Transkript
SCHWERPUNKT
Interview mit Prof. Serge Hercberg
Nutri-Score – Anfänge und Entwicklung
Der Nutri-Score gewinnt an Bedeutung. Wissenschaftliche Untersuchungen zeigen,
dass er Konsumentinnen und Konsumenten bei der Wahl der Lebensmittel unterstützt und Firmen bei der Rezeptur ihrer Produkte beeinflussen kann. Prof. Serge
Hercberg, emeritierter Professor für Epidem iologie und Ernährungswissenschaft der
Universität Sorbonne, Paris, war federführend bei der Entwicklung und Einführung
des Nutri-Scores.
SZE: Wieso wurde der Nutri-Score eingeführt? Prof. Serge Hercberg: Wir stehen vor grossen Herausforderungen durch Krankheiten wie Adipositas, Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes und Krebs, deren Entstehung durch die Ernährung beeinflusst wird. Die Idee eines Logos, das den Nährwert angibt, wurde von Ernährungswissenschaftlern schon lange gefordert. Die kleingedruckten Informationen zum Nährstoffgehalt auf der Rückseite der Verpackung sind oft kompliziert. Ein intuitiv verständliches Logo hingegen ist für die Bevölkerung hilfreicher.
wird. Auch konnte nachgewiesen werden, dass das Logo die Auswahl der Lebensmittel beeinflusst. Studien in Frankreich, Deutschland und Belgien hat zudem ergeben, dass eine Mehrheit der Befragten dem Logo vertraut und sich wünscht, dass es obligatorisch wird. 57% haben erklärt, dass sie ihre Essgewohnheiten aufgrund des Logos geändert haben. 90% befürworten, dass die Nährstoffe auf den Packungen gedruckt werden. Aus diesen Ländern gibt es auch indirekte Daten aus Supermärkten, dass sich der Verkauf von Produkten mit NutriScore A und B erhöht hat.
Wie kam der Algorithmus des Nutri-Scores zustande? Das Logo basiert auf einem Algorithmus, der von der Universität Oxford entwickelt wurde. Die Entscheidung, welche Bedeutung man den einzelnen Nährstoffen wie Proteinen, Zucker oder Faserstoffen zuordnete, war keineswegs zufällig, sondern basierte auf wissenschaftlichen Erkenntnissen. Berücksichtigt wurden Nährstoffe, für die eine Auswirkung auf das Gesundheitsrisiko in Studien bestätigt werden konnten.
Wieso berücksichtigt der Nutri-Score vor allem die quantitativen Aspekte eines Lebensmittels? Der Nutri-Score basiert auf der Kennzeichnung der Lebensmittel auf der Verpackung, die von der EU verbindlich vorgeschrieben sind. So konzentriert er sich mehr auf quantitative als auf qualitative Aspekte und berücksichtigt sowohl Elemente, die es zu vermindern und solche, die es zu fördern gilt. Andere Stoffe, die auch eine gesundheitsfördernde Wirkung haben, wie z. B. die Phenole, aber nicht in der Nährstoffkennzeichnung enthalten sein müssen, werden auch im Nutri-Score nicht berücksichtigt.
Gibt es Studien, wie sich der Nutri-Score auf das Kaufverhalten ausgewirkt hat? In 20 Ländern konnte durch wissenschaftliche Untersuchungen gezeigt werden, dass das Logo von den Verbrauchern, insbesondere auch von den am stärksten benachteiligten Gruppen, wahrgenommen und verstanden
Hat der Nutri-Score auch einen Einfluss auf die Rezeptur verschiedener Produkte, um einen besseren Score zu erhalten? Das ist das zweite Ziel des Nutri-Scores. Einige Hersteller verändern tatsächlich ihre Rezeptur. Wir hatten das Beispiel von Schoko-Frühstück-Zerealien, deren Zuckergehalt von 40 Gramm auf 22 Gramm reduziert wurde, bei gleichzeitiger Senkung des Salzgehalts und Erhöhung des Ballaststoffs. Damit kam das Produkt in eine deutlich bessere Kategorie.
Wurde der Nutri-Score bekämpft? Der Nutri-Score wurde 2014 vorgeschlagen und zuerst hart bekämpft. Dann wurde er in Frankreich auf freiwilliger Basis eingeführt, weil die Europäische Kommission eine verpflichtende Regelung verhindert hat. Heute sind etwa 60% der Lebensmittel mit dem Nutri-Score gekennzeichnet. Die Logos sollten obligatorisch sein. Doch das müsste auf europäischer Ebene gelöst werden. Hier gibt es noch starke Lobbyvertreter aus grossen Industrieunternehmen und Landwirtschaftsverbänden, die sich stark gegen die Einführung sträuben. Besonders stark ist der Widerstand in Italien. Es wird immer wieder behauptet, dass der italienische Käse im Vergleich zu Käse aus anderen Ländern zu schlecht bewertet wird, was natürlich nicht stimmt. Einzelne grosse Firmen haben nach anfänglichem Widerstand den Score eingeführt, z. B. Nestlé 2019. Es gibt viele Missverständnisse zum NutriScore. Viele Behauptungen gegen den Nutri-
Score können entkräftet werden. Andererseits gibt es auch legitime Fragen und Anregungen. Zudem wird der Algorithmus regelmässig angepasst, wenn neue wissenschaftliche Erkenntnisse vorliegen. Auch unsere Schwellenwerte für den Algorithmus werden an die neuen Ernährungsempfehlungen angepasst, 2022–2023 wurde dies auf europäischer Ebene von Forschern ohne Interessenkonflikten durchgeführt, die Schweiz war auch beteiligt.
Wie beurteilen Sie die Grenzen des NutriScores? Kein Werkzeug ist zu 100% perfekt. Der NutriScore informiert nur über die quantitative Nährstoffzusammensetzung von Lebensmitteln. Informationen über Zusatzstoffe, Ultraverarbeitung und Pestizide werden nicht erfasst. Die NOVA-Klassifikation von Carlos Montero beurteilt ja das Ausmass der industriellen Verarbeitung. 87% der ultraverarbeiteten Produkte befinden sich im Nutri-Score in der Kategorie C, D oder E. Wir haben vorgeschlagen, den Nutri-Score mit einem schwarzen Band zu ergänzen, wenn es sich um hochverarbeitete Produkte handelt. Aber es gibt auch Produkte, die nicht ultraverarbeitet sind und vom Nutri-Score schlecht eingestuft werden, zum Beispiel Traubensaft, der 160 g Zucker pro Liter enthält. Andererseits gibt es ultraverarbeitete Produkte, die im Nutri-Score gut beurteilt werden, z. B. ein pflanzliches Steak, das wenig Fett, Zucker und Salz enthält.
Welches ist die Rolle des Nutri-Scores bei der Beratung? Das Logo ist ein wichtiger Aspekt, muss aber durch weitere Empfehlungen und Massnahmen ergänzt werden. Weiterhin gelten die Empfehlungen, mindestens fünf Portionen Früchte und Gemüse pro Tag zu essen, zu viel Fett, Zucker und Salz zu vermeiden, aber genügend Faserstoffe einzunehmen. Die Klassifikation D und E im Nutri-Score will ja auch nicht soll ja nicht sagen, dass man die Produkte mit D und E gar nicht kaufen soll. Es kann jedoch die Wahl einer besser eingestuften Alternative ermöglichen oder darauf hinweisen, das Produkt nur in kleinen Mengen zu konsumieren.
Wir danken für das Gespräch.
Das Interview führte Barbara Elke.
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 2|2024 9