Transkript
Im Fokus: Hereditäre Malignome
«Mit an Unsicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit»
Ethische Herausforderungen der genetischen Risikoprädiktion
Was im einen Fall einen begrüssenswerten Zuwachs an Wissen bedeutet, der sogar lebensrettend sein kann, kann im anderen Fall verunsichern und verstören. Da vorschnelle und mangelhaft kommunizierte genetische Risikoprädiktion auch die Lebensqualität einschränken und dazu führen kann, dass aus gesunden Menschen «Noch-nicht-Erkrankte» werden, sind hier besondere ärztlich-ethische Umsicht und ein erhöhtes Mass an persönlicher Beratung gefordert.
TOBIAS EICHINGER
SZO 2016; 1: 20–22.
Tobias Eichinger
In der Regel bedeutet mehr Wissen einen Mehrwert. Gerade in der Medizin und gerade in der prädiktiven onkologischen Diagnostik und Früherkennung gilt dieser Grundsatz. So können aufgrund rechtzeitiger Untersuchungen Befunde erhoben werden, die es der betroffenen Person möglich machen, entsprechend zu reagieren und das eigene Erkrankungsrisiko durch präventives Verhalten und Vorsorgeuntersuchungen zu minimieren. Im Zuge der Entwicklung und Verbesserung von Methoden der sogenannten Systemmedizin, in der unterschiedliche Ansätze der biomarkerbasierten Medizin, der umfassenden Datengewinnung und Verknüpfung mit Informationen zu Lebensstil und Umweltfaktoren zusammengeführt werden, um möglichst genaue und personalisierte Vorsorge- und Behandlungskonzepte zu entwickeln, werden hier bedeutende Fortschritte erwartet, und es sind damit grosse Hoffnungen verknüpft. Vor allem, wenn es um die Ermittlung von Risiken für vererbbare Tumorerkrankungen geht, die damit immer auch mehrere Menschen betreffen können, bietet sich eine systematische Herangehensweise an, die möglichst viele Daten miteinbezieht. Je mehr dann über die individuellen Genprofile, Krankheitsgeschichten und Lebensgewohnheiten der einzelnen Familienmitglieder bekannt ist, umso fokussierter
Merkpunkte
L Genetische Risikoprädiktion ist nicht immer empfehlenswert. L Bereits die Entscheidung zum Gentest muss gewissenhaft erwogen werden. L Mit einem Zuwachs an Diagnosemöglichkeiten steigt die ärztliche Verant-
wortung.
L Mit einem Zuwachs an Wissen steigen die Anforderungen an die Aufklärung.
und besser können individuell angepasste Präventionsmassnahmen angeboten und durchgeführt werden.
Mehr wissen bedeutet oft entscheiden müssen
Mehr zu wissen, kann also im Bereich der Tumorfrüherkennung und -vorsorge Leben retten. Mehr wissen zu wollen, ist dann zweifelsohne wichtig und
Die Möglichkeit der prädiktiven Diagnostik zur personalisierten Krebsvorsorge wirft ethische und psychosoziale Fragen auf.
richtig. Doch wirft die Möglichkeit der prädiktiven Diagnostik zur personalisierten Krebsvorsorge auch ethische und psychosoziale Fragen und Probleme auf. Dies zeigen Fälle, in denen die Gleichung «mehr Wissen gleich mehr Gesundheit» eingeschränkt und relativiert werden muss, es sind sogar Konstellationen denkbar, in denen sich dieser Grundsatz in sein Gegenteil verkehren kann. Denn mit umfassenderem und präziserem Wissen ergibt sich zwangsläufig ein Zuwachs an möglichen Handlungsoptionen. Und mit einer solcherart erweiterten Palette von Möglichkeiten steigt auch der Druck der Entscheidung. Nicht nur gilt es, die richtige Entscheidung zu treffen, vielmehr entsteht und wächst mit dem Wissen auch der Druck, überhaupt zu entscheiden. Klinische Handlungs- und Behandlungsentscheide zu fällen, obwohl noch keine Symptome aufgetreten sind, kann zwar in präventiver Hinsicht sinnvoll sein, ist aber nicht selbstverständlich und ohnehin eine Herausforderung.
