Transkript
UPDATE ERNÄHRUNG
Nachbetreuung bei mangelernährten Patientinnen und Patienten
Ambulante Ernährungstherapie nach stationärem Aufenthalt?
Claudia Negri, Michela Raia, Pascal Tribolet
Während für die stationäre Ernährungstherapie bei Mangelernährung evidenzbasierte Studien und Richtlinien existieren, bleibt die Datenlage für die weiterführende Ernährungstherapie nach der Spitalentlassung unbefriedigend. Die Umsetzung im klinischen Alltag wirft Fragen auf. In diesem Zusammenhang ging diese Bachelorthesis der Fragestellung nach, wie die Nachbetreuung bei mangelernährten, erwachsenen Patientinnen und Patienten von Ernährungsfachpersonen aktuell in den Spitälern umgesetzt wird.
Claudia Negri Michela Raia Pascal Tribolet
Die krankheitsbedingte Mangelernährung ist assoziiert mit erhöhten Komplikationsraten, verlängerter Hospitalisationsdauer, sowie erhöhter Mortalität und Morbidität (1–3). In Schweizer Spitälern liegt eine Prävalenzrate von ca. 20–25% vor (4). In den letzten Jahren konnten dank grossen Ernährungsstudien die positiven Effekte ernährungstherapeutischer Interventionen im stationären Setting nachgewiesen werden (5, 6). Jedoch ist der Nutzen der Fortführung der Ernährungstherapie bei Mangelernährung nach dem stationären Aufenthalt laut aktuellem Forschungsstand noch nicht abschliessend geklärt. Obwohl es Hinweise darauf gibt, dass Patientinnen und Patienten davon profitieren können, fehlen heutzutage grösstenteils klare Empfehlungen (7–9).
Ernährungsmanagement während Hospitalisation
Durch die Verwendung eines Ernährungsscreenings wie beispielsweise des Nutritional Risk Screenings (NRS 2002), kann das Risiko einer krankheitsbedingten Mangelernährung eingeschätzt werden. Das Ernährungsrisiko wird in erster Linie vom Pflegefachpersonal oder von der Ärzteschaft bei Spitaleintritt anhand einer Patientenanamnese beurteilt (10). Bei einem Gesamtscore von ≥ 3 Punkten besteht ein Mangelernährungsrisiko, was zur Überweisung an die Ernährungsberatung führt, welche den Ernährungszustand und die Mangelernährung anhand individueller Ernährungstherapie nach evidenzbasierten Leitlinien behandelt (11). Im Verlauf der Hospitalisation werden Ernährungsziele festgelegt und nach der Entlassung sollte überprüft werden, ob eine Fortsetzung der Ernährungstherapie erforderlich ist (12).
Ambulante Nachbetreuung nach Spitalentlassung
Eine Empfehlung zur Fortführung ambulanter Ernährungstherapie ist ausschliesslich in der ESPEN-Leitlinie für polymorbide mangelernährte Patientinnen
und Patienten zu finden (12). Die Metaanalyse und systematische Review von Kaegi-Braun et al. (2022) untersuchte die Auswirkungen von Ernährungsinterventionen bei erwachsenen Patientinnen und Patienten mit krankheitsbedingter Mangelernährung zu Hause nach der Spitalentlassung. Die ambulante Ernährungsunterstützung konnte die Langzeitmortalität um 37% reduzieren. Die Kontrollgruppe, ohne Ernährungstherapie, wies im Vergleich zur Interventionsgruppe signifikant mehr Todesfälle auf (OR: 0,63; 95%-KI: 0,48–0,84; p = 0,001) (13). Derzeit wird die EFFORT-II-Studie durchgeführt, die als bisher grösste, weltweite, ambulante Ernährungsstudie gilt. In zehn Schweizer Spitäler wird der Nutzen von einer langfristigen ambulanten Ernährungstherapie in Bezug auf die Mortalität, Morbidität und Rehospitalisationsrate untersucht. Das Hauptziel der Studie besteht darin die bestehende Forschungslücke zu schliessen, um zukünftig Therapieleitlinien für das ambulante Setting ableiten zu können (14).
Herausforderungen im Praxisalltag für die ambulante Nachbetreuung
Im klinischen Alltag gibt es neben der unzureichenden Evidenzlage weitere Herausforderungen im Umgang mit dem Mangelernährungsmanagement. Das Wissen über klinische Ernährung ist sowohl bei der Ärzteschaft als auch beim Pflegepersonal oft mangelhaft. Im Medizinstudium hat insbesondere die klinische Ernährung einen niedrigen Stellenwert, sodass das Interesse der Ärzteschaft für die klinische Ernährung während der Aus- und Weiterbildung kaum entwickelt wird (15). Das fehlende Bewusstsein über die negativen Folgen der krankheitsbedingten Mangelernährung erschwert die interdisziplinäre Zusammenarbeit für die Ernährungsfachpersonen (16). Dies führt dazu, dass der Ernährungsversorgung von mangelernährten Patientinnen und Patienten nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt wird (15). Zudem werden Mangelernährungsscreenings bei Eintritt ins Spital oft nicht konsequent durchgeführt, was dazu führt, dass
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Risikopatientinnen und Patienten übersehen werden (17). Strukturelle Probleme in Gesundheitsinstitutionen und ein Mangel an qualifizierten Ernährungsfachkräften behindern zusätzlich die Umsetzung einer angemessenen Ernährungstherapie bei krankheitsbedingter Mangelernährung (16).
