekularbiologische Resultate sowie Komorbiditäten und der Patientenwunsch sollten in die Entscheidung miteinbezogen werden (4). Unbedingt sollten auch die Ziele der verschiedenen Therapieoptionen mit den Patienten und ihren Familienangehörigen besprochen werden. In diesem Punkt bestehen häufig Missverständnisse und unterschiedliche Erwartungen zwischen Arzt und Patienten (10). Idealerweise sollte es zu einer «shared decision» zwischen dem Arzt, dem Patienten und den Familienangehörigen kommen. Verschiedene Risikoscores haben die systematische Beurteilung von patienten- und krankheitsspezifi-
schen Faktoren implementiert, mit dem Ziel, die Wahrscheinlichkeit eines Therapieansprechens sowie der therapieassoziierten Mortalität zu berechnen (11–14). Es empfiehlt sich, bei allen älteren Patienten einen solchen Score zu berechnen, um die Risiken einer intensiven Therapie bestmöglich zu objektivieren. Einige dieser Scores sind auch in webbasierten Applikationen erhältlich und relativ einfach zu evaluieren (http://www.aml-score.org). Obwohl alle Scores auf retrospektive Daten basieren und deshalb einen Bias enthalten, können sie in der Beratung sehr hilfreich sein. Die Abbildung zeigt einen möglichen Entscheidungsalgorithmus für ältere AML-Patienten (4). Bei älteren Patienten ohne wesentliche Komorbiditäten sollte eine intensive Chemotherapie als erste Therapieoption evaluiert werden. Insbesondere, wenn es sich um Leukämien mit sogenannten «Gut-Risiko-genetischen Veränderungen» handelt. Dies gilt zum Beispiel für Patienten mit t(8;21) und inv(16)/t(16;16), welche auch bei älteren Patienten mit einer besseren Prognose assoziiert sind (15). Auch Patienten mit positivem NPM1 in Abwesenheit von Flt3 oder Patienten mit doppelmutiertem CEBPA sollten, wenn immer möglich, eine intensive Chemotherapie erhalten. Zusätzlich zu den gut etablierten molekularen Marken wurde in den letzten Jahre eine Vielzahl von neuen molekularen Marken entdeckt, deren Bedeutung bei älteren Patienten jedoch noch nicht vollständig geklärt ist (16, 17).
Intensive Chemotherapie Die intensive Chemotherapie ist in den letzten Jahren auch bei älteren Patienten in den meisten Zentren zum Standard geworden. Die Überlegenheit der intensiven Chemotherapie im Vergleich zu supporti-
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ver Therapie oder niedrig intensiver Therapieoptionen konnte in einer randomisierten Studie und in einer populationbasierten schwedischen Studie gezeigt werden (8, 18, 19). Patienten mit intensiver Therapie hatten ein längeres Gesamtüberleben und mussten erstaunlicherweise auch weniger lange hospitalisiert werden als Patienten mit palliativen Therapien oder «Best-Supportive Care» (BSC). Deshalb sollten alle Patienten mit einer akuten Leukämie durch ein spezialisiertes Zentrum bezüglich Therapieoptionen evaluiert werden. Zumindest bei den «jüngeren» älteren Patienten sollte eine allogene Stammzelltransplantation diskutiert werden, auch wenn hierfür prospektive Studiendaten fehlen. Genetische Veränderungen mit der Folge einer neuen Hochrisikosituation führen häufig zur Entscheidung, keine intensive Therapie durchzuführen, da die Aussicht auf eine komplette Remission und ein längerfristiges krankheitsfreies Überleben nur sehr gering ist. Falls trotzdem eine intensive Chemotherapie versucht wird, sollte dies wenn immer möglich in Verbindung mit einer allogenen Stammzelltransplantation gemacht werden. Falls diese Möglichkeit a priori ausgeschlossen wird, ist eher eine nicht intensive Therapie zu empfehlen. Falls eine intensive Chemotherapie aufgrund der Komorbiditäten oder des Patientenwunsches ausgeschlossen wird, ist eine niedrig intensive Therapie gegenüber einer reinen BSC-Strategie zu bevorzugen. In verschiedenen Studien konnte gezeigt werden, dass niedrig dosiertes Zytarabine und hypomethylierende Substanzen einen Überlebensvorteil gegenüber BSC und Hydroxyurea aufweisen (20–22).
