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UPDATE
Gestationsdiabetes und Stillen
Langzeitprävention für Mutter und Kind
Diabetes mellitus mit weltweit steigender Tendenz betrifft zunehmend auch Frauen im gebärfähigen Alter. Für Gestationsdiabetes (GDM) sind die geburtshilflichen Risiken gut bekannt. Leider geht der GDM auch mit einem erhöhten Lebenszeitrisiko für die Entwicklung von Diabetes mellitus und Adipositas sowohl bei der Mutter als auch beim Kind einher. In diesem Beitrag wird aufgezeigt, wie Stillen diesen Risiken entgegenwirken kann.
CORA ALEXANDRA VÖKT
Cora Alexandra Vökt
Die Prävalenz von Gestationsdiabetes liegt derzeit bei 10 bis 15% (1). Die Ursachen liegen in der zunehmenden Adipositas bereits in jungem Lebensalter, geringerer körperlicher Aktivität, erhöhtem Durchschnittsalter der Mutter zum Zeitpunkt der Familiengründung und strengeren Diagnosekriterien (2, 3). Die geburtshilflichen Risiken des nicht erkannten oder nicht suffizient behandelten GDM sind in Abbildung 1 und 2 aufgeführt.
Problem Übergewicht im frühen Lebensalter für die Schwangerschaft
Seit den Achtzigerahren haben Übergewicht und Adipositas bei Erwachsenen, aber auch im Kindesund Jugendalter stark zugenommen. Jede fünfte Frau und jeder siebte Mann sind in Europa adipös. 20% aller Kinder und Jugendlichen sind übergewichtig, 5% adipös. Untersuchungen zeigen, dass in vielen Fällen schon pränatal sowie in den ersten drei Lebensjahren der Grundstein für die spätere Entwicklung von Übergewicht/Adipositas und Diabetes mellitus gelegt wird. Dies bedeutet aber auch, dass in dieser Zeitspanne bereits viel für die Prävention von Übergewicht und Diabetes mellitus getan werden kann. Die Ernährungs- und Stoffwechsellage der schwangeren Frau sowie des Säuglings und Kleinkindes haben in dieser Zeit grossen Einfluss auf deren gegenwärtige und spätere Gesundheit.
Bedeutung der Muttermilch im Stoffwechsel
Stillen senkt sowohl bei der Mutter als auch beim Kind das Risiko, später an einem Diabetes mellitus zu erkranken. Verbessert wird der mütterliche Metabolismus, insbesondere die Glukose-Homöostase (niedrigerer Nüchtern- und postprandialer Blutzucker), die Insulinsensitivität und der Fettstoffwechsel (5). So haben Frauen mit Diabetes mellitus Typ I während der Stillperiode einen signifikant niedrigeren Insulinbedarf als nicht stillende Frauen. Das Brustdrüsen-
gewebe ist besonders insulinsensitiv. Laktozyten nehmen vermehrt Blutzucker auf, dadurch werden der Insulinspiegel im Blut gesenkt und die insulinproduzierenden Betazellen des Pankreas entlastet. Auch im Lipidstoffwechsel erfolgt eine Umverteilung: Die bei Nichtstillenden bevorzugt in Leber und Muskulatur gespeicherten Lipide werden bei Stillenden stattdessen in der Muttermilch sezerniert, was zu einer weiteren Verringerung der Insulinresistenz führt. Zudem haben Stillende höhere Prolaktinwerte, fördern deren Proliferation über Prolaktinrezeptoren an den Betazellen des Pankreas und minimieren die Apoptose. Dieser betazellfördernde Effekt bleibt während der Stillzeit und gegebenenfalls darüber hinaus bestehen (6). Ferner ist die Aktivierung der Prolaktinrezeptoren im Hypothalamus in der Regulation der hepatischen Insulinsensitivität involviert. Zu beachten: Das spätere Diabetesrisiko der Frau wird um 3 bis 15% pro Stilljahr der kumulativen Gesamtstilldauer gesenkt (6).
