Transkript
EXPERTENBRIEF NO. 37 DER GYNÉCOLOGIE SUISSE SGGG
In der GYNÄKOLOGIE werden – nach Auswahl der Herausgeber – an dieser Stelle Expertenbriefe zum Schwerpunktthema publiziert (verifizierte Printform).
Expertenbrief No. 37
(siehe auch: http://sggg.ch/de/members_news/1005)
Kommission Qualitätssicherung Präsident Prof. Dr. Daniel Surbek
Screening des Gestationsdiabetes
Empfohlen wird, bei allen Schwangeren zwischen der 24. und der 28. Schwangerschaftswoche (SSW) ein Screening des Gestationsdiabetes mittels «oraler Glukosetoleranztests 75 g» durchzuführen: die Nüchtern-Blutzuckerbestimmung, der die orale Einnahme von 75 g Glukose folgt, und die Blutzuckerbestimmung nach 1 und 2 Stunden.
Michel Boulvain, Michael Brändle*, Gero Drack, Irène Hoesli, Christoph Honegger, Roger Lehmann*, Luigi Raio, Michael Singer, Amineh Troendle*, Roland Zimmermann, Daniel Surbek
Der Gestationsdiabetes (GDM) ist eine Störung des Glukosestoffwechsels, die in der Regel durch ein systematisches Screening nach der 24. SSW erstmals diagnostiziert wird und die nach der Geburt wieder verschwindet. Durch seine Behandlung versucht man, folgenden wichtigsten Risiken vorzubeugen: ■ fetale Makrosomie (Kaiserschnitt, Schulterdystokie, mütterli-
che und kindliche Geburtsverletzungen) ■ fetaler Hyperinsulinismus (neonatale Hypoglykämie) ■ Langzeitbelastung des Feten durch Hyperglykämie (erhöh-
tes Risiko für metabolisches Syndrom).
Neue Studiendatenlage – neue Kriterien
Vor Kurzem wurden zwei wichtige randomisierte Studien publiziert (1, 2). Sie haben gezeigt, dass die Behandlung von Frauen mit einem mässigen GDM mit einem perinatalen Vorteil verbunden ist. Eine Beobachtungsstudie (HAPO) hat gezeigt, dass eine Beziehung zwischen Blutzuckerwert und gewissen schlechten perinatalen Verläufen besteht und dass es keinen klaren Schwellenwert gibt, mit dem der GDM eindeutig definiert werden kann (3). Mehrere internationale diabetologische und geburtshilflichgynäkologische Gesellschaften sowie internationale Organisationen (WHO, International Diabetes Federation und andere) haben die Empfehlungen zum Screening des GDM von der internationalen Studiengruppe IADPSG übernommen (4). Diese Empfehlungen stützen sich auf die Resultate der Studie HAPO, um die Art des Screeningtests festzulegen und um den kritischen Blutzuckerwert zu definieren, mit dem bei schwangeren Frauen ein GDM diagnostiziert wird. Bei der Wahl des Schwellenwerts bezieht sich die Expertengruppe auf die Erhöhung des relativen Risikos (Odds Ratio) für eine Makrosomie und/oder auf die Erhöhung des C-Peptids im Nabelschnurblut von ungefähr 1,75.
*Schweizerische Gesellschaft für Endokrinologie und Diabetologie
Empfohlene Screeningmethode
Standardvorgehen ist die Durchführung eines «oralen Glukosetoleranztests 75 g» bei allen schwangeren Frauen zwischen der 24. und 28. SSW. Die Grenzwerte zur Diagnose eines GDM sind dabei wie folgt: ■ Nüchternblutzucker ≥ 5,1 mmol/L ■ Blutzucker nach 1 Stunde ≥ 10 mmol/L ■ Blutzucker nach 2 Stunden ≥ 8,5 mmol/L. Ein einziger pathologischer Wert genügt, um die Diagnose GDM zu stellen.
