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SCHWERPUNKT
Management der prämaturen Ovarialinsuffizienz
Diagnostik und Therapie heute
Eine Menopause vor dem 40. Lebensjahr wird als prämature Ovarialinsuffizienz (POI) bezeichnet. Das Krankheitsbild der POI muss sorgfältig abgeklärt werden und bedarf einer Hormonersatztherapie, um den Kurz- und Langzeitfolgen des vorzeitigen Sexualhormonmangels vorzubeugen. Dieser Artikel gibt einen Überblick über die Ursachen, die Diagnostik, die Kurz- und Langzeitfolgen sowie die Therapie der POI.
SUSANNA WEIDLINGER, PETRA STUTE
Susanna Weidlinger
Der Begriff «prämature Ovarialinsuffizienz» (POI) bezeichnet den vorzeitigen Verlust der Ovarialfunktion vor dem 40. Lebensjahr mit dem konsekutiven kombinierten Auftreten eines hypergonadotropen Hypogonadismus und einer primären/sekundären Amenorrhö. In der aktuellen Literatur werden zur Bezeichnung des Krankheitsbilds am häufigsten die Begriffe «primäre Ovarialinsuffizienz» (primary ovarian insufficiency) und «prämatures Ovarialversagen» (premature ovarian failure) verwendet. Die ESHRE (European Society of Human Reproduction and Embryology) empfiehlt, ausschliesslich und einheitlich den Terminus «prämature Ovarialinsuffizienz/premature ovarian insufficiency» zu verwenden – «Insuffizienz/insufficiency», weil es die natürliche Fluktuation des Krankheitsbilds besser abbildet und nicht den negativen und stigmatisierenden Beigeschmack des Begriffs «Versagen/failure» trägt, und «prämatur/premature», um bereits mit der Nomenklatur ein Alterslimit des Krankheitsbilds zu definieren und folglich Patientinnen mit zeitgerechter Menopause auszuschliessen (1).
Diagnostik
Gemäss ESHRE müssen folgende Kriterien für die Diagnosestellung einer POI erfüllt sein: n primäre oder sekundäre Amenorrhö ≥ 4 Monate
Merkpunkte
n Die prämature Ovarialinsuffizienz bedarf einer umfassenden Diagnostik: – Anamnese (Chemotherapie, Radiotherapie, Operation?) – Abklärung genetischer Ursachen – Ausschluss eines polyglandulären Autoimmunsyndroms. n Bei Diagnosestellung wird die Durchführung eines DXA-Scans zur Bestimmung der
Basisknochendichte empfohlen. n Kausale Therapieansätze fehlen. n Eine HRT ist bis zum Erreichen des durchschnittlichen regelrechten Menopausenalters
indiziert, um den negativen östrogenmangelbedingten Langzeitfolgen des Krankheitsbilds für die Knochengesundheit, das kardiovaskuläre System und die kognitive Funktion entgegenzuwirken.
n < 40 Lebensjahre (entsprechend ≥ 2 Standardabweichungen unter dem regelrechen Menopausenalter von 50 ± 4 Jahren)
n FSH ≥ 25 U/l, 2 Messungen im Abstand von > 4 Wochen.
Mit der Bestimmung des Anti-Müller-Hormons (AMH), eines Glykoproteins, das von den Granulosazellen der Primär- und Sekundärfollikel produziert wird, kann eine verlässliche Aussage über die ovarielle Reserve bzw. den verbleibenden Follikelpool der einzelnen Patientin getroffen werden. Für die Diagnosestellung einer POI ist die Messung von AMH allerdings wenig hilfreich, zumal es etwa 5 Jahre vor Eintreten der Menopause in den nicht mehr nachweisbaren Bereich abfällt. AMH spielt für die Diagnostik einer POI somit eine untergeordnete Rolle und kommt vor allem dann zum Einsatz, wenn die Diagnose einer POI inkonklusiv ist (1) (Tabelle 1).
