Transkript
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Urininkontinenz – eine Übersicht für die Praxis
Teil 1*: Inkontinenzformen und Differenzialdiagnostik
Die Harninkontinenz ist eine der häufigsten Erkrankungen der Frau. Sie ist geprägt von einem hohen Leidensdruck und beeinträchtigt die Lebensqualität. Die Betroffenen nehmen häufig sehr spät ärztliche Hilfe in Anspruch. Dabei ist eine zeitnahe therapeutische Hilfe möglich.
IRENA ZIVANOVIC
Irena Zivanovic
Die Urin- oder die Harninkontinenz ist eine der häufigsten Erkrankungen der Frau. So liegt die Prävalenz der Urininkontinenz bei Frauen zwischen 30 und 49 Jahren bei 17% und zwischen 60 und 79 Jahren bei 23%, bei den über 80-jährigen sind mehr als 50% betroffen (1). Die Inkontinenz schafft Verunsicherungen durch häufige hygienische und soziale Probleme und kann bis zum Rückzug aus dem gesellschaftlichen Leben führen. Besonders in der Altenpflege verursacht sie hohe Kosten. Häufig nehmen die Betroffenen sehr spät ärztliche Hilfe in Anspruch. Gerade ältere Frauen sind der Meinung, dass die Symptomatik zum Alter dazugehört. Inkontinenzprobleme werden nach wie vor tabuisiert: vonseiten der Patientinnen aus Scham, vonseiten der Ärzte aus einer gewissen Hilflosigkeit.
Formen der Harninkontinenz
Die häufigsten Inkontinenzformen der Frau sind:
* Teil 2: Therapien bei Belastungsinkontinenz und bei überaktiver Blase. In: GYNÄKOLOGIE 2022; 3. www.ch-gynaekologie.ch – Ausgabe 3.2022
Merkpunkte
n Harninkontinenz, Blasen- und Intimbeschwerden gehören zu den häufigsten Frauenleiden, können bei jungen und älteren Frauen auftreten und sind häufig multifaktoriell.
n Die Basisdiagnostik besteht aus gezielter Anamnese, Infektausschluss, Resturinbestimmung und dem Führen eines Trink-/Miktionskalenders.
n Erfolgreiche Therapien urogynäkologischer Krankheiten bauen auf multimodalen Stufenkonzepten auf, welche individuell auf die Patientin zugeschnitten sind:
Zunächst erfolgen konservative Massnahmen (z. B. Verhaltenstherapien, Führen eines Miktionskalenders, Intimpflege und Physiotherapie).
n Ein Grundbaustein der Therapie stellt die Medikation mit Anticholinergika und mit Beta-3-Mimetika dar.
n Bei Versagen der Basistherapie, komplexen Beschwerden der Harninkontinenz und vor einer operativen Therapie ist die Überweisung der Patientin an ein urogynäkologisches Zentrum erforderlich.
n Belastungsinkontinenz (bis 50% der Betroffenen) und
n hyperaktive Blase/Dranginkontinenz (20–30%), wobei
n Mischformen häufig vorkommen (20–30%).
Seltenere Inkontinenzformen sind: n Überlaufinkontinenz, z. B. durch eine Obstruktion
(Prolaps), postoperativ oder eine periphere Blasendenervierung (unter 10%), n Reflexinkontinenz, z. B. aufgrund Multipler Sklerose, Alzheimer, Demenz oder Parkinson (unter 10%), sowie n extraurethrale Inkontinenz, z. B. bei vesikovaginalen Fisteln. Mit zunehmendem Alter nimmt die Inzidenz der Belastungsinkontinenz ab und jene der Dranginkontinenz zu. Dieser Artikel fokussiert auf die beiden häufigsten Inkontinenzformen: die Belastungs- und die Dranginkontinenz. Die Prävalenzen dieser Inkontinenzformen zeigt Abbildung 1 (2).
Belastungsinkontinenz
Urinverlust bei körperlicher Anstrengung, aber auch bei Husten, Niesen, Lachen, Heben von Lasten oder Sport wird als Belastungsinkontinenz bezeichnet. Bei dieser Form der Urininkontinenz besteht eine Beckenbodenschwäche respektive ein zu tiefer Harnröhrenverschluss gegenüber dem intravesikalen Druck. Je nach Schweregrad der Inkontinenz geht dann Urin in Form von Tropfen, Spritzern oder eines Schwalls verloren. Die Ursachen der Muskel- und Bindegewebeschwäche sind vielfältig. Geburten, Adipositas und/oder starke intraabdominale Druckanstiege durch chronischen Husten oder Obstipation führen zu einer Überbelastung der Beckenbodenmuskulatur. Fehlendes Beckenbodentraining, Gewebeatrophie infolge eines Hormonmangels sowie altersbedingte, degenerative Veränderungen können dazu beitragen.
