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Die neuen Ernährungsempfehlungen und die neu gestaltete Lebensmittelpyramide wurden mit Spannung erwartet. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse erforderten eine Anpassung der letzten Version von 2011. Wie andere Länder hat die Schweiz zusätzlich zu den Aspekten der individuellen Gesundheit neu auch die Auswirkungen der Ernährung auf die Umwelt berücksichtigt. Die neuen Empfehlungen wurden in der Presse gelobt und kritisiert. Klar ist, es gibt noch Unsicherheiten. Die Referentinnen und Referenten des SGE-Symposiums beantworteten die Fragen des Publikums.
Die neue Lebensmittelpyramide wurde unterschiedlich aufgenommen. Was ist für Sie die wichtigste Änderung? Urs Stalder: Die Ernährungsempfehlungen basieren auf aktuellen wissenschaftlichen Grundlagen. Der wichtigste Punkt ist, dass eine Ernährung gemäss den Empfehlungen gleichzeitig ausgewogen, gesund und nachhaltig ist. Véronique Guerne: Zentral war, aus den wissenschaftlichen Erkenntnissen in ein einfaches und effizientes Werkzeug zu bilden, das die Kommunikation mit den Menschen erleichtert und damit einen Beitrag zur Verbesserung der allgemeinen Gesundheit leisten kann. Stefanie Maeder: Es war ein wichtiger Schritt, dass die Ernährungsempfehlungen auch mit Aspekten der Umweltbelastung ergänzt wurden. Pedro Marques-Vidal: Die Schweiz hat sich in den letzten Jahren an vielen internationalen Projekten der Ernährungsforschung und an der wissenschaftlichen Debatte beteiligt. Aber man muss die wissenschaftlichen Erkenntnisse in die Praxis umsetzen. Manchmal kann man nicht alles auf einmal wollen und ein theoretisch wünschbares Verhalten im Alltag direkt umsetzen. Die Ernährungsgewohnheiten zu ändern ist ein langer Prozess, man muss praktikable Massnahmen vorschlagen. Esther Jost: Positiv finde ich, dass die neue Pyramide in einem neuen Kleid daher kommt. Dies eröffnet die Chance, sich noch einmal neu mit dem Thema auseinanderzusetzen.
Ist das Steak weg? Stalder: Fleisch erscheint visuell anders auf der Ernährungspyramide, aber die Ernährungsempfehlungen sind in diesem Punkt unverändert, wir empfehlen maximal 2–3 Portionen Fleisch pro Woche à 100– 120 g. Verarbeitetes Fleisch wie Charcuterie sollte sparsam verzehrt werden.
Sehr viel Gemüse und Hülsenfrüchte können bei älteren Menschen ein Volumenproblem darstellen. Wie kann man älteren Menschen erklären, dass sie ab 65 Jahren mehr von gewissen eiweissreichen Nahrungsmitteln essen sollten, die auf der Ernährungspyramide nicht so prominent abgebildet sind, z. B. auch Fleisch und Eier?
Guerne: Die kürzlich publizierten Empfehlungen richten sich an die Bevölkerung bis 65 Jahre. Die spezifischen Empfehlungen für Menschen über 65 werden demnächst überarbeitet. Dabei wird auch die Proteinqualität der verschiedenen Nahrungsmittel berücksichtigt. Jost: Wir erarbeiten spezifische Empfehlungen für verschiedene Bevölkerungsgruppen. Die meisten Patientinnen und Patienten kennen dieses Pyramidenmodell und können sich daran orientieren. In der Praxis sind die heutigen 65-Jährigen häufig nicht an Hülsenfrüchte gewohnt. Bei der Betreuung dieser Altersgruppe wird das Volumenproblem berücksichtigt.
Ist eine Studie geplant, ob die Empfehlungen umgesetzt werden? Stalder: In Kürze wird die MenuCH-Kids-Studie abgeschlossen, welche die Ernährungsgewohnheiten von Kindern und Jugendlichen untersucht. Die Resultate werden Mitte 2025 erwartet. Für Erwachsene ist eine erneute Ernährungserhebung geplant, um die aktuellen Ernährungsgewohnheiten nachzu vollziehen und Handlungsfelder identifizieren zu können.