Prävalenz
Man geht von einer Prävalenz der POI von rund 1% der weiblichen Bevölkerung vor dem 40. Lebensjahr und von 0,1% der Frauen vor dem 30. Lebensjahr aus. Eine Menopause zwischen 40 und 44 Lebensjahren dagegen wird als frühe Menopause (early menopause) bezeichnet und kommt mit einer Prävalenz von 5% vor. Eine Menopause ab 45 Lebensjahren wird als regelrecht angesehen (1).
Ätiologie
Eine POI kann durch zahlreiche Faktoren ursächlich bedingt sein. Im Folgenden soll auf die häufigsten eingegangen werden:
Genetisch bedingte POI Chromosomenaberrationen Bei 10 bis 13% aller Patientinnen mit POI sind Chromosomenanomalien nachweisbar. Den Grossteil (94%) stellen numerische und/oder strukturelle X-Chromosomen-Aberrationen (z. B. Turner-Syndrom) dar (1). In Fällen von Gonadendysgenesie mit nachweisbarer
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SCHWERPUNKT
Tabelle 1:
Diagnosekriterien der prämaturen Ovarialinsuffizienz (POI)
Diagnosekriterien für eine POI (1): n primäre oder sekundäre Oligo-Amenorrhö ≥ 4 Monate n < 40 Lebensjahre (entsprechend ≥ 2 Standardabweichungen unter dem regelgerechten
Menopausenalter von 50 ± 4 Jahren) n FSH ≥ 25 U/l, 2 Messungen im Abstand von > 4 Wochen
Y-chromosomaler DNA wird – aufgrund des deutlich erhöhten Risikos (45%), im Verlauf ein gonadales Malignom zu entwickeln – eine prophylaktische Gonadektomie empfohlen (2).
Empfehlung: Eine Karyotypisierung soll bei allen Frauen mit nicht iatrogener POI durchgeführt werden (1).
Fragiles-X-Syndrom/Martin-Bell-Syndrom Das Fragile-X-(FraX-)Syndrom ist die häufigste Ursache erblich bedingter mentaler Retardierung. Diese X-chromosomal-dominant vererbte Erkrankung mit verminderter Penetranz im weiblichen Geschlecht wird durch eine Mutation im Gen FMR1 (fragile-X-mental-retardation 1) auf dem langen Arm des X-Chromosoms verursacht. Beim Vorliegen einer Prämutation besteht beim weiblichen Geschlecht ein Risiko von 13 bis 26%, eine POI zu entwickeln, nicht so jedoch bei der vollen Mutation. Bei Patientinnen mit sporadischer POI ist mit einer Prävalenz einer FraX-Prämutation von 0,8 bis 7,5% zu rechnen, bei Patientinnen mit einer positiven Familienanamnese für POI sogar mit einer solchen bis 13% (3).
Empfehlung: Der genetische Ausschluss einer FraX-Prämutation ist bei allen Patientinnen mit POI indiziert (1).
Autosomale Genmutationen Reflektorische, autosomale genetische Untersuchungen sind bei Patientinnen mit POI zum aktuellen Zeitpunkt nicht indiziert, ausser es liegen konkrete Hinweise auf das Vorliegen spezifischer Krankheitsbilder vor, die mit dem gehäuften Auftreten einer POI assoziiert sind (z. B.: Blepharophimosis-Epicanthusinversus-Syndrom, Rothmund-Thomson-Syndrom, Progeria adultorum, Galaktosämie, kongenitales teleangiektatisches Syndrom u. a.) (1).
Autoimmunologisch bedingte POI Bei etwa 5% aller Patentinnen mit POI wird das Krankheitsbild durch eine autoimmunologisch bedingte Schädigung des Ovars hervorgerufen. Bei der Mehrheit der autoimmunologisch bedingten POIs sind im Rahmen eines polyglandulären Autoimmunsyndroms Typ 1/2 neben dem Ovar noch weitere Organe in den
Autoimmunprozess involviert. Hierbei findet man bei 60 bis 80% eine gegen den adrenalen Kortex und bei 14 bis 27% eine gegen die Schilddrüse gerichtete Autoimmunität. Eine Ovarialbiopsie zur Diagnosestellung einer autoimmunologisch bedingten POI gilt als obsolet. Der serologische Nachweis von sogenannten Steroidzellantikörpern (Ak) (z. B. 21OH-Ak [21-Hydroxylase-Antikörper] oder alternativ ACA/NNR-Antikörper [adrenokortikale Ak/Nebennierenrinden-Ak]), die sich allesamt gegen an der Steroidhormonsynthese beteiligte Enzyme und somit potenziell gegen den adrenalen Kortex, das Ovar, die Testes wie auch gegen die Plazenta richten, scheint der Marker mit der höchsten diagnostischen Sensitivität für eine autoimmunologisch bedingte POI zu sein.
