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SCHWERPUNKT
Sexualität nach Brustkrebs
Rückkehr zur Normalität oder auf zu neuen Ufern?
Sexualität und sexuelles Erleben sind bedeutende Bestandteile der Lebensqualität auch von Brustkrebspatientinnen. Gleichzeitig haben Diagnose wie Therapie dieser bedrohlichen Erkrankung unweigerlich negative Auswirkungen auf diesen störungsempfindlichen Bereich. Jüngere Frauen fühlen sich besonders betroffen und wünschen sich eine professionelle Unterstützung, wie das auch für andere Folgen der Erkrankung selbstverständlich ist.
ELIANE SARASIN
Eliane Sarasin
Die Diagnose Brustkrebs per se, dazu noch in jungen Jahren, bedeutet eine jähe Zäsur im Leben jeder Frau. Die bisherige individuelle Wirklichkeit gilt nicht mehr, und das Bewusstsein, dass vermeintlich Verlässliches wie Beruf, Beziehungen und eben auch Gesundheit unverhofft unbeständig sein können, erschüttert zutiefst. Während manche ältere Frau im Laufe des Lebens das schon schmerzlich erfahren musste, ist die jüngere Generation oft noch unbedarft und wird umso empfindlicher getroffen.
Jähe Zäsur im Leben und Hochrisikogruppe
Beinahe 25% der an Brustkrebs erkrankten Frauen haben das 50. Lebensjahr noch nicht erreicht, und 10% betreffen Frauen im reproduktiven Alter (1). In diesem Artikel liegt der Fokus auf diesem Kollektiv, ohne jedoch die verbreitete Annahme untermauern zu wollen, dass Sexualität nach der Menopause kein Thema mehr ist. Zahlreiche Untersuchungen belegen klar das Gegenteil (2). Meist sind die jungen Patientinnen zum Zeitpunkt der Diagnose mit zentralen Entwicklungsaufgaben wie Gestaltung einer verbindlichen Partnerschaft, Etablierung einer beruflichen Zukunft und Familienplanung stark beansprucht. Die Unversehrtheit des eigenen Körpers, welcher noch nicht durch die physiologische Alterung gezeichnet ist, wird fast selbstverständlich und nebenbei zur Kenntnis genommen. Umso mehr schlägt die Diagnose Brustkrebs unvermittelt zu. Patientinnen unter 40 Jahren werden allein aufgrund ihres Alters oft unabhängig von weiteren Tumorkriterien als Hochrisikogruppe betrachtet und einer aggressiven Therapie zugeführt. Auch kommt unter Umständen noch die Frage nach einer genetischer Prädisposition dazu, was zusätzlich belastend ist und die Erkrankung zu einer «Familienangelegenheit» machen kann. Angesichts der existenziellen Bedrohung durch die Krebserkrankung ist Sexualität zunächst kein Thema,
sondern die anstehenden Abklärungen und Therapien stehen im Vordergrund. Im weiteren Verlauf rückt die Thematik wieder in den Vordergrund und verdient angesichts ihres hohen Stellenwerts für die Lebensqualität eine angemessene Beachtung.
Wie beeinflusst Brustkrebs die Sexualität?
In der heutigen Gesellschaft wird Sexualität nach wie vor mit Jugend, Fruchtbarkeit, Gesundheit und einer allgemeinen Unbeschwertheit assoziiert. Wir haben keine Bilder von Sex in Zusammenhang mit von Krankheit gezeichneten Körpern, Narben oder gar fehlenden Brüsten. So wundert es keineswegs, dass gerade die jüngeren Patientinnen sich durch die bösartige Diagnose besonders in ihrer sexuellen Attraktivität getroffen fühlen. Um die individuell unterschiedlich ausgeprägten Auswirkungen der Krankheit besser verstehen zu können, lohnt es , die menschliche Sexualität in ihren verschiedenen Facetten zu erfassen: Gerade im medizinischen Kontext wird meist ausschliesslich auf die sogenannten sexuellen Funktionsstörungen fokussiert, welche auch in diesem Beitrag nicht unbeachtet bleiben. Angesichts einer schweren Erkrankung geht es jedoch nicht nur um die Einschränkungen der sexuellen Funktion oder des sexuellen Tuns, sondern in mindestens gleichem Masse um die Auswirkungen auf die sexuelle Identität und die sexuelle Beziehung. Keine dieser Facetten bleibt unberührt, und alle können die sexuelle Zufriedenheit deutlich reduzieren (Abbildung 1).