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Hyperaktive Blase (Dranginkontinenz, Reizblase)
Die Reizblase, auch hyperaktive Blase (OAB = overactive bladder) genannt, ist die zweithäufigste Form der Harninkontinenz. Die OAB wird gemäss ICS (International Continence Society) definiert als Symptomkomplex aus imperativem Harndrang, Pollakisurie (> 8/24 Stunden) und Nykturie (> 1/Nacht), welcher mit Harnverlust (OAB wet) oder ohne Harnverlust (OAB dry) auftreten kann (2). Pathophysiologisch liegt der Dranginkontinenz meist eine Überaktivität des Detrusors zugrunde. Die Detrusorhyperaktivität wiederum hängt von verschiedenen Faktoren ab, am häufigsten ist sie jedoch idiopathisch. Weitere Ursachen für die Reizblase sind rezidivierende Harnwegs- und Genitalinfektionen, urogenitale Atrophie und Senkungszustände wie Zystozele (durch permanente Reizung der Blasenwandrezeptoren). Blasentumoren, Fremdkörper in der Blase, Urethraobstruktionen, interstitielle Zystitis (Persistenz typischer Infektsymptome bei keimfreiem Urin) und Stoffwechselkrankheiten wie Diabetes mellitus können ebenfalls kausal sein. Die Dranginkontinenz kann unter anderem Erstsymptom einer neurologischen Erkrankung wie Multiple Sklerose, Morbus Parkinson oder Folge einer Strahlentherapie sein. Ungenügendes Trinken, aber auch Reizgetränke, Medikamente, übermässiger Alkoholund Nikotinkonsum können die Entwicklung einer hyperaktiven Blase fördern. Die Tabelle 1 zeigt zusammenfassend die möglichen Ursachen einer OAB. Aus Angst vor häufigem Wasserlassen verringern die Betroffenen oft die Trinkmenge. Die resultierende Dehydratation kann zu Schwindel, Kopfschmerzen, Verwirrtheitszuständen bis zu Stürzen führen. Durch die reduzierte Trinkmenge kommt es zur Verkleinerung der Blasenkapazität und zur stärkeren Konzentration des Urins, somit konsekutiv zu Reizblasenbeschwerden.
Belastungsinkontinenz
49%
Mischinkontinenz
29%
OAB wet
(überaktive Blase)
22%
OAB dry
(überaktive Blase)
Abbildung 1: Prävalenz der häufigsten Harninkontinenzformen (adaptiert nach Hampel C et al. Urology. 1997; 50 [suppl 6A]:4-14.)
Tabelle 1:
Mögliche Ursachen einer hyperaktiven Blase (overactive bladder, OAB)
Symptomatisch
Blasenbedingt
Nicht blasenbedingt Neurogen
Harnwegsinfekt
Kolpitis
Multiple Sklerose
urogenitale Atrophie Medikamente
M. Parkinson
Deszensus psychogen zerebrovaskuläre
Fremdkörper
Erkrankungen
Blasentumoren
Querschnittsyndrom
Urethraobstruktion
senile Demenz
Strahlenzystitis
Alkoholismus
interstitielle Zystitis
Idiopatisch
?
Diagnostik der Harninkontinenz
Die Basisdiagnostik beginnt mit der Anamnese, mit der schon in 70% der Fälle die richtige Diagnose gestellt werden kann. Es sind Fragen nach Miktionsfrequenz, Drangsymptomatik, Inkontinenz bei Drang oder Husten/Niesen/Lachen, Trink- und Harnmenge, Nykturie, Hämaturie, Urogenitalinfektionen, Dysurie, Deszensusbeschwerden, dem persönlichen Leidensdruck, Medikamenten, Defäkationsproblemen, bisheriger Therapie, Voroperationen oder Bestrahlung im Becken, Diabetes, neurologischen Erkrankungen und Begleiterkrankungen zu beantworten. Standardisierte Fragebögen können zur Objektivierung und Verlaufskontrolle eingesetzt werden. Ein einfaches, aber wichtiges Diagnostikum stellt der Trink- und Miktionskalender dar (Abbildung 2). Die-
Abbildung 2: Trink- und Miktionskalender in der Abklärung und der Behandlung einer OAB
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Normalbefund
Hämorrhagische Zystitis
Cystitis cystica
Interstitielle Zystitis
Leichte Trabekulierung
Ausgeprägte Trabekulierung mit Pseudodivertikeln
Abbildung 3: : Zystoskopiebilder in der Differenzialdiagnostik
Blasentumor
Blasenstein am perforierenden
Band
ser gibt rasch klare Anhaltspunkte über die tägliche Trinkmenge, das Miktionsvolumen und die Häufigkeit der Nykturie. Mittels Urin-Stix und -Kultur des Mittelstrahlurins kann ein Harnwegsinfekt ausgeschlossen werden. Des Weiteren kann mit einer Abdomensonografie der Restharn bestimmt werden oder eine Nierenektasie und gegebenenfalls ein Fremdkörper in der Blase erkannt werden.