Wichtige Hinweise: ■ Die Bestimmung des Blutzuckers (BZ) muss in venösem
Plasma erfolgen. Es ist wichtig, sich zu vergewissern, dass die Frau tatsächlich seit Mitternacht nüchtern ist. Kapilläre Blutentnahmen genügen den Anforderungen zur exakten Blutzuckerbestimmung nicht. ■ Für die BZ-Bestimmung muss das spezielle Blutentnahmeröhrchen verwendet werden, welches mit einem Glukose-Oxidase-Hemmer beschichtet ist, sonst vermindert sich der Glukosewert um 1 mmol/L pro Stunde, die bis zur Bestimmung vergeht.
Mögliche Alternativen
Da die Einnahme von 75 g Glukose von manchen Schwangeren als unangenehm empfunden wird, kann folgendes zweistufige Vorgehen gewählt werden: ■ Zuerst wird ein Nüchtern-BZ bestimmt. Beträgt sein Wert
≥ 5,1 mmol/L (und ist die Frau tatsächlich nüchtern!), ist die Diagnose des GDM gegeben. Beträgt der Wert < 4,4 mmol/L, ist die Diagnose eines GDM wenig wahrscheinlich (Sensibilität 95%). Diese Variante würde es erlauben, bei 40 bis 45% der Frauen auf den oralen Belastungstest zu verzichten (< 4,4 mmol/L: 35% und ≥ 5,1 mmol/L: 8,3%). Bedingung für diese Strategie ist, dass das Laborresultat sehr schnell zur Verfügung steht oder aber, dass der allfällig notwendige orale Glukosetoleranztest mit 75 g Glukose an einem anderen Tag wiederholt wird, wenn der Wert zwischen 4,4 und 5,0 mmol/L liegt. Sollte die Glukose erbrochen werden, kann man auch anhand des NüchternBlutzuckerwerts entscheiden, ob der Test wiederholt wird oder nicht.
24 GYNÄKOLOGIE 1/2012
Um das Resultat aus venösem Plasma rasch zu erhalten, ist es eine vertretbare Strategie, ein schnelles Laborgerät mit einer Variabilität von ≤ 3% zu verwenden (z.B. «Hemocue 201», der Vollblut verwendet und das Resultat der Plasmakalibration entsprechend korrigiert, oder «Fuji-Drichem», der Plasma verwendet, was eine vorgängige Zentrifugierung des Blutes bedingt). Auch folgende Alternative ist vertretbar, obwohl die Sensibilität vermindert wird und gegenüber dem Standardvorgehen wenig Vorteile bestehen: ■ Man beschränkt sich auf die Bestimmung des Nüchtern-BZ
und des BZ eine Stunde nach oraler Belastung mit 75 g Glukose. Damit vermindert man die Sensibilität auf 87% im Vergleich zum ganzen Test. Trotzdem muss sich die schwangere Frau dem Belastungstest unterziehen.
Nicht vertretbare Alternativen
Das Screening in zwei Etappen, basierend auf einem anfänglichen Test nach O’Sullivan (50 g Glukose oral mit BZBestimmung nach 1 Stunde), kann nicht empfohlen werden, da er eine stark verminderte Sensibilität aufweist (60 bis 80%, je nach Definition des Schwellenwertes). Eine Diagnostik, die sich auf die Bestimmung des HbA1c stützt, ist nicht hilfreich, da zwischen dem Wert HbA1c und ungünstigen perinatalen Verläufen keine Korrelation besteht (HAPOStudie).
Screening des GDM im dritten Trimester
Wenn das Screening zwischen der 24. und der 28. SSW nicht durchgeführt wurde, soll es sobald als möglich im dritten Trimenon nachgeholt werden. Findet die erste Untersuchung der schwangeren Frau sehr spät statt (z.B. nach der 36. SSW), kann eine BZ-Bestimmung im Nüchternzustand (Werte ≥ 7,0 mmol/L) und/oder postprandial (Werte ≥ 11,1 mmol/L) genügen, weil eine eventuell nötige Behandlung in diesem Schwangerschaftsalter wohl nur noch einen beschränkten Einfluss haben wird. Es kann vorkommen, dass eine Frau, die zum Zeitpunkt 24. bis 28. SSW ein normales Screeningresultat hatte, im späteren Verlauf der Schwangerschaft zusätzliche Risikofaktoren aufweist (z.B. Polyhydramnion, Verdacht auf Makrosomie, Langzeitbehandlung mit Progesteron oder Kortikosteroiden). Unter Berücksichtigung der individuellen klinischen Situation könnte in solchen Fällen ein zweites Screening (Messung des Nüchtern-BZ oder eine Belastung mit 75 g Glukose) in Betracht gezogen werden.