Probleme bei adipösen Müttern und nach Gestationsdiabetes
Leider klappt das Stillen sowohl bei adipösen als auch bei Müttern nach GDM oft weniger gut. Sie stillen ihre Kinder seltener und weniger lang als Frauen ohne diabetische Stoffwechselstörung in der Schwangerschaft. Sowohl bei GDM als auch bei Übergewicht und Adipositas besteht ferner per se eine erhöhte Wahrscheinlichkeit für eine nicht ausreichende Milchbildung, deshalb ist ein gutes Stillmanagement nach der Geburt besonders essenziell. Bei Frauen mit Typ-1-Diabetes setzt die reichliche Milchbildung zudem erst verspätet ein.
Milchbildung post partum Insulin spielt eine direkte Rolle bei der Milchsynthese der Brustdrüse. Bei Störung des Blutzucker- und Insulinstoffwechsels kann das «Anschalten» der Milchdrüsen beeinflusst oder gehemmt sein (7). Übergewicht
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Risiko für intrauterinen Fruchttod (IUFT) Frühgeburtsrisiko Risiko für Makrosomie
Schulterdystokie
• Clavicula-Fraktur • Plexusparesen
Höhergradige Dammrisse
• Schmerzen • Inkontinenz
höhere Blutzuckerwerte sowie eine gute Temperaturstabilität (8). Idealerweise sollten Neugeborene von Müttern mit GDM innert 30 bis 60 Minuten nach der Geburt gestillt werden, da sie ein erhöhtes Hypoglykämierisiko haben. Falls das Neugeborene innert der ersten Lebensstunde noch nicht bereit zum Stillen ist, ist per Hand entleertes (d.h. durch Brustmassage gewonnenes) Kolostrum die ideale primäre Nahrung. Der hohe Proteingehalt des Kolostrums unterstützt die Blutzuckerstabilisierung und fördert die Ketogenese, welche das noch unreife Gehirn des Neugeborenen vor niedrigen oder wechselnden Blutzuckerspiegeln schützt (9, 10).
PPH-Risiko
• Anämie • Thromboserisiko
Interventionen
• Einleitungen • vaginal-operative und
Sectio-Entbindungen
Abbildung 1: Erhöhtes Risiko für geburtshilfliche und neonatale Komplikationen bei nicht erkanntem oder nicht suffizient eingestellten GDM
Maternale Hyperglykämie
Erhöhtes intrauterines Glukoseangebot
Bildung von weissem Fettgewebe
Surfactant-Bildung
Diabetische Fetopathie:
Hypoglykämie Atemstörungen
Polyglobulie Hypokalzämie Hypomagneiämie Hyperbilirubinämie
Glykogenspeicherung im
Herzmuskel
Fetale Insulinsekretion
Intrauterine Erythropoetinspiegel
Der «Preis» der Zufütterung mit Formulamilch Je nach Güte der präpartalen GDM-Einstellung ist gemäss den neonatologischen Empfehlungen dem Neugeborenen nach dem Stillen grosszügig Formulamilch zusätzlich anzubieten (11, 12). Letzteres kann jedoch den Stillerfolg beeinträchtigen, da die Kinder wegen der grösseren Magenfüllung länger gesättigt, dadurch weniger an der mütterlichen Brust interessiert sind und diese weniger zur Milchbildung stimuliert wird (13). Auch gibt es Hinweise, dass mit künstlicher Säuglingsmilch (Formulamilch) ernährte Säuglinge ein höheres Risiko haben, später einen Typ-2-Diabetes zu entwickeln, als gestillte Säuglinge (14). Bei übergewichtigen oder adipösen Säuglingen ist die Ernährung mit Formulamilch mit einer reduzierten Insulinsensitivität und einer erhöhten Insulinsekretion assoziiert (7). Aus alldem folgt ein bis heute scheinbar unlösbares doppeltes Dilemma: Zufütterung von Formulamilch ergibt den kurzfristigen Benefit der Verhinderung einer möglichen Hypoglykämie beim Neugeborenen, aber um den Preis eines durch die Formulamilchgabe weiter potenzierten Risikos für die Entwicklung eines späteren Diabetes mellitus. Für die Mutter, die durch den GDM und/oder die Adipositas bereits ungünstigere Stillvoraussetzungen hat, werden diese durch die Zufütterung von Formula weiter verschlechtert. Die Lösung liegt in der antenatalen Kolostrumgewinnung.
