Transkript
SCHWERPUNKT GYNEA – Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendgynäkologie
Varianten und Fehlbildungen des äusseren weiblichen Genitales
Der pädiatrische Blickwinkel in der Kinder- und Jugendgynäkologie
In unserer kinder- und jugendgynäkologischen Sprechstunde sind Fragestellungen zur Anatomie der Vulva häufig. Sehr oft finden wir Varianten, welche keinen Krankheitswert haben, aber dennoch einer guten Aufklärung und Begleitung bedürfen, um die Mädchen und Jugendlichen in einer gesunden körperlichen und sexuellen Entwicklung zu unterstützen. Seltener handelt es sich um Fehlbildungen im engeren Sinne, welche allenfalls eine chirurgische Intervention benötigen.
Kerstin Ruoss
Zum äusseren Genitale der Frau zählen der Mons pubis, die Klitoris inklusive Klitorisvorhaut, die Labia majora und minora und das Vestibulum vaginae. Dem Zeitgeist entsprechend ist die Vulva oder auch das Pudendum in aller Munde. Übersetzt wird Letzteres aus dem Lateinischen mit «Scham», entsprechend die deutsche Benennung «Schamlippen». Berechtigterweise stellt sich hier die Frage nach einer anderen Namensgebung mit dem Ziel der Enttabuisierung des äusseren weiblichen Geschlechts.
Merkpunkte
n Varianten ohne Krankheitswert des äusseren Genitale und ohne Therapiebedarf sind sehr häufig.
n Die Aufklärung des Mädchens und ihrer Begleitperson über die spezifische Anatomie soll zu jedem Zeitpunkt in einer altersadaptierten Form im Zentrum stehen.
n Zu den häufigsten Befunden gehören die Synechie der Vulvaränder, die Varianten des Hymens, die Klitorisvorhauthypertrophie und die Labienhypertrophie.
n Die Varianten des Hymens sind bei den einfachen Fehlbildungen mit dem höchsten Krankheitswert verbunden. Sie können zu Abflussstörungen nach Einsetzen der Menarche oder zu starken Schmerzen und Blutungen bei der Verwendung von Tampons oder der Kohabitarche führen.
Klinische Untersuchung
Für die Untersuchung eignet sich auch bei jungen Patientinnen der gynäkologische Stuhl, bei kleinen Mädchen oft auf dem Schoss der Mutter. Bei ängstlichen Kindern bieten wir die Möglichkeit einer Lachgas-Analgosedation an. Wenn immer möglich, erfolgt die Untersuchung mithilfe einer kolposkopischen Vergrösserung. Dem Kind die Angst zu nehmen, hat oberste Priorität. Grundsätzlich soll die Untersuchung respektive die Beurteilung von kranial nach kaudal erfolgen. Wir beginnen mit der Inspektion des Genitales zur Beurteilung des Pubertätsstadiums und der Hautverhältnisse. Darauf folgt die Separation, um die Klitoris inklusive Vorhaut, die Labia minora und den interlabialen Zwischenraum besser einzusehen. Mithilfe der Traktionsmethode (Abbildung 1) lassen sich weiter der Meatus urethrae, das Vestibulum vaginae inklusive Hymen und Introitus vaginae und die hintere Kommissur am besten darstellen. Auf eine Spekulumuntersuchung wird bis auf wenige Ausnahmen (z. B. Chlamydienabstrich bei einer sexuell aktiven Jugendlichen) verzichtet. Falls eine Indikation besteht, erfolgt durch unsere Kolleginnen in der Kinderurologie eine Vaginoskopie in Narkose, um die vaginalen Verhältnisse zu beurteilen (Ausschluss Tumore, Fremdkörper, Trauma). Die bewusste Inspektion des Perineums und der Perianalregion folgt zuletzt. Wir bieten den Mädchen auch immer einen Handspiegel an, um ihnen die Anatomie und unsere Befunde genau erklären zu können. Jüngere Kinder spielen damit und sind abgelenkt.
