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KONGRESSBERICHT
Verschiedene Krankheiten und Lebenssituationen
Erhöhten Eiweissbedarf berücksichtigen
Die Proteine im Körper werden dauernd erneuert. Verschiedene anabole und katabole Faktoren beeinflussen den Proteinturnover. So ist bei verschiedenen Krankheitsbildern und in bestimmten Lebenssituationen der Proteinbedarf erhöht. Claudia Vogt, Fachberaterin BSc und Fachbereichsexpertin im Universitätsspital Zürich erläuterte, wieso sich der Eiweissbedarf erhöht, welche Faktoren dafür ausschlaggebend sind und wie der erhöhte Eiweissbedarf im Alltag umgesetzt werden kann.
Um die Proteine zu erneuern, muss der Körper mit ausreichend Aminosäuren versorgt werden. Der Aminosäurenpool im Körper befindet sich zu 50% im Muskel. Aminosäuren werden aber auch zum Aufbau anderer Strukturproteine, Enzyme und Hormone verwendet, auch können sie zur Energiegewinnung beitragen, in der Glukoneogenese und Ketogenese. Das Ausmass des Proteinturnovers wird von einer Reihe Faktoren beeinflusst. Das Ausmass des Proteinturnovers ist von verschiedenen Faktoren abhängig. Überwiegen die katabolen Faktoren die anabolen, kommt es zu einem Muskelmassenabbau, einem beeinträchtigten Immunsystem und der Reduktion von verschiedenen Körperfunktionen. Zu den katabolen Faktoren gehören proinflammatorsiche Zytokine und Stresshormone, welche die Eiweissaufnahme und die Eiweisssynthese hemmen. Bei verschiedenen Krankheiten und in bestimmten Lebenssituationen kommt es zudem zu einem höheren Eiweissbedarf. Für die Proteinsynthese ist eine ausreichende Nahrungszufuhr mit einem adäquaten Gehalt an Energie und Proteinen notwendig. Die Proteine müssen die essenziellen Aminosäuren in einer adäquaten Zusammensetzung enthalten, wobei Leucin eine besondere Rolle spielt. Die Eiweisssynthese wird durch die körperliche Aktivität gefördert und auch durch Hormone wie Insulin und Wachstumshormon stimuliert. Doch bei in verschiedenen Krankheitssituationen ist die Nahrungszufuhr reduziert, z. B. bei Inappetenz, Nausea, Vomitus, Schmerzen oder Fatigue. Für die Beurteilung des Energie- und Proteinbedarf und für die Umsetzung der Empfehlungen im Alltag ist eine gute interprofessionelle Zusammenarbeit wichtig.
70 kg) einen durchschnittlichen Energiebedarf von 1900 kcal und einen Proteinbedarf von 56 g/d, steigt der Bedarf in dieser akuten Situation auf 2400 kcal und 105–140 g Eiweiss/d.
Ältere Patienten
Im Alter über 65 Jahren beginnt der Eiweissbedarf zu steigen, bedingt durch verschiedene Faktoren. So ist die Proteinsynthese im Muskel durch eine zunehmende anabole Resistenz eingeschränkt. Mit der reduzierten körperlichen Aktivität wird die Proteinsynthese auch weniger stark durch die Muskelreize gefördert. Häufig ist auch eine Low-grade-Entzündung vorhanden, auch «Inflamm-Aging» genannt, ein Faktor, dem in der Forschung immer mehr Bedeutung zukommt. Die postprandiale Verfügbarkeit der Aminosäuren sinkt. Es gibt Hinweise, dass dies mit einer gewissen Darmmotilitätsstörung und einer Reduktion an Enzymen im Darmtrakt zusammenhängt. Auch hormonelle Veränderungen, wie die Abnahme von Wachstumshormon, Testosteron und Insulin-like Growth Factor 1 (IGF-1) spielen eine Rolle. Zudem kann die Insulinsensitivität verringert sein, da im Alter oft die Fettmasse auf Kosten der Muskelmasse zunimmt. All diese katabolen Faktoren müssen durch eine erhöhte Zufuhr von Eiweiss ausgeglichen werden. Doch im höheren Alter kann durch Zahnprobleme, soziale Isolation oder praktische Schwierigkeiten bei der Zubereitung des Essens der erhöhte Bedarf oft nicht gedeckt werden (2).