In der Lebensmittelpyramide wird das weisse Fleisch hervorgehoben. Ist es aus Sicht der Regionalität, aufgrund des grossen Anteils an Grasland in der Schweiz sinnvoll, weisses Fleisch zu empfehlen, das tonnenweise in die Schweiz importiert wird? Stalder: Die Lebensmittelpyramide ist die vereinfachte visuelle Umsetzung der Empfehlungen. Sie ist ein sehr gutes Hilfsmittel, um die Grundprinzipien zu vermitteln, kann aber nicht alle Empfehlungen exakt abbilden. Die Empfehlungen zum Fleischkonsum sind unverändert geblieben. Es gibt keine Unterscheidung zwischen rotem und weissem Fleisch. Guerne: Die Pyramide ergänzt die Empfehlungen (2, 3). Daneben gibt es auch noch das Tellermodell (4), das die Portionengrössen veranschaulicht. Die Pyramide vereinfacht, damit sie leicht zu verstehen ist. So ist zwar eine Pouletbrust dargestellt, in den Empfehlungen wird die Fleischsorte jedoch nicht spezifiziert. Ein anderes Beispiel sind Gemüse und Früchte. Abgebildet sind frische, ganze Lebensmittel, doch sie können ebenso in einer anderen Form verzehrt werden.
8 Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 5|2024
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Referenzen: 1. https://www.blv.admin.ch/blv/de/
home/das-blv/organisation/kommissionen/eek/ernaehrung-im-alter.html 2. Ernährungsempfehlungen lang https://www.sge-ssn.ch/media/ct_ protected_attachments/1f2b94d775a3fc5ca3ecd581b133b4/Schweizer-Ernaehrungsempfehlungen_ Langversion_DE.pdf 3. b. Ernährungsempfehlungen kurz https://www.sge-ssn.ch/media/ct_ protected_attachments/84842dc787770badf4883e2d762026/Schweizer-Ernaehrungsempfehlungen_Kurzversion_DE.pdf 4. c. https://www.sge-ssn.ch/ich-und-du/ essen-und-trinken/ausgewogen/ausgewogener-teller/
Viele weitere Fragen finden Sie hier:
https://www.rosenfluh.ch/qr/blv-ern-empfehl-faq
Entspricht die neue Lebensmittelpyramide der «planetary health diet»? Marques-Vidal: Die Planetary Health Diet orientiert sich sehr stark an Umweltfaktoren. Auch sind sie stark von Nordamerika geprägt. So wird vom Konsum von Kartoffeln abgeraten, auf Basis von Studien, in denen die Kartoffeln nur in Form von Frites konsumiert wurden. Ein Nachteil der planetary health diet ist, dass sie für einen grossen Teil der Weltbevölkerung unerschwinglich ist. Paradoxerweise kann die Bevölkerung von ärmeren Ländern ihre Erzeugnisse exportieren und nicht selbst essen, weil sie zu teuer sind. Man muss die Empfehlungen an verschiedene Länder anpassen. Jost: Es ist wichtig, die Empfehlungen an verschiedene Länder zu adaptieren. Auch wir haben die Empfehlungen an die Ernährungsgewohnheiten der hiesigen Bevölkerung adaptiert. Guerne: Die Empfehlungen der planetary health diet decken den Nährstoffbedarf, insbesondere von Vitamin B12, nicht. Bei der Entwicklung der Ernährungsempfehlungen war das ein wichtiger Aspekt, der dazu verhinderte, der planetary health diet zu folgen. Zudem sind unsere Empfehlungen auf die Bedingungen in der Schweiz angepasst, z. B. in Bezug auf die landwirtschaftliche Produktion oder die Ernährungs gewohnheiten.
Der Transport scheint bei der Umweltbelastung kaum ins Gewicht zu fallen, trotzdem soll man regionale Lebensmittel bevorzugen? Maeder: Der Transport fällt tatsächlich nicht so stark ins Gewicht wie die landwirtschaftliche Produktion, trotzdem ist es sinnvoll, auch hier die Emissionen zu verringern. Regionalität geht immer auch mit Saisonalität einher, was ebenfalls wünschbar ist.