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Im Fokus: Hereditäre Malignome
Risiken können Angst machen
Risikoprädiktion liefert stets nur Wahrscheinlichkeiten und kann nie gesicherte Aussagen treffen, geschweige denn prognostische Verläufe garantieren. Das ist in der Medizin nichts Ungewöhnliches – jedes ärztliche Handeln, auch wenn es (im Idealfall) auf wissenschaftlicher Erkenntnis und Evidenz basiert, ist nicht mehr als die Anwendung dieser validen Erkenntnis und von professioneller Erfahrung im stets individuellen Einzelfall. Streng genommen können dabei weder Effekt noch Erfolg garantiert werden (ein Grund übrigens, warum für die Medizin eigene ethische Prinzipien und Leitwerte so wichtig sind). Wohnt also bereits jedem therapeutischen Behandlungsschritt etwas beinahe Experimentelles inne – das sich dann aber in aller Regel im weiteren Verlauf als richtig und sinnvoll bewährt –, ist die Grundlage prädiktiver Vorsorgemedizin prinzipiell eine Situation der Unsicherheit. Gerade wenn es um gesundheitliche Belange geht, die dabei nicht selten als lebensbedrohlich wahrgenommen werden, führt Unsicherheit schnell zu wilden Spekulationen, nagenden Zweifeln und tief sitzenden Ängsten. In dieser Gemengelage steigen die Anforderungen an die Arzt-Patient-Kommunikation und die Auf-
In dieser Gemengelage steigen die Anforderungen an die Arzt-Patient-Kommunikation und die Aufklärung enorm.
klärung enorm. Gerade wenn der Anlass und der Auslöser ärztlichen Tuns nur in Form abstrakten Wissens vorliegen, wenn auf Daten und Werte reagiert werden soll, die von der betreffenden Person nicht direkt wahrgenommen werden können, sondern die nur von Fachleuten erhoben wurden, denen dabei jede körperlich erfahrbare Ebene fehlt, ist die Vermittlung und Interpretation dieses Wissens entscheidend. Und bereits die Frage, ob entsprechendes Wissen gewonnen werden soll, ob also überhaupt diagnostische Massnahmen ergriffen werden sollen, ist keine simple Frage der medizinischen Vernunft oder der freien Entscheidung des Patienten. So stellt es eine der grossen Herausforderungen an die prädiktive Diagnostik dar, zu entscheiden, ob es verantwortet werden kann, prädiktive Aussagen über Dispositionen und Erkrankungsrisiken zu treffen, für deren Behandlung keine effektiven Therapieoptionen bestehen. Noch bevor also geklärt werden kann, ob ein Patient zu einer bestimmten Risikogruppe gehört oder nicht, (also auch noch vor der schwierigen Aufgabe, wie das Testergebnis kommuniziert werden kann und soll), muss die Frage beantwortet werden können, was mögliche Resultate für den Betreffenden bedeuten
würden, wie mit ihnen umgegangen werden kann und welche realistischen Optionen überhaupt zur Verfügung stehen, falls der Befund positiv ausfällt.
Personalisierte Medizin braucht personalisierte Beratung
Das Wissen um die eigene genetische Kondition kann im einen Fall beruhigend wirken, zu einem gesteigerten Gesundheitsbewusstsein und einer verantwortungsvollen Lebensführung beitragen. Es kann aber auch zu einem Zustand andauernder Selbstbeobachtung, tief gehender Verunsicherung und sogar moralischer Belastung oder Stigmatisierung führen. In vielen Fällen steht das Bedürfnis nach Hilfe und Rat im Zentrum, wenn Zweifel und Unsicherheiten beseitigt und Fehlentscheidungen vermieden werden sollen. Der überwiegende Teil der Patientinnen und Patienten sind Laien, was das Verständnis und die Interpretation von genetischem Wissen angeht. Was bedeutet es beispielsweise für
Welche Konsequenzen soll die Information nach sich ziehen, dass man Träger einer genetischen
Mutation mit einem Manifestationsrisiko von 10% ist?
