Transkript
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Gestagen-Kontrazeption im Aufwind
Substanzen – Eigenschaften, Empfehlungen, Entwicklungen
Gestagen-Präparate spielen als Alternative zur kombinierten Antikonzeption eine zunehmend wichtige Rolle, da sie mit einer Reihe spezieller Benefits bei einigen kardiovaskulären Risikofaktoren verbunden sind. Der folgende Beitrag gibt eine Übersicht über Gestagen-Typen und ihre spezielle Wirkungen.
GABRIELE S. MERKI
Die Einführung der ersten kombinierten Verhütungspille, 1960 von der amerikanischen Zulassungsbehörde FDA auf den Markt gebracht, war eine Sensation. Zugrunde lag dieser Entwicklung die Beobachtung, dass es möglich ist, mit Progesteron-Injektionen im Tierversuch den Eisprung zu hemmen. Um ein stabiles Blutungsmuster zu erreichen, war es erforderlich, das Gestagen mit einem Östrogen zu kombinieren. Schon bald wurde aber auch klar, dass das synthetisch hergestellte, sehr potente Ethinylestradiol für kardiovaskuläre Komplikationen wie Thrombose, Lungenembolie, Herzinfarkt und Hirninfarkt verantwortlich ist. Durch Reduktion der Ethinylestradiol-Dosis auf 15 bis 30 µg konnte dieses Risiko erheblich reduziert werden. Heutzutage wenden Frauen die hormonale Kontrazeption schon in sehr jungem Lebensalter und über Jahrzehnte an. Deshalb ist es sehr wichtig, auch diese niedrigen Risiken im Auge zu behalten und Kombinationspräparate erst nach einem entsprechenden
Risikocheck zu verschreiben. Empfehlungen dazu finden Sie auf der Homepage der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe (www.sggg.ch; Expertenbrief Nr. 35 und Anlagen).
Gestagen-Präparate in der Kontrazeption
Gestagen-Präparate sind in den in der Kontrazeption üblichen Dosierungen nicht mit diesen Komplikationen assoziiert. Deshalb spielen sie als Alternative zur kombinierten Antikonzeption eine zunehmend wichtige Rolle. Ein gewisser Nachteil der bisher verfügbaren Gestagen-Präparate ist das instabile, nicht für alle Frauen akzeptable Blutungsmuster. Zudem haben Gestagene nicht die gleichen Benefits wie die mit Östrogenen kombinierten Präparate. Bei Letzteren werden von den Frauen neben der Vorhersagbarkeit der Menstruationsblutung besonders der positive Effekt auf Haut und Haare, Menstruationsschmerzen und Menstruationsstärke geschätzt.
Merkpunkte
I Verhütung mit reinen Gestagen-Präparaten erhöht nicht das kardiovaskuläre Risiko.
I Desogestrel allein als Pille hat häufig einen positiven Einfluss auf Migräne. I Frauen mit Migräne sind einem besonders hohen Risiko für einen zerebra-
len Insult ausgesetzt, wenn sie kombinierte Pillen einnehmen. I Neurologische Benefits von Progesteron schliessen vor allem Repair-
Mechanismen im Gehirn ein, ebenso die Förderung der Myelinisierung und die Therapie des Hirninfarkts. I Da die Steroidstruktur der Gestagene und ihre Partialwirkungen unterschiedlich sind, müssen die neurologischen Benefits für die einzelnen Gestagene im Einzelnen untersucht werden. I Eine Reihe von Gestagenen zur Verhütung, als ovulationshemmende Pille oder Ring, sind in der Entwicklung und eine wichtige Alternative für Frauen, die die vorhandenen Gestagen-Präparate nicht vertragen.
Gestagen-Typen Das natürliche Progesteron wird wegen seiner schlechten Wirksamkeit bei oraler Applikation in der Kontrazeption nicht angewandt. Die stattdessen hergestellten synthetischen Gestagene können sich in Eigenschaften und Wirkungen erheblich unterscheiden. Das etwas ältere Levonorgestrel hat leichte androgene Partialwirkungen. Diese Partialwirkung besteht kaum noch bei den Gestagenen der dritten Generation, wie Gestoden und Desogestrel und seinem Metaboliten Etonogestrel. Zu erwähnen sei hier noch das Drospirenon, welches sich durch antiandrogene und antimineralokortikoide Wirkungen auszeichnet. Medroxyprogesteronacetat gehört zur Gruppe der Progesteronderivate und hat eine geringe glukokortikoide Partialwirkung (Tabelle).