Nachbetreuung von mangelernährten Patienten in Schweizer Spitälern
Im Rahmen der Bachelor-Arbeit wurden 10 Leitfadeninterviews mit unterschiedlichen Ernährungsfach personen aus dem klinischen Setting von verschiedenen Spitälern der Deutschschweiz durchgeführt. Das Ziel der Forschenden war es zu untersuchen, inwiefern aktuell die Nachsorge für mangelernährte erwachsene Patientinnen und Patienten von Ernährungsfach kräften im klinischen Alltag trotz der oben genannten Diskrepanzen durchgeführt wird und welche Orien tierungspunkte dabei berücksichtigt werden. Die Interviewdaten der Ernährungsfachpersonen zeigten bezüglich der ambulanten Nachsorge eine Vielfalt an Ansätzen im klinischen Alltag. Die Mehrheit der Befragten gab an, dass die ambulante Nachbetreuung an externe Einrichtungen delegiert wird. Telefonische Nachbetreuungen werden von den meisten bevorzugt. Die Implementierung ambulanter Nachbetreuung hängt von verschiedenen Faktoren ab, darunter die Krankheitskomplexität, der Ernährungszustand, durchgeführte Interventionen, betreuende Gesundheitsfachpersonen sowie organisatorische Einflussfaktoren wie Personal, Zeit und Kapazität. Die am bulante Nachbetreuung von mangelernährten Patientinnen und Patienten wird von Ernährungsfachpersonen oft als schwierig empfunden. Hauptgründe sind die mangelnde Einhaltung der Therapieempfehlungen durch die Patientinnen und Patienten, Probleme bei der telefonischen Erreichbarkeit und eine unzureichende Übertragung der Eigenverantwortung auf die Patientinnen und Patienten. Zudem werden Hindernisse in der interprofessionellen Zusammenarbeit und zeitliche/kapazitive Einschränkungen genannt. Der Mangel an finanzieller Anerkennung für ambulante Leistungen und der Fachkräftemangel tragen ebenfalls dazu bei, dass diese Nachbetreuungen oft nicht stattfinden. Zudem sind die Nachbetreuungen meistens nicht standardisiert geregelt. Die häufigsten Fachgebiete, in welchen ambulante Nachbetreuungen durchgeführt werden, sind in der folgenden Abbildung (Abbildung) dargestellt.
Schlussfolgerung
Derzeit besteht häufig keine einheitliche Standardisierung für die ambulante Nachbetreuung innerhalb des Mangelernährungsmanagement. Ressourcenmangel, strukturelle Probleme und mangelnde Interprofessionalität stellen für Ernährungsfachpersonen Hindernisse dar, die oft dazu führen, dass die ambulante Nachbetreuung nach der Spitalentlassung scheitert. Schulungen für Ärzteschaften und Pflegepersonal könnten dazu beitragen, dass Ernährungsfachpersonen frühzeitig in Patientenbehandlungen einbezogen werden. Strukturelle Änderungen wie der Aufbau eines Netzwerks nach der Hospitalisation, welches Ernährungsfachkräfte entlastet und insbesondere zeitliche und personelle Ressourcen für die Nachbetreuung zur Verfügung stellt, sowie klare Richtlinien und Empfehlungen für das Mangelernährungsmanagement nach der Spitalentlassung, sind ebenfalls notwendig. Diese Massnahmen können zur Förderung der interprofessionellen Zusammenarbeit beitragen. Zudem haben sie das Potenzial, dass Patientinnen und Patienten mit Mangelernährung künftig bei Bedarf, standardisierter eine angemessene, weiterführende Ernährungstherapie erhalten.
Korrespondenzadresse: Pascal Tribolet, MSc nutr. Med., Ernährungsberater SVDE Dozent Berner Fachhochschule Departement Gesundheit Murtenstrasse 10, 3008 Bern E-Mail: pascal.tribolet@bfh.ch Autorinnen und Autoren: Claudia Negri1*, Michela Raia1*, Pascal Tribolet1, 2 *Geteilte Erstautorenschaft 1Berner Fachhochschule, Departement Gesundheit, Bern 2Medizinische Universitätsklinik, Kantonsspital Aarau, Aarau
Referenzen in der Online-Version des Beitrags unter www.sze.ch
Abbildung 1: Relevante Fachgebiete als Entscheidungskriterium für eine ambulante Nachbetreuung
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