Transkript
NUTRI-SCORE
Wissenschaftliche Studien in der Schweiz
Synthese und Perspektiven zum Nutri-Score
Marie-Noëlle Falquet, Thomas A. Brunner, Undine Lehmann
Die Bereitstellung von ernährungsbezogenen Informationen auf Lebensmittelverpackungen ist notwendig, um Konsumentinnen und Konsumenten zu unterstützen, beim Kauf eine gesün dere Wahl zu treffen. Die in der Schweiz obligatorische Nährwertdeklaration auf der Rückseite der Verpackungen liefert relativ detaillierte Daten. Sie kann aber durch eine freiwillige Nähr wertkennzeichnung auf der Vorderseite der Verpackung ergänzt werden, die einfachere und besser verständliche Informationen bieten soll.
Die Weltgesundheitsorganisation betrachtet solche Kennzeichnungen als unverzichtbare Hilfsmittel und empfiehlt auf nationaler oder regionaler Ebene die Verwendung eines einheitlichen Systems, um die Nutzung für die Konsumenten zu vereinfachen und das Verständnis zu erleichtern (1). Weltweit wurden zahlreiche solche Kennzeichnungssysteme entwickelt. Am bekanntesten in der Schweiz sind die Nährstoff-Referenzwert-Kennzeichnung (Abbildung 1), die den Gehalt an Nährstoffen, deren Zufuhr begrenzt werden sollte, in einer Portion eines Lebensmittels in Zahlenwerten angibt, die Nährwertampel (Traffic Light System, Abbildung 2), die diese Zahlenwerte in einen Farbcode übersetzt, sowie der Nutri-Score (Abbildung 3). Bei Letzterem handelt es sich um ein System, das sich auf 100 g oder 100 ml des Produkts bezieht, sowohl förderliche als auch zu begrenzende Nährstoffe berücksichtigt, sämtliche Werte interpretiert und in einer farbigen Skala darstellt. Die Mehrheit der in der Schweiz lebenden Konsumentinnen und Konsumenten befürwortet eine standardisierte Kennzeichnung gesunder Lebensmittel (5). Dies geht schon aus einer 2010–2011 durchgeführten Studie der Schweizer Gesellschaft für Ernährung hervor. Die Nährwertdeklaration war in dieser Studie für 50% der Befragten schwer verständlich und wurde als einer der Hauptgründe angesehen, weshalb Schwierigkeiten bestehen, sich für gesunde Lebensmittel zu entscheiden. Im Jahr 2021 zeigte eine von Danone in Auftrag gegebene repräsentative Studie, dass 74% der Eltern in der Schweiz den Nutri-Score als obligatorisches Logo auf Produkten für Kinder unterstützen (6). Nur 10% stimmten gegen eine obligatorische Anbringung des Nutri-Scores auf Produkten für Kinder (6). In der Schweiz haben bisher nur wenige wissenschaftliche Studien das Potenzial des Nutri-Scores untersucht. Eine repräsentative Online-Studie aus dem Jahr 2019 verglich die Reaktionen der in der Schweiz lebenden Konsumentinnen und Konsumenten auf fünf verschiedene Systeme der Nährwertkennzeichnung, unter anderem den Nutri-Score, in Bezug auf Wahrnehmung, Verständnis und Auswirkungen auf
die Wahl der Lebensmittel (7). In der Untergruppe, die dem Nutri-Score ausgesetzt wurde (164 Teilnehmende), erinnerten sich 75% daran, das Logo schon einmal gesehen zu haben. Der Nutri-Score war in der Studie das effektivste System, um es Teilnehmenden zu ermöglichen, Unterschiede in der Nährwertqualität von Lebensmitteln innerhalb von Produktkategorien genauer zu erkennen. Ob auf der Vorderseite der Verpackung ein Logo angebracht war oder nicht, hatte jedoch bei den meisten Teilnehmenden keinen Einfluss auf die Wahl der Lebensmittel (zwischen 58,1% und 71,0%, je nach Lebensmittelkategorie oder Kennzeichnungssystem) (7). Hagmann und Siegrist (8) untersuchten verschiedene Labelsysteme auf ihre Effektivität für die Bewertung der Gesundheit von Snacks und ihrer wahrgenommene Nützlichkeit. Im Vergleich zu anderen oder keinem Label half der Nutri-Score Teilnehmenden besser bei der Identifizierung des gesünderen von zwei Snacks. Der Nutri-Score hatte jedoch nur einen minimalen Einfluss auf die Bewertung, wenn nur einige der Produkte gekennzeichnet waren, und unterstreicht wiederum die notwendige Kennzeichnung aller verfügbaren Produkte für eine maximale Wirksamkeit einer Nährwertkennzeichnung. Die wahrgenommene Nützlichkeit und die öffentliche Unterstützung für die obligatorische Umsetzung waren beim britischen Traffic Light System höher als bei der Nutri-Score-Kennzeichnung, was mit der bis dahin geringen Bekanntheit des Labels in der Schweiz erklärt wurde (8). In einer Vergleichsstudie in acht europäischen Ländern war der Nutri-Score in der Lage, das Schweizer Lebensmittelangebot in allen Lebensmittelgruppen nach Gesundheitswert zu unterscheiden, und lieferte übereinstimmende Ergebnisse mit den Ernährungsempfehlungen (9).