Abbildung 2: Folgen für den Fetus bei nicht diagnostiziertem/nicht eingestelltem GDM
ist ein unabhängiger Risikofaktor, da Fettgewebe Östrogene produziert, sodass die Initiierung der Milchbildung beeinträchtigt sein kann. Intensives Bonding unmittelbar nach der Geburt gehört neben der Frühfütterung zur Prävention einer Hypoglykämie des Neugeborenen und ist essenziell für einen erfolgreichen Stillstart. Neugeborene mit frühem Haut-zu-Haut-Kontakt zeigen eine höhere Stabilität der kardiorespiratorischen Parameter und
Vorteile durch antenatales Kolostrum Durch die antenatale Kolostrumgewinnung, das heisst die Gewinnung von Muttermilch durch Brustmassage in den letzten Wochen vor der Geburt, kann in vielen Fällen die Zufütterung von künstlicher Säuglingsmilch an hypoglykämiegefährdete Neugeborene vermieden werden. Damit wird ausschliessliches Stillen möglich, und ein erhöhtes Risiko für die Mutter oder das Neugeborene durch Formulamilchgabe wird vermieden (1%). An dieser Stelle soll auf den Artikel von Frau Christa Herzog-Isler (Seite 36 ff.) hingewiesen werden.
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Fazit: Stillen wirkt protektiv bei Mutter und Kind
Langfristige positive Effekte für die Mutter: Stillen reduziert signifikant das Risiko für die Entwicklung: I eines Typ-2-Diabetes, wobei die Risikosenkung
mit der Stilldauer korreliert I eines metabolischen Syndroms: bis zu 20 Jahre
nach der Geburt verbessertes Lipidprofil I kardiovaskulärer Erkrankungen bei Müttern mit
GDM bis zu 20 Jahre nach der Entbindung I eines prämenopausalen Mamma- sowie eines
Ovarialkarzinoms.
Positive Effekte der Muttermilch für das Kind:
Gestillte Kinder:
I erkranken seltener an Infektionen des Gastroin-
testinaltraktes, der oberen und unteren Luftwege
und der Ohren
I erkranken seltener an Übergewicht und Diabetes
mellitus Typ 1 und 2 (16).
I Stillen ist zudem an der Etablierung des frühkind-
lichen Mikrobioms wesentlich beteiligt (17).
Die Weltgesundheitsorganisation empfiehlt aus-
schliessliches Stillen für die ersten 6 Lebensmonate,
beginnend in der ersten Lebensstunde nach der Ge-
burt. Es gibt keinen Hinweis, dass die frühe Ein-
führung von Beikost zwischen dem 4. und 6. Lebens-
monat irgendeinen Vorteil für das Kind mit sich bringt
(18). Auch nach der Einführung von Beikost wird er-
gänzendes Stillen bis zum Alter von 2 Jahren emp-
fohlen.
I
Dr. med. Cora Alexandra Vökt Leitende Ärztin Geburtshilfe und Pränatalmedizin SP Feto-Maternale Medizin Frauenklinik Spital Grabs 9472 Grabs E-Mail: cora.voekt@srrws.ch
Interessenkonflikte: keine.
Stillen – eine wichtige Präventionsaufgabe
Präkonzeptionelle Adipositas sowie starke Gewichtszunahme in der Schwangerschaft sind unabhängig von einem Gestationsdiabetes bestehende signifikante Risikofaktoren für geburtshilfliche Komplikationen, wie erhöhte Sectiorate und fetale Makrosomie. Auch ohne GDM zeigen adipöse Frauen um 0,3 bis 0,6 mmol/l höhere Blutzuckerwerte als normalgewichtige! Die Prävalenz von Makrosomie – von übergewichtigen und adipösen Neugeborenen (sog. large for gestational age) – verdoppelt sich bei GDM und normalem BMI quasi, von 7,7 auf 13,6% und bei übergewichtigen Frauen von 12,7 auf 23%. Mit der Ausstossung der Plazenta nach der Geburt verschwindet der Schwangerschaftsdiabetes bei fast allen Frauen wieder. Allerdings entwickeln 25 bis 50% aller Mütter innerhalb von 5 bis 10 Jahren nach der Geburt einen Typ-2-Diabetes. Auch die Kinder diabetischer Eltern haben ein erhöhtes Risiko, im Verlauf des Lebens selbst an Diabetes mellitus zu erkranken (19). Stillen wirkt sowohl für die Mutter als auch für das Kind in vielerlei Hinsicht präventiv und senkt das Risiko, im Verlauf des späteren Lebens an Adipositas und/oder Diabetes mellitus zu erkranken. Bereits vor der Geburt sollte auf die Vorteile des Stillens für Mutter und Kind explizit hingewiesen werden. Zudem gilt es, Strategien für einen erfolgreichen Stillstart, wie die antepartale Kolostrumgewinnung, aufzuzeigen. Vor einer neuerlichen Schwangerschaft sollten alle möglichen Massnahmen einer Primärprävention durch Änderung des Lebensstils ergriffen werden: Rauchstopp, Einhalten einer gesunden Ernährung, regelmässige sportliche Aktivität (150 min/Woche), Normalisierung des Körpergewichtes.