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Gestagen-Kontrazeption und kardiovaskuläres Risiko
Nach heutigem Wissen erhöhen die in der Schweiz zur Verhütung angewandten Gestagene nicht das Risiko für kardiovaskuläre Ereignisse (1).
Gestagen-Kontrazeption und Migräne
Epidemiologische Studien zeigen, dass 11 bis 14% der Bevölkerung von einer Migräne betroffen sind – Frauen drei- bis viermal häufiger als Männer. Die Migräne ist mit einem erhöhten Risiko für einen ischämischen Insult assoziiert, wobei die Migräne mit Aura (MA) das Risiko stärker erhöht als die einfache Migräne (2). Ein Alter über 35 Jahre, Rauchen und Einnahme kombinierter oraler Kontrazeptiva erhöhen dieses Risiko weiter (3, 4). Neben dem erhöhten Schlaganfallrisiko besteht bei Frauen mit MA ein leicht erhöhtes Risiko, an einem Myokardinfarkt zu versterben. Deshalb kommt eine kombinierte Pille für diese Patientinnen in der Regel nicht infrage. Mehrere Studien der letzten Jahre zeigen, dass die ovulationshemmende Gestagen-Pille mit Desogestrel nicht nur eine sichere Verhütung bietet, sondern auch einen positiven Einfluss auf Migränehäufigkeit, Schmerzmittelkonsum und Lebensqualität dieser Frauen hat (4–6). Gestagen-Rezeptoren sind in vielen Arealen im Gehirn vorhanden, die mit Migräne assoziiert sind (7). Da Gestagene unterschiedlich hinsichtlich ihrer Steroidstruktur sind, können diese Daten nicht ohne Weiteres auf andere Gestagene übertragen werden.
Neurologische Benefits von Gestagenen
Gestagen-Rezeptoren sind weitverbreitet im Gehirn. Daher erschien es sinnvoll, ihre Funktion in den unterschiedlichen Bereichen zu untersuchen.
Hirnschlag und motorische Erholung Wichtige Zellen für die Regeneration und die Myelinisierung sind Oligodentrozyten und deren Vorläuferzellen (OPC) (8). In mehreren Studien konnte in einem Hirnschlagmodell gezeigt werden, dass Progesteronapplikation bei männlichen und weiblichen Mäusen dazu führt, dass ischämische Infarkte kleiner sind und auch die motorische Erholung bei Tieren nach intravenöser Progesteron-Gabe deutlich besser war (9). Ähnliche Resultate zeigten sich für das nicht oral wirksame Nestoron, aber nicht für Medroxyprogesteronacetat. Dies unterstreicht erneut, dass aufgrund der unterschiedlichen Steroidstruktur solche speziellen Eigenschaften für jedes Gestagen einzeln untersucht werden müssen. Die PROTECT-Studie untersuchte die Progesteron-Gabe innerhalb der ersten Studie nach Hirntrauma beim Menschen und fand eine geringere Sterblichkeit in
Tabelle:
Übersicht der Gestagene
in der Kontrazeption
2. Generation Levonorgestrel
3. Generation Desogestrel Gestoden
4. Generation Drospirenon
5. Progesteronderivat Medroxyprogesteronacetat Nestoron
der Progesteron-Gruppe im Vergleich zur Plazebogruppe (10).
Remyelinisierung Auf verschiedenen Ebenen konnte gezeigt werden, dass Progesteron und teilweise Nestoron einen positiven Einfluss auf die Myelinisierung und einen hemmenden Einfluss auf die Demyelinisierung haben können. Dies ist für Heilungsvorgänge in den Nervenscheiden relevant, aber auch bei Erkrankungen wie Multiple Sklerose. Folgende Wirkungen wurden nachgewiesen: I Progesteron und Nestoron fördern die Remyelini-
sierung von Axonen nach induzierter Demyelinisierung (Mäuse) I Nestoron reduziert die Autoimmunenzephalitis im Hippocampus im Multiple-Sklerose-Modell (Mäuse) I Progesteron und Nestoron fördern die Myelinregeneration in chronisch demyelinisierenden Läsionen.
Ausblick
Reine Gestagen-Präparate in der Entwicklung Bis anhin gibt es auf dem Markt nur eine ovulationshemmende Gestagen-Pille. Das Blutungsmuster unter diesem Präparat mit Desogestrel ist nicht für alle Frauen akzeptabel; ein Wechsel auf ein Kombinationspräparat ist oft schwierig, wenn Risikofaktoren vorliegen. Im Hinblick auf die vielen potenziellen und in der Zukunft noch weiter zu erforschenden Benefits der Gestagene ist es erfreulich, dass weitere GestagenMonopräparate für die Kontrazeption in der Pipeline sind. Ein interessanter Ansatz ist die Pille mit Drospirenon, die in einem 24/4-Tage-Muster eingenommen wird. Von diesem Schema erhofft man sich ein stabileres Blutungsmuster. Die Ovulationshemmung mit Drospirenon 4 mg in dem 24/4-Tage-Schema ist genauso gesichert wie mit Desogestrel 75 µg (11). In einer prospektiv randomisierten Studie hatten die Frauen unter der Drospirenon-Pille weniger Blutungs- und Spottingtage (11).