Klinische Studienlandschaft hinsichtlich AML bei älteren Patienten in der Schweiz
In der Schweiz werden die meisten jüngeren AMLPatienten innerhalb von klinischen Studien behandelt, und die Behandlung im Rahmen einer klinischen Studie wird mit einem besseren klinischen Outcome assoziiert (23). Für die AML-Studien besteht in der Schweiz eine sehr gute Zusammenarbeit mit der niederländischen HOVON-Gruppe (HOVON-SAKK), die im Laufe der Jahre zu wichtigen Publikationen geführt hat. In den letzten Jahren hat sich diese Studiengruppe kontinuierlich vergrössert und zu einem internationalen Konsortium von verschiedenen «kleinen» europäischen Ländern entwickelt. Zurzeit werden die klinischen Studien in Zusammenarbeit mit den Niederlanden, Belgien, Luxemburg, Schweden, Norwegen, Finnland, den baltischen Staaten und einigen europäischen Einzelzentren durchgeführt. Im Rahmen dieser Studien werden «ältere Patienten» als über 65-jährig definiert. Ältere Patienten, welche fit für eine intensive Therapie sind, können innerhalb einer randomisierten Phase-II-Studie behandelt wer-
den (HOVON 103). Diese Studie ist nach dem «Picka-winner-Design» aufgebaut (24). Die Standardtherapie in diesem Protokoll ist eine klassische Induktionstherapie nach dem 3+7-Schema, dem ein Konsolidationszyklus mit intermediär dosiertem Cytosar folgt. Dieser Therapie können verschiedene experimentelle Substanzen zugefügt werden. Das Design erlaubt es, auch verschiedene experimentelle Substanzen gleichzeitig zu untersuchen. Sollte ein Studienarm ein positives Resultat bringen, kann die experimentelle Substanz in einer Phase-III-Studie weiter geprüft werden («winner»). Die nächste experimentelle Substanz ist Selinexor, eine «First-inclass»-Substanz, welche den Export von Tumorsuppressorgenen aus dem Zellkern verhindert und dadurch eine bessere Tumorkontrolle bewirkt (25, 26). Ältere Patienten, welche für eine intensive Therapie nicht genügend «fit» sind oder die eine niedrig intensive Therapie bevorzugen, können seit kurzer Zeit ebenfalls im Rahmen einer klinischen Studie behandelt werden (HOVON 135). Dies bedeutet einen wichtigen Fortschritt in der Behandlung von älteren AML-Patienten. Insgesamt kommen etwa zwei Drittel aller älteren Patienten nicht für eine intensive Therapie infrage (27). Diese wurden bisher meist ausserhalb von klinischen Studien behandelt. Gleichzeitig ist es aber auch eine Patientengruppe mit Überlebensdaten, welche nicht zufriedenstellen, weshalb eine Verbesserung der Therapie dringend notwendig ist. Die HOVON-135-Studie basiert auf einer Standardtherapie mit Decitabine, welches jedoch nicht wie sonst üblich über 5 Tage, sondern über 10 Tage verabreicht wird. Als experimentelle Substanz wird die Zugabe von Ibrutinib getestet, welches in der Behandlung von verschiedenen lymphatischen Erkrankungen zugelassen ist. Experimentelle Daten haben aber kürzlich auch eine Wirksamkeit bei AML-Zellen gezeigt (28, 29). Wie bei der HOVON-103-Studie handelt es sich um ein «Pick-a-winner-Design», in dem verschiedene experimentelle Substanzen parallel untersucht werden können.
Behandlung ausserhalb von klinischen Studien Patienten, welche genügend fit für eine intensive Chemotherapie sind, sollten grundsätzlich analog zu den aktuellen Studienprotokollen behandelt werden. Patienten, welche nicht für Studienprotokolle qualifizieren, stehen verschiedene Möglichkeiten offen. Niedrig dosiertes subkutanes Cytosar wird seit Jahrzehnten verwendet und zeigte gegenüber «Best Supportive Care» wie erwähnt einen leichten Überlebensvorteil. Das Hauptproblem dieser Therapie ist jedoch, dass die subkutane Verabreichung über 10 Tage (1–2 x täglich) durchgeführt werden muss und für ältere Patienten eine Herausforderung darstellen kann.
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In den letzten Jahren haben sich zunehmend hypomethylierende Substanzen (Azacytidine, Decitabine) durchgesetzt. Diese konnten eine Verbesserung des Gesamtüberleben sowie der Lebensqualität bei Patienten mit MDS zeigen (30). Verschiedene Studien untersuchten die Relevanz dieser Medikamente bei AML-Patienten und konnten einen leichten Überlebensvorteil zeigen (31–33). Sie werden deshalb in vielen Zentren standardmässig bei AML-Patienten ausserhalb von Studien verwendet. Es ist jedoch zu beachten, dass die Wirkung der Therapie eventuell erst verzögert eintritt, weshalb vor allem schnell proliferative AML-Patienten meist nicht davon profitieren.
Hämatopoietische Stammzelltransplantation
Die hämatopoietische Stammzelltransplantation ist eine wichtige Option für die Post-Remissionstherapie bei AML-Patienten mit intermediärer bis ungünstiger Prognose (34). Während die Stammzelltransplantation bei jüngeren Patienten die beste Heilungsmöglichkeit bietet, ist der Therapieerfolg bei älteren Patienten durch die relativ hohe Toxizität und die daraus folgende hohe transplantassoziierte Morbidität und Mortalität limitiert. Dies konnte zumindest teilweise durch die Einführung reduziert intensivierter Konditionierung verbessert werden (35, 36). Verschiedene Studien zeigten, dass eine solche Konditionierung besser toleriert wird und auch bei älteren Patienten Langzeitremissionen induzieren kann. Es gibt jedoch keine randomisierten Daten zur Rolle der allogenen Stammzelltransplantation bei älteren Patienten. Zurzeit wird diese Frage in einer randomisierten europäischen Studie untersucht, welche bei älteren AML-Patienten mit einem verfügbaren Spender eine 2:1-Randomisierung zwischen den Strategien «Transplantation» und «watch and wait» verfolgt.
Zusammenfassung
Bei älteren AML-Patienten besteht ein deutlicher
Verbesserungsbedarf der Therapieoptionen. Dies
gilt sowohl für die intensive als auch für die nicht in-
tensive Chemotherapie. Generell ist es sinnvoll, dass
Patienten in klinischen Therapieprotokollen behan-
delt werden. Zurzeit sind für die meisten AML-Pati-
enten internationale Therapieprotokolle offen, wel-
che in allen Schweizer Leukämiezentren angeboten
werden können.
L
PD Dr. med. Georg Stüssi (Erstautor; Korrespondenzadresse) E-Mail: Georg.Stuessi@eoc.ch
Dr. med. Bernhard Gerber
Servizio di Ematologia Istituto Oncologico della Svizzera Italiana 6500 Bellinzona
Interessenkonflikte: keine.
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