Transkript
EDITORIAL
Balanceakt zwischen klinischen Erkenntnissen und ökologischen Aspekten erfolgreich gemeistert?
Die neue Lebensmittelpyramide
Liebe Leserinnen, liebe Leser Die aktuelle Ausgabe der Schweizerischen Zeitschrift für Ernährungsmedizin thematisiert in mehreren Artikeln die aktuellen Neuerungen der Lebensmittelpyramide, die in den vergangenen Monaten auf Basis neuer klinischer Erkenntnisse und erstmals auch hinsichtlich Umweltaspekten überarbeitet und grafisch neu gestaltet wurde. In diesem Kontext stellt sich die Frage, ob der Versuch, neue klinische Evidenz und Umweltfaktoren im Sinne der «Planetary Health Diet» zu integrieren, tatsächlich gelungen ist und welchen Nutzen dies für Gesellschaft und Bevölkerung bringt. Die Schweizerischen Ernährungsempfehlungen wurden vom Bundesamt für Lebensmittelsicherheit und Veterinärwesen (BLS), sowie der Schweizerischen Gesellschaft für Ernährung (SGE) aktualisiert. Dabei wurde nicht nur gesunde Ernährung, sondern auch Gesundheitsförderung und Nachhaltigkeit berücksichtigt. Was genau hat sich geändert? Einiges. Die neue Lebensmittelpyramide hebt zum Beispiel die Bedeutung von saisonalen und regionalen Produkten hervor, fördert den Konsum von Vollkorn und pflanzlichen Proteinen und empfiehlt eine Reduktion von verarbeiteten Lebensmitteln zur Prävention nichtübertragbarer Krankheiten (NCD). Darüber hinaus gibt es Anpassungen bei den Mengen- und Häufigkeitsempfehlungen für bestimmte Nahrungsmittelgruppen. Auch die Bedeutung eines bewussten Einkaufs zur Verringerung von Lebensmittelverschwendung (Food Waste) wird hervorgehoben. Zudem wird eine tägliche Bewegung von mindestens 30 Minuten empfohlen, um die Gesundheit zu fördern. Die Lebensmittelpyramide präsentiert sich auch grafisch in einem neuen Design. Bei so einer Überarbeitung ist es wichtig, kritisch den Prozess zu hinterfragen, wie genau etwa Nachhaltigkeit definiert und berücksichtigt wurde und wie die Herausforderungen aufgrund unzureichender Evidenz zu vielen Ernährungsthemen, sowie die be-
kannten Zielkonflikte zwischen gesundheitlichen Vorteilen, Umweltaspekten und den aktuellen Ernährungsgewohnheiten der Bevölkerung angegangen wurden. Zudem bleibt die Frage, ob die neue Ernährungspyramide wirklich zur Klarheit beiträgt und inwieweit sie das Essverhalten der Bevölkerung tatsächlich beeinflussen kann. Als Mitglied und Präsident der Eidgenössischen Ernährungskommission (EEK), die diesen komplexen Prozess in den vergangenen Jahren intensiv begleitet hat, kann ich sagen, dass der Weg zu den neuen Empfehlungen ein positiver war und auf einer soliden wissenschaftlichen Basis beruht. Viele Expertenmeinungen wurden diskutiert und verschiedene Aspekte sind in die finale Analyse miteingeflossen. Eine immerwährende Herausforderung besteht jedoch darin, aus nicht perfekten Studiendaten sinnvolle Ernährungsempfehlungen für die Bevölkerung abzuleiten – und dies dann noch grafisch einfach darzustellen. Es wäre nicht richtig, ganz auf Empfehlungen zu verzichten, obwohl erkennbare Zusammenhänge und Trends bestehen. Die Bewertung der gesundheitlichen Aus wirkungen von Lebensmitteln ist eine komplexe Angelegenheit. Zusätzlich wurde durch die Berücksichtigung ökologischer Aspekte eine weitere Dimension eingeführt. Ist das ein Fehler? Nein, denn ökologische Gesichtspunkte sind mitentscheidend. Ernährungsempfehlungen müssen auch praktisch in der Landwirtschaft umgesetzt werden können und dürfen unserem Planeten nicht schaden. Es besteht jedoch die Gefahr, dass nicht evidenzbasierte Meinungen und Dogmen in den Vordergrund rücken. In den kommenden Monaten wird sich zeigen, wie Ernährungsberaterinnen, Ernährungsmedizinerinnen, Gesundheitsexpertinnen und die Bevölkerung insgesamt auf diese Neuerungen reagieren und in wiefern sich das Essverhalten verändern wird. Ich wünsche Ihnen eine spannende Lektüre rund um das Thema der neuen Empfehlungen!
Philipp Schütz
Philipp Schütz Korrespondenz: Prof. Dr. med. Philipp Schütz Leiter Medizinische Universitätsklinik und Chefarzt Innere Medizin & Endokrinologie Kantonsspital Aarau AG Tellstrasse 25, 5001 Aarau E-Mail: Philipp.Schuetz@ksa.ch Präsident Eidgenössische Ernährungskommission (EEK)
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 5|2024 1