Empfehlung: Ein Screening auf 21OH-Ak oder alternativ ACA/NNR-Ak sollte allen Patientinnen mit idiopathischer POI angeboten werden. Patientinnen mit positiven 21OH-Ak/ACA/NNR-Ak sollen zur Abklärung der NNR-Funktion und zum Ausschluss eines Morbus Addison an die Kollegen der medizinischen Endokrinologie weiterverwiesen werden.
Empfehlung: Ausserdem ist ein Screening auf Schilddrüsen-Ak (TPO-Ak) bei allen Patientinnen mit idiopathischer POI indiziert (1). Im Falle von positiven TPO-Ak soll eine jährliche Kontrolle des Thyroidea-stimulierenden Hormons (TSH) erfolgen.
POI als Folge iatrogener Interventionen (Chemo-, Radiotherapie, Operationen) Zytotoxische Chemotherapien haben abhängig vom verwendeten Wirkstoff, von der kumulativen Dosis sowie vom Alter der Patientin eine unterschiedlich stark ausgeprägte gonadotoxische Wirkung, die wiederum mit einem erhöhten Risiko für die Entwicklung einer POI einhergeht. Ebenso beeinträchtigt eine Radiotherapie, abhängig von der Bestrahlungsdosis, vom Bestrahlungsfeld und vom Alter der Patientin, die Ovarfunktion bis hin zur POI. Eine Metaanalyse von Raffi und Kollegen belegt, dass auch operative Eingriffe im Bereich der Ovarien (z. B. das Ausschälen von Endometriomen bei Endometriose) durch den damit einhergehenden Verlust gesunden Ovarialgewebes mit einem signifikanten postoperativen AMH-Abfall und somit mit einer Reduktion der Ovarialreserve assoziiert sind (4). Coccia und Kollegen zeigten in einer prospektiven Kohortenstudie, dass das bilaterale Ausschälen von Endometriomen mit einem signifikant niedrigeren Menopausenalter sowie einem erhöhten Risiko für POI einhergeht (5). Nicht zu vergessen ist die steigende Anzahl prämenopausaler Frauen mit bekannter
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SCHWERPUNKT
Tabelle 2:
Diagnostische Abklärungen (modifiziert nach [1])
Test
Vorgehen bei positivem Ergebnis
Vorgehen bei negativem Ergebnis
Zyto- und Molekulargenetik
Karyotyp (Turner-Syndrom)
Mitbetreuung durch medizinische Endokrinologie, Zweite Analyse des Karyotyps aus Epithelzellen
Kardiologie und Humangenetik
nur bei hochgradigem klinischem Verdacht
auf das Vorliegen eines Turner-Syndroms
Test auf Y-chromosomale DNA Gonadektomie
Fragiles-X-Syndrom
Mitbetreuung durch Humangenetik
Autosomale genetische Untersuchungen: Bei Patientinnen mit POI zum aktuellen Zeitpunkt nicht indiziert, ausgenommen, es liegen Hin-
weise auf das Vorliegen einer spezifischen Mutation vor (z. B. BPES, BLM, WRN, RTS u. a.).
Antikörper (bei idiopathischer POI und/oder wenn eine Autoimmunerkrankung vermutet wird)
21OH-Ak/ACA
Mitbetreuung durch medizinische Endokrinologie Testwiederholung nur im Fall neuer,
verdächtiger Klinik indiziert
TPO-Ak
TSH jährlich
Testwiederholung nur im Fall neuer,
verdächtiger Klinik indiziert
DXA-Scan: Bestimmung der Basisknochendichte bei Diagnosestellung der POI
BRCA-Mutation, die sich einer risikoreduzierenden bilateralen Salpingo-Oophorektomie unterziehen.