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In der Entwicklung sind auch kontinuierlich zu appli-
zierende Levonorgestrel-freisetzende Vaginalringe
(12). Über deren Blutungsmuster ist bis anhin wenig
bekannt. Weiterhin wird der Effekt von Levonorge-
strelbutanoate als 6-Monats-Injektion untersucht (13).
Präparate mit dem Progesteronderivat Nestoron
(oral nicht aktiv) sind als Vaginalring in der Prüfung.
Es bleibt zu hoffen, dass in Zukunft die Auswahl an
verfügbaren reinen Gestagen-Methoden weiter zu-
nimmt – und so an die individuelle Verträglichkeit der
Frauen besser angepasst werden kann.
I
Prof. Dr. med. Gabriele Susanne Merki Leiterin Zentrum für Schwangerschaftsverhütung Klinik für Reproduktions-Endokrinologie Sprechstunde für hormonelle Migräne und Adoleszenz Universitätsspital Zürich 8091 Zürich E-Mail: gabriele.merki@usz.ch
Interessenkonflikte in Zusammenhang mit diesem Artikel: keine.
Quellen: 1. Lidegaard O, Nielsen LH, Skovlund CW, Skjeldestad FE, Lokkegaard E.: Risk of venous thromboembolism from use of oral contraceptives containing different progestogens and oestrogen doses: Danish cohort study, 2001–9. BMJ 2011; 343: d6423. 2. Schurks M, Buring JE, Kurth T.: Migraine, migraine features, and cardiovascular disease. Headache 2010; 50: 1031–1040. 3. Schurks M, Rist PM, Bigal ME, et al.: Migraine and cardiovascular disease: systematic review and meta-analysis. BMJ 2009; 339: b3914. 4. Nappi RE, Sances G, Allais G, et al.: Effects of an estrogen-free, desogestrelcontaining oral contraceptive in women with migraine with aura: a prospective diary-based pilot study. Contraception 2011; 83: 223–228. 5. Merki-Feld GS, Imthurn B, Langner R, Sandor PS, Gantenbein AR.: Headache frequency and intensity in female migraineurs using desogestrel-only contraception: a retrospective pilot diary study. Cephalalgia 2013; 33: 340–346. 6. Merki-Feld GS, Imthurn B, Langner R, Seifert B, Gantenbein AR.: Positive effects of the progestin desogestrel 75 mug on migraine frequency and use of acute medication are sustained over a treatment period of 180 days. J Headache Pain 2015; 16: 522. 7. Meffre D, Labombarda F, Delespierre B, et al.: Distribution of membrane progesterone receptor alpha in the male mouse and rat brain and its regulation after traumatic brain injury. Neuroscience 2013; 231: 111–124. 8. Labombarda F, Gonzalez SL, Lima A, et al.: Effects of progesterone on oligodendrocyte progenitors, oligodendrocyte transcription factors, and myelin proteins following spinal cord injury. Glia 2009; 57: 884–897. 9. Liu A, Margaill I, Zhang S, et al.: Progesterone receptors: a key for neuroprotection in experimental stroke. Endocrinology 2012; 153: 3747–3757. 10. Gibson CL, Gray LJ, Bath PM, Murphy SP.: Progesterone for the treatment of experimental brain injury; a systematic review. Brain 2008; 131: 318–328. 11. Duijkers IJ, Heger-Mahn D, Drouin D, Skouby S.: A randomised study comparing the effect on ovarian activity of a progestogen-only pill (POP) containing desogestrel and a new POP containing drospirenone in a 24/4 regimen. Eur J Contracept Reprod Health Care 2015; 20: 419–427. 12. Murphy DJ, Boyd P, McCoy CF, et al.: Controlling levonorgestrel binding and release in a multi-purpose prevention technology vaginal ring device. J Control Release 2016; 226: 138–147. 13. Edelman AB, Cherala G, Li H, Pau F, et al.: Levonorgestrel butanoate intramuscular injection does not reliably suppress ovulation for 90 days in obese and normal BMI women: a pilot study. Contraception 2016. (doi: 10.1016/j.contraception.2016.07.018. [Epub ahead of print]).
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