Klitoris
Ein nur sehr kleiner Teil der Klitoris kann als Teil der Vulva von aussen gesehen und getastet werden: die Glans clitoridis mit ihrem Präputium. Analog zum Penis besteht das Organ aus zwei Crura mit darunter liegenden Corpora cavernosa, welche die Vagina von beiden Seiten umrahmen und sich bis zu 11 cm ins kleine Becken ausdehnen. Bei dem nicht seltenen Verdacht auf eine Klitorishypertrophie findet sich sehr häufig lediglich eine Hypertrophie des Präputiums, welche eine Vergrösserung der Klitoris vortäuscht (Abbildung 2). Dieses klinische Bild ist als anatomische Variante ohne pathologischen Charakter einzustufen und bedarf keiner Intervention. Eventuell kann es zu Beschwerden durch mechanische Reizung (enge Hosen, Reiten, Fahrradfahren) kommen. Durch Zurückstreifen des Präputiums kann die Glans eingesehen und ausgemessen werden. Aus dem Produkt des längsten sagittalen und transversen Durchmessers in Millimeter ergibt sich ein Index in mm2. Als Richtwerte gelten Messungen von mehr als 15 mm2 beim Säugling und Kleinkind und Werte grösser als 21 mm2 bei der Jugendlichen beziehungsweise der erwachsenen Frau als pathologisch.
Separation
Traktion
Abbildung 1: Untersuchungsmethode Quelle: Uchenna Kennedy, Kinderspital Zürich
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Eine kongenitale Klitorishypertrophie finden wir bei verschiedenen Krankheitsbildern, welche mit einer vermehrten Wirkung von Androgene auf die Entwicklung des äusseren weiblichen Genitales einhergehen. Diese Patientinnen werden primär von den Kolleginnen in der Endokrinologie und der Stoffwechselabteilung betreut. Eine kongenitale Hypertrophie ohne Grunderkrankung, welche (in seltenen Fällen) persistieren kann, findet sich bei extremen Frühgeborenen (< 28 SSW). Zuletzt muss bei der Jugendlichen mit einer Klitorishypertrophie an erworbene Endokrinopathien mit Androgeniserung gedacht werden: an ein adrenogenitales Syndrom, ein late-onsetAGS oder an Tumoren der Nebennieren oder der Ovarien. Abbildung 2: Klitorisvorhauthypertrophie Quelle: Renate Hürlimann, Kinderspital Zürich Abbildung 3: Synechie der Vulvaränder Quelle: Susanne Staubli, Kinderspital Zürich Mons pubis Als Mons pubis oder Venushügel wird die Vorwölbung kranial der Vulva bzw. oberhalb des Os pubis, die durch subkutanes Fettgewebe verursacht wird, bezeichnet. Es sind keine spezifischen Fehlbildungen oder Varianten dieser Region beschrieben. Häufig ist eine Mitbeteiligung bei dermatologischen Problemen oder Infektionskrankheiten, welche dann spezifisch therapiert werden. Eher selten finden sich Lipome oder andere Tumore, als Raritäten Hämangiome oder eine Endometriose. Abbildung 4: Brückenartige Öffnung einer Synechie Quelle: Kerstin Ruoss, Kinderspital Zürich Abbildung 5: Labienhypertrophie Quelle: Susanne Staubli, Kinderspital Zürich Labia majora und minora Bei präpuberalen Mädchen sind wir sehr häufig mit einer Synechie der Vulvaränder konfrontiert. Sie ist keine angeborene Fehlbildung, sondern eine erworbene Veränderung, die viel Aufklärung benötigt. Man spricht von einer Synechie der Vulvaränder (Labiensynechie), wenn die Labia minora miteinander verklebt sind (Abbildung 3). Das Ausmass der Verklebung ist sehr variabel und kann sich über die gesamte Länge von der hinteren Kommissur bis zur Klitoris ausdehnen. Die Veränderung entsteht auf der Basis eines relativen Östrogenmangels während der hormonellen