Idiopathische POI Bei der grossen Mehrheit aller POI (85–90%) kann keine genaue Ursache identifiziert werden. Man spricht dann von einer idiopathischen POI (1). Die diagnostischen Schritte bei Verdacht auf eine POI sind in Tabelle 2 aufgeführt.
Kurzzeitfolgen (Symptome)
Wie bei der regelrechten Menopause variiert auch bei der POI die Intensität der östrogenmangelbedingten Symptome. Die Spannbreite reicht von komplett asymptomatischen Patientinnen (12–14%), die sich lediglich zur Abklärung einer primären/sekundären Amenorrhö vorstellen, bis zu Patientinnen mit einem erheblichen Leidensdruck und einem massiven Verlust an Lebensqualität. Zu den typischen klimakterischen Symptomen gehören: n vasomotorische Beschwerden im Sinne von Hitze-
wallungen und Schweissausbrüchen n Schlafstörungen n körperliche und geistige Erschöpfung n urogenitale Atrophie mit Beschwerden im Sinne
einer überaktiven Blase, einer Belastungsinkontinenz, eines vaginalen Trockenheitsgefühls mit konsekutiver Dyspareunie n rezidivierende Harnwegsinfekte n Sexualprobleme mit Libidomangel und Veränderung der sexuellen Befriedigung n diffuse Gelenk- und Muskelbeschwerden n eine depressive Stimmungslage. Je nach Symptom kommt therapeutisch eine systemische (HRT) sowie gegebenenfalls eine additive lokale Östrogensubstitution zum Einsatz. Aber auch jene 12 bis 14% der POI-Patientinnen, die asympto-
matisch sind, bedürfen einer konsequenten systemischen Hormonsubstitution, um den negativen Langzeitfolgen des vorzeitigen Östrogenmangels auf die kardiovaskuläre Gesundheit, den Knochenstoffwechsel und die kognitive Funktion vorzubeugen (6).
Langzeitfolgen
Kardiovaskuläre Gesundheit Infolge des vorzeitigen Wegfalls des kardiovaskulär protektiven Östrogeneffekts bestehen bei Patientinnen mit POI ein signifikant erhöhtes Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen sowie eine signifikant erhöhte kardiovaskuläre Mortalität (7). Der möglichst frühe Beginn einer Substitution mit Sexualsteroiden sowie deren Fortführung bis zum durchschnittlichen regelrechten Menopausenalter wird empfohlen, um dem erhöhten kardiovaskulären Risiko bestmöglich entgegenzuwirken (1).
Knochengesundheit Der günstige Einfluss der Östrogene auf die Regulation des Knochenstoffwechsels und die Aufrechterhaltung der Knochenstruktur sowie die negativen Folgen der natürlichen Menopause auf die Knochendichte und das Frakturrisiko sind bestens bekannt. Eine POI ist nachweislich mit einer östrogenmangelbedingten reduzierten Knochendichte assoziiert. Das lässt schlussfolgern, dass die POI konsekutiv mit einem erhöhten Frakturrisiko assoziiert ist (8).
Empfehlung: Bei Diagnosestellung einer POI wird die Durchführung eines DXA-Scans zur Bestimmung der Basisknochendichte empfohlen.
Im Fall einer altersentsprechend normalen Knochendichte und Initiation einer ausreichend dosierten HRT
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SCHWERPUNKT
ist eine Wiederholung des DXA-Scans nicht notwendig (1).
Empfehlung: Eine Östrogenersatztherapie ist Mittel der Wahl sowohl zur Prävention als auch zur Therapie einer Osteoporose bei Patientinnen mit POI. Folglich wird ein möglichst früher Beginn einer HRT sowie deren Fortführung bis mindestens zum durchschnittlichen physiologischen Menopausenalter empfohlen (6).