Sexuelle Identität
Wenn wir von sexueller Identität bei Frauen sprechen, geht es um die persönliche Einschätzung der eigenen Weiblichkeit und die sexuelle Anziehungskraft und das daraus entwickelte individuelle Selbstwertgefühl als sexuelles Wesen. Dabei kann das individuelle Körperbild nicht ausser Acht gelassen
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Abbildung 1: Die Aspekte der Sexualität
Das eigene Körperbild als Zusammenspiel von:
Abbildung 2: Das eigene Körperbild entspringt dem Zusammenspiel mehrerer Faktoren.
werden. Unter «Körperbild» versteht man die subjektiv geprägte Wahrnehmung über Grösse, Form und Gestalt des eigenen Körpers, während diese gleichzeitig ständig neu bewertet wird (Abbildung 2). Unabhängig von objektiven Kriterien bildet sich so das individuelle Gefühl der eigenen Attraktivität, wiederum ein wesentlicher Bestandteil der sexuellen Identität (3). Es besteht ein direkter Zusammenhang zwischen einer positiven Haltung dem eigenen Körper gegenüber, der sexuellen Erregbarkeit und Aktivität sowie der sexuellen Zufriedenheit. Gerade die Brust als Sinnbild von Weiblichkeit und Verführung gehört zu den speziell sensiblen Zonen des Körpers und ist Symbol für Fruchtbarkeit und Mutterschaft. Erkrankt dieses Organ, fühlt sich die Betroffene nicht nur des Lebens bedroht, sondern ebenso in ihrem Frausein massiv angegriffen. Die notwendige chirurgische Therapie verändert das Körperbild unumgänglich und erfordert eine grosse Flexibilität und Bereitschaft, sich anzupassen. Wichtig für das Behandlungsteam ist zu wissen, dass objektiver Befund und subjektive Befindlichkeit deutlich auseinanderklaffen können und eine Rekonstruktion bei notwendiger Brustentfernung nicht eine «Restitutio ad integrum»
garantiert (4). Insbesondere Frauen, welche schon zuvor ein abwertendes Bild von sich hatten oder ihr Selbstbewusstsein überwiegend von ihrer äusserlichen Erscheinung abhängig machen, tun sich schwer mit den notwendigen chirurgischen Massnahmen. Nebst der chirurgischen Therapie können auch Gewichtsveränderungen sowie Haarverlust unter Chemotherapie das Körperbild massiv stören. Wenn auch reversibel, so machen sie die Erkrankung öffentlich, sind weniger zu maskieren wie Narben im Brustbereich und stören deutlich das Gefühl, attraktiv und begehrenswert zu sein. Und nicht zuletzt haben der drohende Verlust der Fruchtbarkeit wie der Eintritt in eine (zu) frühe Menopause einen Einfluss auf die selbst empfundene Weiblichkeit und nicht zuletzt auf den «Marktwert» als sexuelle Partnerin.
Sexuelle Beziehung
Aus Untersuchungen mit gesunden Frauen wissen wir bereits, dass die subjektive Wahrnehmung der eigenen Attraktivität einen direkten Einfluss auf den Wunsch, sexuell aktiv zu werden, und auf die sexuelle Beziehung hat (5). So wirkt eine Anpassungsstörung an den postoperativ veränderten Körper als Hemmfaktor für intime Begegnungen und führt zu einer Distanzierung im Paar. Der Partner kann noch so verständnisvoll sein, wenn die Betroffene sich nicht als begehrenswert wahrnimmt, wird sie sich nur schwer auf ihn sexuell einlassen können. Oft wird fast jede Form von Zärtlichkeiten und Körperkontakt vermieden. Die meist ebenfalls jungen Partner sind deutlich gefordert mit der veränderten Situation. Diese erlangt von ihnen eine Flexibilität, um die Partnerin mit den durch die Krebsdiagnose und -therapie entstandenen äusseren wie inneren Narben wieder erotisieren zu können. Viele dieser Männer fühlen sich allein gelassen in diesem schwierigen Prozess, und gleichzeitig verhindern Scham und Angst vor Unverständnis, sich Unterstützung zu suchen.