Screening auf vorbestehenden Diabetes – bei erster Schwangerschaftskontrolle
Weist eine Frau einen oder mehrere Risikofaktoren für Diabetes Typ 2 auf, wird das Screening auf einen vorbestehenden Diabetes bei der ersten Schwangerschaftskontrolle in der Frühschwangerschaft empfohlen. Risikofaktoren sind: ■ Adipositas (BMI > 30) ■ Herkunft: nicht kaukasisch und/oder Migrantin ■ positive Familienanamnese für Diabetes Typ 2 (Verwandt-
schaft ersten Grades)
■ positive persönliche Anamnese eines Gestationsdiabetes ■ Syndrom der polyzystischen Ovarien (PCOS). Dieses Screening erfolgt durch Bestimmung des Nüchtern-BZ (≥ 7,0 mmol/L) und/oder durch eine BZ-Bestimmung 2 bis 3 Stunden postprandial (≥ 11,1mmol/L, zweimal).
Screening nach der Geburt
Frauen mit Gestationsdiabetes haben ein erhöhtes Risiko für einen Diabetes Typ 2 im späteren Leben. Dazu kommt, dass eine gewisse Anzahl der Diagnose «Gestationsdiabetes» in Wirklichkeit ein positives Screening anderer Diabetesformen bedeutet, die während der Schwangerschaft festgestellt wurden (Diabetes mellitus Typ 2, MODY). Deshalb wird empfohlen, bei Frauen, die an einem Gestationsdiabetes litten, nach der Geburt ein Diabetesscreening einzuleiten. Die allgemein gültige Empfehlung lautet dahingehend, den Test am Ende der Stillperiode oder bei wieder einsetzendem Zyklus durchzuführen. Leider erfolgt das so empfohlene Screening nur bei einem kleinen Teil der betroffenen Frauen (5). Demzufolge raten wir zu dieser Untersuchung anlässlich der routinemässigen Schwangerschaftsnachkontrolle 4 bis 8 Wochen nach der Geburt. Die empfohlene Methode ist ■ die Bestimmung des Nüchtern-BZ (Grenzwert ≥ 7,0 mmol/L)
und/oder ■ ein oraler Belastungstest mit 75 g Glukose (≥ 11,1mmol/L
nach 2 Stunden) und/oder ■ die Bestimmung des HbA1c (> 6,5%). Je nach Risikofaktoren soll dieses Screening alle 1 bis 3 Jahre erfolgen.
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. Daniel Surbek Universitäts-Frauenklinik Inselspital Bern E-Mail: qsk-sggg@insel.ch
Deutsche Übersetzung: Dr. Ueli Stoll, Prof. Dr. Daniel Surbek. Datum: 1. Juni 2011
Literatur: 1. Crowther CA, Hiller JE, Moss JR, et al: Effect of treatment of gestational diabetes mellitus on pregnancy outcomes. N Engl J Med 2005; 352(24): 2477–86. 2. Landon MB, Spong CY, Thom E, et al.: A multicenter, randomized trial of treatment for mild gestational diabetes. N Engl J Med 2009; 361(14): 1339–48. 3. Metzger BE, Lowe LP, Dyer AR, et al.: Hyperglycemia and adverse pregnancy outcomes. N Engl J Med 2008; 358(19): 1991–2002. 4. International Association of Diabetes and Pregnancy Study Groups (IADPSG) Consensus Panel. International association of diabetes and pregnancy study groups recommendations on the diagnosis and classification of hyperglycemia in pregnancy. Diabetes Care 2010; 33: 676–82. 5. Stasenko M, Liddell J, Cheng YW, et al.: Patient counseling increases postpartum follow-up in women with gestational diabetes mellitus. Am J Obstet Gynecol. 2011 Apr 21. [Epub ahead of print]
26 GYNÄKOLOGIE 1/2012