Neurologische Gesundheit In mehreren grossen Observationsstudien konnte bei Patientinnen mit POI ein erhöhtes Risiko für kognitive Funktionseinbussen respektive für die Entwicklung einer Demenz festgestellt werden. Das Risiko für eine kognitive Beeinträchtigung stieg linear, je jünger die Patientin zum Zeitpunkt der Diagnosestellung war. Bei Patientinnen, die bis zum 50. Lebensjahr eine Östrogenersatztherapie erhalten hatten, konnten weder geistige Einschränkungen noch ein erhöhtes Demenzrisiko festgestellt werden (9, 10).
Wirkstoffe Zum Einsatz kommen sowohl die klassische HRT (Estradiol) als auch kombinierte orale Kontrazeptiva (Ethinylestradiol). Der günstige Einfluss auf das kardiovaskuläre System und den Knochenstoffwechsel scheint bei Ethinylestradiol im Vergleich zu Estradiol etwas geringer ausgeprägt zu sein (11–13).
Empfehlung: Die ESHRE-Guideline empfiehlt, 17β-Estradiol dem Ethinylestradiol und den konjugierten equinen Östrogenen vorzuziehen (1).
Zur Endometriumsprotektion können sowohl synthetische Gestagene als auch das «bioidentische» mikronisierte Progesteron, jeweils in Transformationsdosis, eingesetzt werden. Die Evidenz aus Studien bei regelrecht postmenopausalen Frauen weist auf ein vorteilhafteres kardiovaskuläres Sicherheitsprofil (14) sowie ein potenziell geringeres Mammakarzinomrisiko (15) bei Anwendung von mikronisiertem Progesteron im Vergleich zu synthetischen Gestagenen hin.
Empfehlung: Um das Risiko für eine potenzielle hormonmangelbedingte, kognitive Beeinträchtigung bei Patientinnen mit POI möglichst zu reduzieren, soll zumindest bis zum durchschnittlichen regelrechten Menopausenalter eine HRT durchgeführt werden (1).
Sexuelle und urogenitale Funktion Eine adäquate systemische Östrogenersatztherapie stellt die Basis für eine normale sexuelle und urogenitale Funktion dar. Sollte das nicht ausreichen, können additiv lokale Östrogene eingesetzt werden. Bezüglich einer optionalen zusätzlichen systemischen Androgensupplementation fehlen Langzeitwirksamkeits- und Sicherheitsdaten (1).
Lebensqualität Die Diagnose einer POI hat signifikante negative Auswirkungen auf das psychische Wohlbefinden und die Lebensqualität der betroffenen Person. Das muss in Gesprächen thematisiert werden. Ferner sollte eine psychologische Unterstützung angeboten werden.
Hormonersatztherapie (HRT)
Wie beschrieben, ist eine HRT bei POI nicht nur zur Linderung östrogenmangelbedingter Symptome (wie vasomotorischer Beschwerden), sondern auch aus prophylaktischer Indikation angezeigt. Eine zumindest standarddosierte HRT wird Patientinnen mit POI zur Primärprävention kardiovaskulärer Erkrankungen sowie zur Knochen- und Neuroprotektion bis zum Erreichen des durchschnittlichen physiologischen Menopausenalters empfohlen (1).
Regime Um Östrogenmangelsymptome möglichst zu vermeiden, wird eine kontinuierliche Östrogenersatztherapie empfohlen. Diesem Anspruch werden die allermeisten zugelassenen HRT-Präparate gerecht, nicht jedoch die Mehrzahl der zugelassenen hormonellen Antikonzeptiva.
Bei Antikonzeptionswunsch Nicht selten sind Frauen mit POI unter kombinierter oraler Antikonzeption im 21/7-Schema im pillenfreien Intervall symptomatisch. Bei Antikonzeptionsbedarf ist folglich die Verschreibung von Pillen im 24/4- respektive 26/2-Schema oder im Langzyklus ratsam. Es stellt sich nun die Frage, ob die additive Gabe von Gestagenen besser kontinuierlich oder zyklisch erfolgen soll. Grundsätzlich können, je nach Präferenz der Patientin, beide Regime angewendet werden. Infolge der vor allem initial häufig intermittierend aufflackernden ovariellen Aktivität kann es bei einem kontinuierlich kombinierten Regime wiederholt zu unvorhersagbaren vaginalen Blutungen kommen. Aufgrund der geregelten Hormonentzugsblutungen bei Anwendung eines sequenziellen Schemas wird ein solches von Patientinnen zumindest initial häufig präferiert. Das betrifft ebenso Frauen mit Kinderwunsch, da bei einem sequenziellen Regime der reguläre endometriale Zyklus mit einem zyklischen Wechsel von Proliferations- und Sekretionsphase am besten nachgeahmt wird. Dem Wunsch nach Amenorrhö kommt man mit dem kontinuierlich kombinierten Regime nach, das, die endometriale Sicherheit betreffend, dem sequenziellen Regime überlegen ist (1).