Bekanntheit, Wahrnehmung und Nütz lichkeit des Nutri-Scores in der Schweiz
Im Oktober 2021 hat die Berner Fachhochschule eine bevölkerungsrepräsentative Umfrage zur Nutri-
Marie-Noëlle Falquet Thomas A. Brunner Undine Lehmann
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NUTRI-SCORE
Score-Kennzeichnung mit über
1200 Teilnehmenden aus der
Schweiz durchgeführt (10). Die
meisten befragten Personen beach-
teten zumindest gelegentlich die
Nährwertqualität eines Lebensmit-
tels. Die Mehrheit schaute sich dabei
Abbildung 1: Nährstoff-Referenzwert-Kennzeichnung (2)
die Nährwerttabelle und die Zuta-
tenliste an. Nur 2,5% der Befragten
nannten bei dieser ungestützten
Frage den Nutri-Score als Hilfsmit-
tel; davon waren über die Hälfte aus
der Westschweiz. Fragte man die
Teilnehmenden direkt danach, ob
sie vom Nutri-Score gehört hätten,
gaben 32,3% an, den Nutri-Score zu
kennen und zu wissen, was er be-
deutet. Weitere 23,4% kannten ihn,
wussten aber nicht, was er bedeutet.
Die höchste Bekanntheit wurde er-
Abbildung 2: Nährwertampel/Traffic Lights System (3)
reicht, wenn das Logo gezeigt
wurde. Unter dieser Bedingung er-
kannten 69,2% der Befragten den Nutri-Score. 41,8%
der Teilnehmenden gaben an, schon einmal ein Pro-
dukt mit dem Logo gekauft zu haben; bei den unter
30-Jährigen waren es 61,3%. Bei knapp einem Drittel
gab das Logo zumindest teilweise den Ausschlag für
den Kauf. Die grosse Mehrheit gab an, das Logo von
den Produktverpackungen her zu kennen, und über
70% der Befragten wussten, dass Nutri-Score etwas
mit dem Nährwert und gesunder Ernährung zu tun
hat. Der Aussage, dass das Logo leicht zu verstehen ist,
wurde eher zugestimmt; der Aussage, dass man dem
Logo vertraut, etwas weniger stark, aber immer noch
knapp auf der zustimmenden Seite der Skala. Rund
60% der Befragten, die sich ans Logo erinnerten,
konnten sich vorstellen, dass das Logo sie zukünftig
bei Kaufentscheidungen beeinflussen wird; gut 20%
Abbildung 3: Nutri-Score (4)
würden sogar in Zukunft auf bestimmte Produkte ohne Logo verzichten. Nach Erläuterungen zum
Nutri-Score erachteten ihn die Befragten als eher
nützlich und bei knapp der Hälfte würde es zu einer
Imageaufwertung beitragen, wenn sich eine Marke
entscheidet, das Logo zu verwenden. In der Westschweiz war Nutri-Score grundsätzlich bekannter, ebenso bei jüngeren und in der Stadt wohnhaften Personen. Auch in Haushalten mit hohem Einkommen und bei Personen mit hoher Bildung war das Logo bekannter. Ein Vergleich der wichtigsten Ergebnisse der Schweizer Umfrage mit den Ergebnissen der beiden Umfragen, die 2018 zu Beginn der Einführung des NutriScores in Frankreich und 2020 nach zwei von Santé publique France durchgeführten PR-Kampagnen durchgeführt wurden (Tabelle), macht deutlich, dass in der Schweiz durchaus Potenzial zur Verbesserung der Bekanntheit, Wahrnehmung und Berücksichtigung des Nutri-Scores vorhanden ist (10). Ausgehend von diesen Studien kann der Nutri-Score in der Schweiz als geeignetes Instrument betrachtet werden, um Konsumentinnen und Konsumenten zu unterstützen, die Nährwertqualität ähnlicher Produkte zu vergleichen. Die Umfrage Ende 2021 zeigt aber auch, dass er noch nicht das Werkzeug ist, an das die Teilnehmenden spontan denken, um gesündere Lebensmittel zu wählen. Seine Nutzung ist nach wie vor abhängig von der Anzahl der Produkte mit dem Logo und von der Konsumentin bzw. dem Konsumenten (Alter, Bildungsgrad, Einkommen und Motivation, auf die Gesundheit zu achten). Um die Wirksamkeit des Nutri-Scores zu verbessern, sollten Informations- und Sensibilisierungskampagnen zu diesem Kennzeichnungssystem in der Bevölkerung durchgeführt werden: Dies würde die Beachtung des Nutri-Scores erhöhen, seinen Bekanntheitsgrad steigern und seine Nutzung fördern. Parallel dazu sollten auch die Ernährungskompetenz der Schweizer Bevölkerung und ihr Interesse an einer gesunden und ausgewogenen Ernährung weiter gestärkt werden.