Die sexuelle Funktion
Auch wenn in der Öffentlichkeit Sexualität fast immer positiv und unbeschwert dargestellt wird, sind sexuelle Funktionsstörungen gleichwohl ein (oft verschwiegenes) häufiges Phänomen. Etwa 40% bis 50% aller Frauen geben im Laufe des Lebens mindestens eine sexuelle Funktionsstörung an (6), wenn auch mit unterschiedlichem individuellem Leidensdruck. Die weibliche Lustlosigkeit hat dabei die höchste Prävalenz (33%). Diese erhöht sich bei brustkrebsbetroffenen Frauen noch zusätzlich (70%) und ist der häufigste Grund, eine sexualmedizinische Sprechstunde aufzusuchen. Zudem sind Störungen der Erregung bis zur Anorgasmie und Schmerzen bei der Penetration häufig. Bei den jüngeren Patientinnen ist der Leidensdruck am höchsten. Dazu kommt bei ihnen
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noch der mögliche definitive Fertilitätsverlust, streng genommen keine sexuelle Funktionsstörung, welcher jedoch das sexuelle Erleben deutlich einschränken kann (7). Dieses junge Kollektiv fühlt sich nicht nur krank, sondern auch vorzeitig gealtert! Unterstützt wird diese Wahrnehmung durch Symptome des urogenitalen Menopausesyndroms wie ein störendes Trockenheitsgefühl im Bereich der Vulva und der Vagina, verminderte Lubrikation bei sexueller Stimulation und Elastizitätsverlust der Vagina, was die häufig beklagte Erregungsstörung und Dyspareunie nach sich ziehen kann.
Therapiemöglichkeiten Eine regelmässige lokale Pflege der Intimzone ab Beginn der adjuvanten Chemo- und /oder Antihormontherapie kann vorbeugen und gleichzeitig diesen oft ausgeblendeten Körperbereich mehr ins Bewusstsein rücken. Bei Versagen von nicht hormonellen Präparaten soll die Verabreichung von topischen Estriolpräparaten erwogen werden. Auch gibt es vielversprechende Daten zur vulvovaginalen Lasertherapie. Die Empfehlung eines möglichst silikonbasierten Gleitgel für den Geschlechtsverkehr ist selbstverständlich. Und nicht zuletzt soll die Patientin auch ermutigt werden, sich nicht dem «koitalen Imperativ» unterzuordnen, sondern vielmehr weitere Möglichkeiten befriedigender sexueller Begegnungen zu entdecken und zu pflegen.
Sobald man Tabus in Worte fasst, werden sie verhandelbar!
Das gilt ebenso für die Thematik der Sexualität. Den meisten Menschen fällt es schwer, über ihre Wünsche und noch viel mehr über ihre sexuellen Schwierigkeiten zu sprechen. Das trifft auch auf unsere Patientinnen und ihre Partner zu. Um sich im wahrsten Sinne «keine Blösse» zu geben oder sich gegenseitig zu schonen, wird Schweigen vorgezogen, und nicht selten distanziert man sich voneinander, obwohl doch beide eigentlich das Gegenteil ersehnen. Die Kommunikation im Paar zu fördern, kann eine wichtige Aufgabe des Behandlungsteams sein. Dafür sollte primär das Gespräch über sexuelle Belange im medizinischen Kontext angeboten werden. Leider verursacht ein solches nach wie vor meist Unbehagen im Behandlungsteam. Insbesondere von ärztlicher Seite besteht Zurückhaltung, obwohl die Patientinnen sich das Ansprechen der Auswirkungen der Krebsbehandlung auf die Sexualität wünschen. Die Detabuisierung kann eine enorme Erleichterung und Entlastung für die Patientin darstellen. Allein das Sprechen über sexuelle Probleme hat für die Betroffene einen hohen therapeutischen Wert und erleichtert ihr, den Dialog mit dem Partner aufzunehmen. Mittlerweile gibt es sehr hilfreiche und informative
Broschüren zu diesem Thema (Krebsliga Schweiz), welche die Patientinnen dankbar entgegennehmen. Ebenso gibt es sexualmedizinische Beratungsangebote, zu denen überwiesen werden kann. Wichtig ist, dass sexuelle Nebenwirkungen der Tumorbehandlung mit der gleichen Selbstverständlichkeit wie andere therapiebedingte Folgen berücksichtigt werden. Die zunehmende Anwendung des sogenannten Distressthermometers hilft, insbesondere die «Risikopatientinnen» zu erkennen und gezielt anzusprechen (8).
Gibt es eine Pille für mich?