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SCHWERPUNKT
Darreichungsform Daten zur HRT bei zeitgerecht menopausalen Frauen zeigen, dass orale Östrogene das Risiko für eine venöse Thromboembolie (VTE) signifikant erhöhen. Hierin liegt der Vorteil einer transdermalen Östrogentherapie, die dieses Risiko nicht beeinflusst (16). Durch die transdermale Applikation von Estradiol kann im Unterschied zur peroralen Darreichungsform der First-Pass-Effekt in der Leber umgangen und folglich die Verschiebung des hämostaseologischen Gleichgewichts in Richtung Prokoagulation verhindert werden. Auch wenn diesbezügliche Daten zur POI fehlen, ist bei Patientinnen mit einem erhöhten VTE-Risiko die transdermale Verabreichung von Östrogenen zu bevorzugen (1).
Dosierung Das Ziel der HRT ist es, möglichst gleichwertige Estradiolspiegel zu erreichen, wie sie auch bei regelmässig menstruierenden prämenopausalen Frauen physiologisch vorkommen. Hierzu sind bei transdermaler Applikation 75 bis 100 µg Estradiol-haltige Pflaster bzw. eine tägliche Dosis von mindestens 2 mg Estradiol in Gelform notwendig. Bei oraler Gabe sind eine tägliche Estradioldosis von 2 bis 4 mg bzw. eine Ethinylestradioldosis von mindestens 10 µg erforderlich (1, 6).
Überwachung der HRT Selbstverständlich müssen die speziellen Bedürfnisse (z. B. Antikonzeptionswunsch) sowie die Präferenz der Patientin bei der Auswahl der Wirkstoffe, des Regimes sowie der Darreichungsform berücksichtigt werden. Ist eine HRT erst einmal etabliert, sollen Patientinnen mit POI zumindest einmal jährlich ärztlich gesehen werden. Besondere Aufmerksamkeit gilt hierbei der Überwachung der Compliance (1).
Risiko Mammakarzinom?
Gemäss aktueller Datenlage weisen Patientinnen mit POI im Vergleich zur Kontrollgruppe sogar ein signifikant niedrigeres Mammakarzinomrisiko auf. Das ist am wahrscheinlichsten dem vorzeitigen Sexuasteroidmangel zuzuschreiben, der zwangsläufig mit einer POI einhergeht. Frauen mit POI sind dahingehend zu beruhigen, dass gemäss aktueller Datenlage von einer HRT vor dem Erreichen des regelrechten/ physiologischen Menopausenalters im Vergleich zur Normalbevölkerung kein erhöhtes Mammakarzinomrisiko ausgeht. Die Tatsache, dass eine HRT, angewandt bei Patientinnen nach dem 50. Lebensjahr, in Abhängigkeit von der Therapiedauer das Mammakarzinomrisiko signifikant erhöht, darf nicht auf Patientinnen mit POI extrapoliert werden (1, 6).
Man muss sich bewusst machen, dass eine Hormonsubstitution bei Frauen mit POI einer tatsäch-
lichen «Hormon-Ersatz-Therapie» entspricht und nicht mit einer «Hormon-Prolongations-Therapie» gleichzustellen ist, wie das gemeinhin bei Frauen mit regulärem Menopausenalter der Fall ist. n
Dr. med. Susanna Weidlinger (Erstautorin; Korrespondenzadresse) E-Mail: susanna.weidlinger@insel.ch
Prof. Dr. med. Petra Stute
Universitätsfrauenklinik Inselspital 3010 Bern
Interessenkonflikte: keine.
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