Indikationen für die erweiterte Diagnostik Wenn die Basisdiagnostik n eine Mikro- oder Makrohämaturie n einen pathologischen Sonografiebefund (Nieren-
ektasie, Fremdkörper in der Blase) oder n eine Restharnbildung von mehr als 100 ml ergibt, sollte die Patientin zu einer urogynäkologischen Spezialistin überwiesen werden. Das ist ebenfalls erforderlich, wenn n ein konservativer Therapieversuch erfolglos war n eine operative Therapie geplant ist oder n Verdacht auf eine neurogene Ursache besteht. Die erweiterte Diagnostik beim Spezialisten beinhaltet zunächst eine gynäkologische Untersuchung. Dabei werden die Genitalatrophie, urogenitale Infektionen (mittels Urethraabstrichen auf Chlamydien, Mycoplasmen und Ureaplasmen), Dermatosen sowie die Frage nach Senkung der Beckenorgane und evtl. einem erhöhten Beckenbodentonus eruiert. Des Weiteren werden mit dem Beckenbodentesting die Beckenbodenkontraktionen und mit dem Hustentest bei voller Blase der Harnröhrenverschluss und das Ausmass einer Belastungsinkontinenz beurteilt. Mittels Pelvic-Floor-Sonografie wird das gesamte kleine Becken mit dem vorderen, mittleren und hinteren Kompartiment in jeweils zwei Ebenen in Ruhe, beim Pressen/Husten und unter Beckenboden-Willkürkontraktion untersucht (3). Somit wird die Anatomie von Harnblase, Urethra, Uterus, Vagina und Rektum dargestellt und beurteilt, ob z. B. der Blasenhals
beim Pressen eine Trichterbildung (ein Indiz für Belastungsinkontinenz) aufweist, ob ein Deszensus genitalis vorliegt und wie hoch die Restharnmenge ist. Die Urethrozystoskopie ermöglicht Aussagen über Restharn, Blasenkapazität, aber auch über Blasenwandveränderungen wie Entzündungen, chronische Blasenwandinfekte (Cystitis cystica) und Zeichen einer Balkenblase, Pseudodivertikel, urotheliale Schutzschichtdefekte, interstitielle Zystitis mit HunnerLäsionen, Tumoren und Fremdkörper wie Blasensteine (Abbildung 3) (4). Mittels Urodynamik (Druckmessung in der Blase und in der Urethra) wird die Untersuchung komplettiert. Mit der Urethrozystotonometrie werden der intravesikale sowie der intraurethrale Druck gleichzeitig gemessen. Hier sind unter anderem verfrühter erster Harndrang, erniedrigte Blasenkapazität, tiefe Compliance der Blase und Auftreten von spontanen oder husteninduzierten Detrusorkontraktionen Hinweise auf eine Dranginkontinenz (5). Die Urethrotonometrie mit tiefem Urethraverschlussdruck und das Absinken oder die Negativierung des Urethraverschlussdrucks beim Husten geben Hinweise auf eine Belastungsinkontinenz. Die Messung des Urinflusses – Uroflow – ermöglicht die Abklärung von Miktionsstörungen/Stenosen. Zur Bestimmung des Ausmasses der Inkontinenz kann optimal zum Hustentest ein Vorlagenwiegetest (PAD-Test) durchgeführt werden. Mit dieser Stufendiagnostik wird die Diagnose gestellt und initial eine konservative Therapie eingeleitet. n
Dr. med. Irena Zivanovic Blasen- und Beckenbodenzentrum – Frauenklinik Kantonsspital Frauenfeld 8501 Frauenfeld E-Mail: blasenzentrum.ksf@stgag.ch irena.zivanovic@stgag.ch
Interessenkonflikte: keine.
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Quellen: 1. Nygaard I et al.: Prevalence of symptomatic pelvic floor disorders in US women. Pelvic Floor Disorders Network, JAMA. 2008;300(11):1311. 2. Haylen et al.: An International Urogynecological Association (IUGA)/International Continence Society (ICS) joint report on the terminology for female pelvic floor dysfunction. Neurourology and Urodynamics 2010;29:4-20. 3. Kociszewski J, Viereck V.: Belastungsinkontinenz – Individuell behandeln dank optimaler Diagnose. Urol Urogynäkol 2010;17(3)51. 4. Viereck V, Kociszewski J, Eberhard J.: Präoperative urogynäkologische Diagnostik. Urol Urogynäkol 2010;17(4). 5. Schär G, Sarlos D.: Harninkontinenz der Frau – Pathophysiologie und Diagnostik, Therapeutische Umschau 2003;60:249-256.
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