eine 30-jährige Patientin, dass sie mit einer 40%igen Wahrscheinlichkeit in einem Alter zwischen 50 und 70 einen Darmtumor entwickeln wird? Was heisst es, mit einem 25%igen Risiko für ein hereditäres Malignom zu leben? Welche Konsequenzen soll die Information nach sich ziehen, dass man Träger einer genetischen Mutation mit einem Manifestationsrisiko von 10% ist? Ist es überhaupt sinnvoll, eine Erkrankungswahrscheinlichkeit von 10% als Risiko zu bezeichnen? Zunächst scheint erweitertes Wissen auch in prädiktiven onkologischen Fragen für viele Menschen einen Zugewinn zu bedeuten. Als Grundlage für ein selbstbestimmtes Leben können Informationen über die eigene genetische Veranlagung mitunter ebenso bedeutsam sein wie das Wissen um die familiäre Herkunft. So kann auch im Fall von risikoreichen Prädispositionen die Lebensqualität allein durch den Umstand, davon zu wissen, verbessert werden. Dies scheint allerdings nicht zuletzt auch eine Frage des persönlichen Charakters und des individuellen Umgangs mit Gesundheitsfragen zu sein. So wird es für einen Patienten, der sich und seine körperlichen Parameter mit Apps und Health-Software rund um die Uhr misst und überwacht, ebenfalls sehr wichtig sein, auch möglichst umfassend und präzise über seine genetischen Krebsrisikofaktoren aufgeklärt zu sein. Dies gilt ganz unabhängig davon, ob diese nun gravierend oder harmlos ausfallen, und eventuell auch unabhängig davon, ob im Fall eines erhöhten Risikos
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entsprechende medizinische Möglichkeiten existieren, darauf zu reagieren.
Das schwierige Verhältnis von Befund und Befinden
In jedem Fall ist es eine zentrale Aufgabe der genetisch-ärztlichen Sprechstunde, im Rahmen einer individuellen Beratung zunächst all die psychosozialen Faktoren zu berücksichtigen, welche die Vorstellungen und Erwartungen prägen, die der Patient von genetischen Informationen hat. Warum wird überhaupt die Früherkennung explizit eingefordert? Waren etwa Presseberichte über spektakuläre Präventionsmassnahmen wie die prophylaktische Mastektomie Auslöser? Gibt es zusätzliche psychische Faktoren, die das Bedürfnis nach genetischer Diagnostik und Abklärung beeinflussen und die eventuell gar nichts mit erblichen Faktoren und Erkrankungsrisiken zu tun haben? Gibt es Angehörige, deren Einfluss oder Vorbild die klinische Genetik notwendig erscheinen lassen? Steht der Wunsch nach Abklärung im Zusammenhang mit einer anstehenden Familienplanung? Nur wenn der Patient in seiner individuellen Lage mit all seinen verschiedenen möglichen Einflussfaktoren und Erwartungshorizonten angemessen erfasst wird, bevor genetische Daten erhoben und weitergegeben werden, kann eine adäquate Aufklärung geleistet und so die Grundlage für eine tragfähige Ent-
scheidungsfindung geschaffen werden. Bei allem Po-
tenzial innovativer und optimierter Diagnosetechno-
logien sollte nicht die spezifische Dynamik ausser
Acht gelassen werden, die immer präziseren Metho-
den der Datenerhebung zu eigen ist: Das Diktum
«Wissen ist Macht» ist im Rahmen der Krebsfrüher-
kennung in der Abwandlung «Je früher und je mehr
erkannt wird, umso mehr kann getan und vermieden
werden» sehr populär und mächtig. Doch darf dies
nicht dazu führen, dass unkritisch und unterschieds-
los alle verfügbaren genetischen Informationen er-
hoben und mitgeteilt werden, wenn voreilige und
letztlich schädliche Massnahmen vermieden werden
sollen. Eine genetische Risikoprädiktion mit Augen-
mass darf bei aller personalisierten Präzision und Va-
lidität des Befundes das Befinden des Patienten nicht
aus dem Blick verlieren.
L
Dr. phil. Tobias Eichinger Institut für Biomedizinische Ethik und Medizingeschichte Universität Zürich Winterthurerstrasse 30 8006 Zürich E-Mail: eichinger@ethik.uzh.ch
Literatur beim Verfasser. Interessenkonflikte: keine.
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