Korrespondenzadresse: Marie-Noëlle Falquet Berner Fachhochschule BFH Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften HAFL, Zollikofen Länggasse 85 3052 Zollikofen
Tabelle:
Bekanntheit und Verständnis des Nutri-Scores im Vergleich zu Frankreich
Gestützte Bekanntheit Spontane Nennung Gestütztes Verständnis
CH 69% 2,5% 79%
F (April ’18) 58% 1% n. a.
F (Sep ’20) 93% 18% 90%
Koautoren: Thomas A. Brunner Berner Fachhochschule BFH Hochschule für Agrar-, Forst- und Lebensmittelwissenschaften HAFL, Zollikofen Undine Lehmann Berner Fachhochschule BFH Departement Gesundheit, Bern Referenzen in der Online-Version des Beitrags unter www.sze.ch
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Referenzen: 1. World Health Organization: Guiding principles and framework manual
for front-of-pack labelling for promoting healthy diet. World Health Organization. 2019; available online at https://apps.who.int/ nutrition/publications/policies/guidingprinciples-labelling-promoting-healthydiet.pdf, checked on 2/16/2022. 2. Schweizerische Gesellschaft für Ernährung: Didacta: Verpackungen – Was steht drauf? – Entscheidungshilfen. Schweizerische Gesellschaft für Ernährung. 2021; available online at www.sge-ssn.ch/ ich-und-du/rund-um-lebensmittel/einkauf-und-zubereitung/ verpackung, checked on 31/10/2022. 3. British Nutrition Foundation: Looking at labels. British Nutrition Foundation. 2022; available online at www.nutrition.org.uk/putting-it-into-practice/food-labelling/looking-at-labels, checked on 31/10/2022. 4. Santé Publique France: Nutri-Score. Santé Publique France. 2022; available online at https://www.santepubliquefrance.fr/ determinants-de-sante/nutrition-et-activite-physique/articles/ nutri-score, checked on 31/10/2022. 5. Infanger E: Die gesunde Lebensmittelwahl. Was wissen wir über den Konsumenten und die Konsumentin in der Schweiz? Schweizerische Gesellschaft für Ernährung im Auftrag des BAG. 2012; available online at http://www.sge-ssn.ch/media/gesunde-lebensmittelwahl_ bericht_29mai2012.pdf, checked on 9/17/2019. 6. foodaktuell: Mehrheit der Eltern will den Nutri-Score. foodaktuell. 2021; available online at https://www.foodaktuell. ch/2021/09/28/137621/, checked on 9/28/2021. 7. Egnell M et al.: Compared to other front-of-pack nutrition labels, the Nutri-Score emerged as the most efficient to inform Swiss consumers on the nutritional quality of food products. PLOS One. 2020; 15(2):e0228179; DOI: 10.1371/journal.pone.0228179. 8. Hagmann D et al.: Nutri-Score, multiple traffic light and incomplete nutrition labelling on food packages: effects on consumers› accuracy in identifying healthier snack options. Food Quality and Preference. 2020; 83; available online at https://ovidsp.ovid.com/ovidweb. cgi?T=JS&CSC=Y&NEWS=N&PAGE=fulltext&D= fsta2&AN=2020-07-Ge3384. 9. Dréano-Trécant L et al.: Performance of the Front-of-Pack Nutrition Label Nutri-Score to Discriminate the Nutritional Quality of Foods Products: A Comparative Study across 8 European Countries. Nutrients. 2020; 12:1303; DOI:10.3390/nu12051303. 10. Falquet M-N et al.: Améliorer l’efficacité du Nutri-Score en Suisse – Rapport scientifique pour répondre au postulat 20.3913 «Améliorer l’efficacité du Nutri-Score». Haute école spécialisée bernoise BFH sur mandat de l’OSAV. 2022; available online at https://www.blv.admin. ch/dam/blv/fr/dokumente/lebensmittel-und-ernaehrung/ernaehrung/ bericht-nutriscore.pdf.download.pdf/Rapport_Ameliorer_efficacite_ Nutri-Score_310522.pdf.
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