Quellen: 1. www.diabetesschweiz.ch/diabetes/schwangerschaftsdiabetes 2. Ryser Rietschi J et al.: Fasting glycaemia to simplify screening for gestational diabetes. BJOG 2016; 1123(13): 2219–2222. 3. Expertenbrief No. 37 der SGGG: Screening auf Gestationsdiabetes, 1. Juni 2011. 4. HAPO Study Cooperative Research Group: Hyperglycemia and Adverse Pregnancy Outcomes. N Engl J Med 2008; 358(19): 1991–2002. 5. Gunderson EP, Lewis CE et al.: Lactation Duration and Progression to Diabetes in Women Across the Childbearing Years. The 30-Year CARDIA Study. JAMA 2018. (doi:10.1001/jamainternmed.2017.7978) 6. Much D et al.: Lactation is associated with altered metabolomics signatures in women with gestational diabetes. Diabetologica 2016; 59(10): 2193–2202. 7. Manco M et al.: Insulin dynamics of breast- or formula-fed overweight and obese children. J Am Coll Nutrition. 2011; 30(1): 29–38. 8. Moore ER et al.: Cochrane Database of Systematic Reviews 2016, Issue 11; CD003519. 9. Marinelli K, Stellwagen L, MacEnroe T.: Enriching hospital support of breastfeeding. 2012. [audio podcast]. Retrieved from: http://www.ilca.rg/i4a/pages/index. cfm?pageid=4131 10. Tozier PK.: Colostrum Versus Formula Supplementation for Glucose Stabilization in Newborns of Diabetic Mothers. JOGNN 2013; 42: 619–628. 11. Swiss Society of Neonatalogy: Betreuung von Neugeborenen > 34 0/7 mit erhöhtem Hypoglykämierisiko oder Hypoglykämie im Gebärsaal oder in der Wochenbettstation 10/2007 © www.neonet.ch 12. S3-Leitlinie Gestationsdiabetes mellitus (GDM), Diagnostik, Therapie und Nachsorge. 2. Auflage AWMF-Registernummer 057–008 © DDG, DGGG-AGG 2018. 13. Holmes AV.: Establishing successful breastfeeding in the newborn period. Pediat Clinics North America 2013; 60, 147–168. doi:10.1016/j.pcl.2012.09.013 14. Owen CG et al.: Does breastfeeding influence the risk of type 2 diabetes in later life? A quanitative analysis of published evidence. Am J Clin Nutrition 2006; 84: 1043–1054. 15. Forster DA et al.: Advising women with diabetes in pregnancy to express breastmilk in late pregnancy (Diabetes and Antenatal Milk Expressing [DAME]: a multicentre, unblinded, randomised controlled trial. Lancet 2017; 389: 2204–2213. 16. McFadden A, Gavine A et al.: Cochrane Database of Systematic Reviews 2017, Issue2. Art.No.: CD001141. 17. König B.: Die Bedeutung des Mikrobioms bei Neugeborenen. Neonatologie Scan 2017; 06(03): 21. 18. Smith HA, Becker GE.: Cochrane Database of Systematic Reviews 2016, Issue 8. Art.No.: CD006462. 19. Florez JC, Hirschhorn J, Altshuler D.: The inherited basis of diabetes mellitus: Implications for the genetic analysis of complex traits. Ann Review Genomics Human Genetics 2003; 4: 257–291.
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