Ruheperiode. Die Anwendung von Seifen, Feuchttüchern oder zinkhaltigen Salben führt zu einer lokalen Trockenheit und Entzündungsreaktion mit konsekutiver Verklebung. Bis zu 80% der Adhäsionen lösen sich spontan, insbesondere mit Beginn der Pubertät und der zunehmenden Östrogenisierung. Eine lokale Therapie ist nur bei Symptomen notwendig, welche meist erst beim Mädchen auftreten, welches selbstständig zur Toilette geht. Dann sammelt sich der Urin in der Tasche im Bereich der hinteren Kommissur und führt zu einem lästigen «Nachtröpfeln». Durch das Einmassieren einer estriolhaltigen Creme mit Hilfe eines Wattestäbchens im Bereich der Synechie öffnet sich die Verklebung meist innerhalb von 2 bis 3 Wochen (Abbildung 4). Anschliessend muss die Creme noch für zwei Wochen an den Rändern aufgetragen werden, danach folgt eine regelmässige rückfettende Pflege. Als Nebenwirkungen werden (selten) lokale Irritationen oder Pigmen- tierung und Wachstum der Brustdrüsen beobachtet. Diese Befunde sind nach Absetzen der Therapie vollständig regredient. Häufige Fragen und Sonderformen Eine beträchtliche Zahl an jugendlichen Mädchen gelangt zu uns mit der Frage, ob die Ausprägung ihrer Schamlippen normal sei. Am häufigsten fühlen sich die Mädchen und ihre Mütter verunsichert, wenn die Labia minora die Labia majora an Grösse überragen. (Abbildung 5). Durch die Intimrasur und ein niedriges Körpergewicht mit fehlendem Fettgewebe in den Labia majora kann dieses Erscheinungsbild akzentuiert sein. Eine systematische Beurteilung zusammen mit der Begleitperson ist eminent wichtig. Die einzelnen Strukturen der Vulva GYNÄKOLOGIE 5/2021 5 SCHWERPUNKT GYNEA – Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendgynäkologie Abbildung 6: CALME; MRI-Untersuchung einer 15-jährigen Patientin mit einem CALME im Bereich des rechten Labium majus Quelle: Kerstin Ruoss, Kinderspital Zürich sollen mit den oben beschriebenen Methoden dargestellt und benannt werden. Möglich Ursachen wie Lichen sclerosus, Vulvitis, Zysten, Lipome oder Abszesse müssen zudem ausgeschlossen werden. Bei der Beurteilung der Labia minora ist darauf zu achten, dass sie vorsichtig ausgebreitet und hinsichtlich Asymmetrie beurteilt werden. Nach Ausschluss oben genannter Pathologien fokussiert sich die Behandlung auf die Aufklärung betreffend der Variabilität der Vulva bei jedem einzelnen Individuum. Gern ziehen wir die eindrückliche Bildergalerie auf http://www.labialibrary.org.au zu Hilfe. In seltenen Fällen kann bei ausgeprägter, insbesondere asymmetrischer Labienhypertrophie ab dem 19. Lebensjahr (Volljährigkeit) eine Reduktionsplastik diskutiert werden. Davor ist eine operative Therapie keine Option, da die Körperentwicklung erst etwa mit dem 18. Geburtstag abgeschlossen ist. Heterotope Talgdrüsen, die sogenannten Fordyce-Spots können in der Pubertät deutlich zunehmen und die Jugendlichen ebenfalls verunsichern. Es handelt sich um dermale Talgdrüsen, die nicht an Haarfollikel gebunden sind und sich vor allem im Bereich der Labia minora ausdehnen. Bei einer deutlichen Asymmetrie der Labia majora vor der Pubertät ist an ein CALME (childhood asymmetric labium majus enlargement) zu denken (Abbildung 6). Es handelt sich dabei um eine seltene gutartige, diffuse Vermehrung des lokalen subkutanen Gewebes, das sich bis zum Mons pubis ausdehnen kann. Wenn sich sowohl palpatorisch als auch mittels Bildgebung (Sonografie