In den Ökobilanzierungsdatenbanken gibt es für Trinkwasserverbrauch Negativpunkte. Die Auswirkungen sind aber für regenreiche und regenarme Länder unterschiedlich. Wird dies berücksichtigt? Maeder: Beim Wasser werden regionale Aspekte berücksichtigt. Wir haben ja meist die Schweizerproduktion bewertet und als Land mit ausreichend Wasser, wird hier der Trinkwasserverbrauch nicht so stark gewertet. In einem Land mit Wasserknappheit fällt der Wasserverbrauch bei der Beurteilung stärker ins Gewicht.
Sie gehen von einer konventionellen Landwirtschaft aus. Haben Bioprodukte nicht eine bessere Umweltbilanz? Maeder: Wir haben nur die konventionelle Landwirtschaft angeschaut. Zur biologischen Anbauweise können wir keine Aussage machen. Sicher werden weniger Dünger und Pestizide angewendet, andererseits könnte mehr Einsatz auf anderen Ebenen nötig sein, um die etwas geringere Effizienz auszugleichen. Aber wir können dazu keine Aussage machen.
In Frankreich kennt man den PEF (Product Environmental Foodprint). Was ist der Unterschied zu den Schweizerischen Umweltbelastungspunkten (UBP)?
Maeder: Der PEF berechnet die Belastung der Umwelt mit anderen Vorgaben. Die UBP-Methode ist Schweiz spezifisch, sie wird in Bezug auf die Schweizer Umweltzielsetzung berechnet. Die beiden Methoden unterscheiden sich in der Gewichtung der einzelnen Belastungen für die Schlussbewertung. Deshalb können die Resultate in anderen Ländern unterschiedlich sein.
Milch hat eine geringe Auswirkung auf die Umwelt. Wie wird einberechnet, dass ja zuerst ein Kalb geboren werden muss? Maeder: Die Berechnung von Fleisch/Milch ist komplex. Wenn ein Tier mehrere Produkte generiert, muss der Umweltschaden auf die verschiedenen Produkte verteilt werden. Andere Dimensionen der Nachhaltigkeit wie z. B. das Tierwohl wurden nicht abgebildet.
Wenn wir die Lebensmittelpyramide einhalten würden, wie gross wäre dann die Umweltbelastung noch? Maeder: Dies wurde zu dem Zeitpunkt nicht explizit berechnet. Wir haben die wissenschaftlichen Grundlagen erarbeitet, um die Umweltaspekte in die Aktualisierung der Ernährungsempfehlungen einliessen lassen zu können. Guerne: Unsere Berechnungen haben ergeben, dass man bei einer Ernährung gemäss den neuen Empfehlungen die Umweltbelastung im Vergleich zum gesamtschweizerischen Durchschnitt um 25–30% reduzieren kann.
Bei den ultraprozessierten Nahrungsmitteln (NOVA 4) ist eine ungünstige Wirkung nachgewiesen. Gibt es auch Unterschiede zwischen den unteren Level (NOVA 1–3)? Man kann nicht alle Nahrungsmittel im Rohzustand essen. Eine gewisse Verarbeitung verbessert die Schmackhaftigkeit und die Sicherheit der Nahrungsmittel. Marques-Vidal: Bei den Studien wurde immer nur NOVA Klasse 4, also die ultrahochverarbeiteten Nahrungsmittel untersucht. Es gibt keine Studien zu Unterschieden zwischen den tieferen NOVA-Stufen 1–3.
Panel: • Véronique Guerne, MSc en science de la santé (op-
tion nutrition), collaboratrice scientifique, Office fédéral de la sécurité alimentaire et des affaires vétérinaires (OSAV), Berne • Esther Jost, BSc Ernährungsberaterin Leiterin Schweizerische Gesellschaft für Ernährung SGE • Stefanie Maeder, MSc ETH Umweltwissenschaften. Consultant Umwelt- und Ressourcenmanagement, Intep – Integrale Planung GmbH, Zürich • Pedro Marques-Vidal, Prof. Department für Medizin, Innere Medizin, Centre Hospitalier Univer sitaire Vaudois (CHUV) und Universität Lausanne. • Urs Stalder, MSc ETH, MAS ETH NH, Leiter Fachbereich Ernährung, Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen BLV, Abteilung Lebensmittel und Ernährung, Bern.
Aufgezeichnet von Barbara Elke.
10 Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 5|2024