Eiweissbedarf bei älteren Personen über 65 Jahre: 1,2–1,5 (bis 2,0) g/kg KG/d
Eiweissbedarf bei ausgeglichenem Proteinturnover (1): Bei gesunden Personen bis etwa 65 Jahre 0,8 g/kg KG/d (1)
Akute Krankheit oder Trauma
Ein klinisches Beispiel zeigt, wie abrupt der Eiweissund Energiebedarf eines Patienten steigt, wenn er eine akute Krankheit oder ein Trauma erleidet. Hat ein gesunder 40-jähriger Patient (175 cm und
Umgerechnet auf eine einzelne Mahlzeit sind also 25–30 g Protein empfohlen, davon 2,5–2,8 g Leucin pro Mahlzeit. Es ist nicht immer einfach, die relativ grosse Menge an E iweiss gut in die Ernährung einzubauen. Im stationären Umfeld gibt es kreative Ansätze. Einige Spitäler führen am Nachmittag ein «Eiertütschet» durch, es werden also gekochte Eier als Snack angeboten. Oder durch die Zusammenarbeit mit der Physiotherapie g elingt es, den Patientinnen und Patienten den E iweiss-Drink unmittelbar nach
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der körperlichen Aktivität anzubieten. Dies ist auch der Zeitpunkt, an dem der Proteindrink die grösste Wirkung entfaltet (2, 3). Bei einer zu geringen Proteinversorgung kommt es zu Verlust der Magermasse, was schliesslich in Sarkopenie und Osteoporose münden kann. Auch die Immunantwort ist verringert. Ein Sturz mit einer allfälligen Fraktur führt häufig zu einer Verschlechterung der Lebenssituation, mit Verlust der Selbständigkeit. All diese Komplikationen der Sarkopenie sind neben den individuellen Folgen auch belastend für das Gesundheitswesen wegen der vermehrten Hospitalisationen und Rehabilitationen (3).
Die Eiweissreduktion bei hepatischer Enzephalopathie ist nicht nötig, auch nicht die früher propagierte Vermeidung von verzweigtkettigen Aminosäuren wie Leucin, Isoleucin und Valin.
Onkologische Patienten
In der Onkologie kommt es aufgrund von Inappetenz und Geschmacksveränderungen oft zu Ernährungsdefiziten, meist fehlen Protein und Energie. Aufgrund der erhöhten Müdigkeit ist auch die körperliche Aktivität verringert, somit fehlt der Muskelreiz für die Aktivierung der Muskelproteinsynthese.
Leberzirrhose
Lebererkrankungen sind im klinischen, aber auch im ambulanten Setting häufig. Auch hier führen verschiedene Faktoren zu einem erhöhten Eiweissbedarf. Aufgrund der veränderten Gewebsstruktur ist die Fähigkeit der Leber zur Glykogenspeicherung verringert. Somit muss in Fastenphasen, zum Beispiel nachts, die Glukoneogenese früher gestartet werden, wozu Aminosäuren verwendet werden.
Tabelle:
Unterschiede zwischen tierischen und pflanzlichen Proteinen (Auswahl)
Proteindichte Essenzielle Aminosäuren Leucin Energie Fett Faserstoffe
adaptiert nach (6)
Tierische Proteine ↑ ↑ ↑ ↑ ↓ ↓
Pflanzliche Proteine ↓ ↔ ↓ ↓ ↑ ↑
Auch bei einer Leberzirrhose spielen die schon besprochenen Faktoren wie die systemische Inflammation, hormonelle Veränderungen, die verringerte Insulinsensitivität und die erniedrigte körperliche Aktivität ebenfalls eine Rolle. Zusätzlich können eine Pankreasinsuffizienz und portale Hypertonie zu einer Malabsorption führen, was die Eiweiss- und Energieaufnahme reduziert. Ascites führt oft zu einem schnelleren Sättigungsgefühl, das die Energie- und Eiweissaufnahme verringert (4).
Eiweissbedarf bei Leberzirrhose: 1,2–1,5 g/kg KG/d
Bei der Leberzirrhose sollte man auf kurze Mahlzeitenabstände achten. Besonders wichtig ist eine Spätmahlzeit, um die Fastenperiode über die Nacht möglichst kurz zu halten, damit verhindert werden kann, dass die Glukoneogenese gestartet wird. Einfach und praktisch anzuwenden sind fertige Trinknahrungen, aber auch selbstgemachte Shakes oder ein fester Imbiss sind möglich. Wichtig ist, dass die Spätmahlzeit sowohl Eiweiss als auch Kohlenhydrate enthält (4).