oder MRI) lediglich ein Plus an physiologischem Gewebe zeigt und sich entzündliche Veränderungen oder eine Neoplasie ausschliessen lassen, sind keine weiteren Abklärungen notwendig. Auf eine Biopsie kann verzichtet werden. Auch in dieser Situation ist die Aufklärung zusammen mit der psychologischen Unterstützung der wichtigste Eckpfeiler in der Behandlung. Eine Prognose ist schwierig, häufig bildet sich der Befund mit Beginn der Pubertät zurück. Vestibulum vaginae Das Vestibulum ist der Teil der Vulva, der zwischen Hymen und kleinen Labien liegt. Das Vestibulum vaginae beginnt kranial unterhalb der Klitoris und reicht bis zur hinteren Kommissur (Fourchette posterior). Spezifische angeborene Fehlbildungen im Bereich des Vestibulum vaginae finden sich kaum, physiologische Befunde, die schwierig zu interpretieren sind, hingegen oft. Wir kennen typischerweise die Hirsuties papillaris vulvae, auch Papulose genannt. Es handelt sich um gleichmässige, fingerförmige Epithelausstülpungen, histologisch Angiofibrome. Sie werden häufig mit Kondylomen verwechselt und haben keinen Krankheitswert. Abbildung 7: Hymenalvarianten Quelle: Susanne Staubli, Kinderspital Zürich Hymen Obwohl das Hymen gemäss Definition nicht zum äusseren Genitale zählt, ist es wesentlich, die wichtigsten Varianten und ihre Konsequenzen zu kennen (Abbildung 7). Beim Hymen spricht man von Fehlbildungen, wenn der Abfluss von Menstruationsblut, die Benutzung von Tampons und/oder die Kohabitarche behindert sind. Mögliche Veränderungen beziehungsweise Fehlbildungen sollten bei den pädiatrischen Vorsorgeuntersuchungen erfasst werden, um Komplikationen bei der Menarche zu verhindern. 1 bis 2% der Mädchen zeigen den Befund eines Hymen bifenestratus und/ oder microperforatus, was die Tamponapplikation verunmöglicht. Eine chirurgische Intervention soll erst nach Einsetzen der Pubertät erfolgen, idealerweise 1 bis 2 Jahre nach Thelarche. Die natürliche Östrogenisierung führt dann zu einer 6 GYNÄKOLOGIE 5/2021 SCHWERPUNKT GYNEA – Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendgynäkologie idealen Wundheilung und soll postoperativ zusätzlich während 2 bis 3 Wochen mit der lokalen Applikation von Östrogenen (Ovestin-Creme) unterstützt werden. Bei der Hymenalatresie ist eine engmaschige Begleitung notwendig, um den richtigen Zeitpunkt für eine Hymenotomie nicht zu verpassen und den Mädchen einen Hämatokolpos zu ersparen. Komplexe Fehlbildungen Die komplexen Fehlbildungen des äusseren Genitale stehen in der Regel in Zusammenhang mit Störungen der Geschlechtsdifferenzierung. Am Kinderspital Zürich werden diese Patientinnen interdisziplinär in der DSD-Sprechstunde (differences of sex development) mit den Endokrinologinnen, Urologinnen und Gynäkologinnen betreut. Auf dieses Thema wird im Rahmen dieses Artikels nicht weiter eingegangen. n Dr. med. Kerstin Ruoss Oberärztin Notfall und Kinder- und Jugendgynäkologie Universitätskinderspital Zürich 8032 Zürich E-Mail: kerstin.ruoss@kispi.uzh.ch Interesssenkonflikte: keine. Quellen: – Kennedy U.: Fehlbildungen des äusseren Genitale, Leading Opinions Gynäkologie & Geburtshilfe 3/2021. – AWMF-Leitlinie «Weibliche genitale Fehlbildungen» 03/2020. – Emans SJ, Laufer MR.: Goldstein’s Pediatric & Adolescent Gynecology. 7th edition 2020: 204ff und 189-191. – Heller DS.: Lesions of the Mons Pubis: a review. 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