Den Wunsch nach einer medikamentösen Unterstützung bei sexuellen Störungen äussert manche Betroffene. Erst Ende letzten Jahres erschien eine Arbeit im «Journal of Clinical Oncology», welche den Einsatz von Bupropion, einem Noradrenalin-Dopamin-Reuptake-Hemmer, ursprünglich als Antidepressivum zugelassen, bei Mangel an sexuellem Interesse weiblicher «cancer survivors» untersuchte. Der Wirkstoff, dessen Effekt mit dem Female Sexual Function Index (FSFI) gemessen worden war, war gegenüber Plazebo nicht überlegen (9). Wie bereits aus Untersuchungen bei Frauen ohne Krebsdiagnose bekannt ist, sind pharmakologische Therapieversuche, um der weiblichen Lustlosigkeit zu begegnen, mit bescheidenem Erfolg gesegnet. Auch wenn der Ansatz, die Konzentration einzelner Neurotransmitter zu beeinflussen, einleuchtend ist, scheint das Konstrukt einer «Substitution» oder «Balancierung» von Botenstoffen zur Steigerung der sexuellen Lust der Komplexität der weiblichen Sexualität nicht gerecht zu werden. Das betrifft auch die Fokussierung auf rein somatische Faktoren, welche den Leidensdruck der betroffenen Frauen nicht allein zu erklären vermag. Nebst den biologischen dürfen auch die psychosozialen Komponenten der Lustlosigkeit nicht ausser Acht gelassen werden, und das gilt insbesondere bei und nach einer schweren Erkrankung. Gerade Frauen, welche erst kurz zuvor eine solch existenzielle Bedrohung erfahren haben, setzen sich oft selbst unter Druck, rasch wieder zur alten «Normalität» zurückzukehren, das gilt auch in der Sexualität. Insbesondere die jüngeren Patientinnen meinen, sexuell weiterhin «funktionieren» zu müssen, unabhängig davon, wie verständnisvoll und geduldig der Partner ist. Es geht nicht nur um die Beziehung oder den sexuellen Akt, sondern mindestens ebenso sehr um den Wunsch, sich trotz der Krankheit begehrt zu fühlen. Gleichzeitig spüren sie, dass erschöpfende Therapien, Angst vor Rezidiven und protrahierte Trauerreaktion der sexuellen Lust entgegenwirken. Therapeutische Ansätze, welche auf ein möglichst rasches Ja zur Sexualität zielen, verstärken meist den Druck und das Gefühl, als Frau und Partnerin nicht zu genügen. Zielführender ist es, die Lustlosigkeit im
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Rahmen der Erkrankung zu normalisieren und genauer zu definieren: n Welche Emotionen laufen der Lust zuwider? n Worauf genau hat die Frau keine Lust? n Was könnten bessere Bedingungen sein, sich auf
eine intime Begegnung einzulassen? Erst die Legitimation der Lustlosigkeit, welche in der Krankheit durchaus sinnvoll sein kann, sorgt für Entlastung. So erst entsteht Raum für Selbstbestimmung. Therapeutisch gilt es, die betroffene Frau dabei zu unterstützen und mit ihr Qualitätskriterien zu erarbeiten, welche sie unter den gegebenen Umständen braucht, um sich auf eine sexuelle Begegnung einzulassen.
Stellenwert der Sexualität vor der Erkrankung ist das
Tempo schneller oder langsamer. Wichtig ist, dass
jede Frau sich die nötige Zeit nimmt, sich buchstäb-
lich herantastet und bei Bedarf bei diesem Prozess
begleitet wird. Letzteres ist eine zentrale Aufgabe,
welche zum Angebot der sexualmedizinischen
Sprechstunde gehört.
n
Dr. med. Eliane Sarasin Swiss Breast Care c/o Klinik Bethanien 8044 Zürich und Brustzentrum Zürich 8008 Zürich E-Mail: e.sarasin@swissbreastcare.ch e.sarasin@brust-zentrum.ch
Alte Normalität oder neue Ufer?
Auch wenn der Wunsch nach Normalität bei vielen Patientinnen gross ist, kann es «die alte Normalität» nicht mehr sein. Die tief greifende Erfahrung der Krebserkrankung lässt sich nicht abschütteln, sondern wird zu einem bedeutsamen Kapitel der eigenen Biografie. Je besser dieses Bewusstsein integriert wird (sicher abhängig von Verlauf und Prognose der Erkrankung), desto zuversichtlicher kann die Betroffene ihre Leben weiterleben. Dazu gehört der Weg zu einer neuen Erotik. Je nach Qualität und
Interessenkonflikte: keine.
Quellen: 1. Angarita AM et al. Front Oncol 2016; 6: 102. doi.org/10.3389/fonc.2016.00102 2. Lindau ST et al. NEJM 2007;357:762. DOI: 10.1056/NEJMoa067423 3. Pujols Y et al. J Sex Med 2010;7:905. 4. Duffy S. BMJ 2015;352:h6786. 5. Thomas HN et al. J Women’s Health 2019;(28),1:100. 6. Briken P et al. Dtsch Arztebl Int 2020;117:653. DOI: 10.3238/arztebl.2020.0653 7. Alder J et al. J Sex Med 2008;5:1898. doi: 10.1111/j.1743-6109.2008.00893.x. 8. Mehnert A et al. Z Psychiatrie, Psychologie und Psychotherapie 2006;54(3), 213. doi.org/10.1024/1661-4747.54.3.213 9. Barton DL et al. J Clin Oncol 2021; Dez 9, PMID 34882500.
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