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Eiweissbedarf bei Tumorpatienten: 1,2–1,5 g/kg KG/d
Auch führt die Grundkrankheit zu systemischen Entzündungen sowie zu einem erhöhten metabolischen Bedarf durch das Tumorwachstum.
Welche Proteine?
Empfohlen wird, dass 65% der Eiweisse in der Nahrung aus tierischen Lebensmitteln stammen, zum Beispiel aus Milch, Fisch oder Fleisch (5, 6). Eine rein pflanzliche Ernährung ist meist nicht ausreichend, wird eine solche trotzdem gewünscht, ist eine intensive Betreuung durch eine Fachperson notwendig. Andererseits werden immer mehr auch neue Eiweissprodukte entwickelt, die rein pflanzlich sind. Der Eiweissgehalt wird aufgrund des Gehalts an Stickstoff berechnet. Bei pflanzlichen Nahrungsmitteln stammt jedoch nicht der ganze Stickstoffgehalt von Proteinen, somit wird der Eiweissgehalt in pflanzlichen Nahrungsmitteln überschätzt. Auch enthalten tierische Eiweisse mehr essenzielle Aminosäuren. Pflanzliche Eiweisse haben oft einzelne Aminosäuren in geringerer Menge. Um diesen Mangel auszugleichen, ist Wissen und Sorgfalt nötig, um verschiedene pflanzliche Nahrungsmittel ideal zu kombinieren. Auch die Verdaulichkeit pflanzlicher Eiweisse ist geringer als die von tierischen Eiweissen. Zudem können antinutritive Substanzen, wie beispielsweise Tannine, die Verdaubarkeit der Proteine senken. Bei Personen, die einen hohen Anteil an pflanzlicher Ernährung aufweisen, liegt die Verfügbarkeit der Proteine zwischen 55–80%. Bei «normaler» westlicher Diät mit einem höheren Anteil tierischer Lebensmittel liegt er bei 90% (7). Eine Untersuchung hat zusammengestellt, wie sich pflanzliche und tierische Proteine unterscheiden (siehe Tabelle). Die tierischen Produkte haben eine höhere Eiweissdichte, mehr essentielle Aminosäuren in der optimalen Zusammensetzung für den Menschen, vor allem enthalten sie auch mehr Leucin (6).
Barbara Elke
Quelle: 10. Ernährungssymposium 2024: Die Muskeln – ein zentraler Faktor in der Ernährungstherapie. 18. Januar 2024. Claudia Vogt, BSc, Fachbereichsexpertin Ernährungsberatung/-therapie USZ. Protein im Behandlungskonzept.
Referenzen in der Online-Version des Beitrags unter www.sze.ch
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Literatur: 1. Joint WHO/FAO/UNU Expert Consultation. Protein and amino acid
requirements in human nutrition. World Health Organ Tech Rep Ser. 2007;(935):1-265, back cover. PMID: 18330140. 2. Volkert D et al.: ESPEN guideline on clinical nutrition and hydration in geriatrics. Clin Nutr. 2019 Feb;38(1):10-47. doi: 10.1016/j.clnu.2018.05.024. 3. Bauer J et al.: Evidence-based recommendations for optimal dietary protein intake in older people: a position paper from the PROT-AGE Study Group. J Am Med Dir Assoc. 2013 Aug;14(8):542-59. doi: 10.1016/j. jamda.2013.05.021. 4. Bischoff SC et al.: ESPEN practical guideline: Clinical nutrition in liver disease. Clin Nutr. 2020 Dec;39(12):3533-3562. doi: 10.1016/j. clnu.2020.09.001. 5. Ford KL et al.: The importance of protein sources to support m uscle anabolism in cancer: An expert group opinion. Clin Nutr. 2022 Jan;41(1):192-201. doi: 10.1016/j.clnu.2021.11.032. Epub 2021 Nov 29. PMID: 34891022. 6. Muscaritoli M et al.: ESPEN practical guideline: Clinical Nutrition in cancer. Clin Nutr. 2021 May;40(5):2898-2913. doi: 10.1016/j. clnu.2021.02.005. 7. Colombani P, Mannhart Ch: Pflanzliche Proteine: Sind sie gleichwertig? Notabene Nutrition 0.5.22. https://www.notabenenutrition.media/2022/05/03/pflanzliche-proteine-sind-sie-gleichwertig/
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