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KONGRESSBERICHT
Beratung, Supplemente und Kontrollen
Vegane Ernährung beim Kind
In der Hausarztmedizin und der Pädiatrie ist es eine wichtige Aufgaben geworden, vegan ernährte Kinder über eine lange Zeit zu betreuen und ihre Familien zu beraten. Mit regel mässigen Kontrollen sollten Mangelzustände vermieden werden, die sich gerade im Klein kindesalter schwerwiegend auswirken können. Dr. Laetitia-Marie Petit, Pädiaterin mit Schwerpunkt Gastroenterologie und Ernährung, Hôpital de La Tour, Genf, gab Empfehlungen, worauf die Betreuenden speziell achten sollten.
In der Schweiz bezeichnen sich 2021 etwa 5% als Vegetarier und 0,6% als Veganer.
Empfehlungen von Pädiatrie Schweiz:
Vegetarische und vegane Ernährung im Säuglings- und Kleinkindesalter 2020. • in der Schweiz verfügbare
Supplemente und Dosierung für verschiedene Altersgruppen • jährliche Laboruntersuchungen beim vegan ernährten Kind.
https://www.rosenfluh.ch/qr/leitfaden-kinder-veg
Eine Studie berichtete über Vitamin-B12-Mangel zustände bei vegan ernährten Kindern mit nicht reversiblen neurologischen Defiziten. Betroffen waren vor allem Kinder, deren Nahrung selbst hergestellt wurde und die keine Supplemente erhalten haben (1). Auch wurde über Ermüdungsfrakturen bei Osteopenie aufgrund eines Kalzium- und Vitamin-D-Mangels berichtet (2). Nicht alle europäischen Fachgesellschaften beurteilen das Risiko der veganen Ernährung für Kleinkinder gleich. Um drohende Mangelerscheinungen zu vermeiden, sind verschiedene Empfehlungen publiziert worden (2–6). Einig ist man sich, dass die Verabreichung von Supplementen, Beratung der Eltern und regelmässige Kontrollen wichtig sind, um bei Kindern ein gutes Wachstum zu gewährleisten, Defizite zu verhindern und die soziale Integration in der Schule und im weiteren Umfeld zu gewährleisten. Eiweiss Der Gehalt an essentiellen Aminosäuren variiert in pflanzlichen Nahrungsmitteln stark. Durch eine ausreichende Diversifizierung kann der Bedarf gedeckt werden. Beim Kleinkind kann eine ausgewogene Ernährung schwierig sein, weil es vielleicht das eine oder andere Lebensmittel nicht mag und zurückweist. Zudem ist die Verdaulichkeit von pflanzlichen Proteinen geringer als von tierischen, mit Ausnahme von Sojaeiweiss und Gluten. Zudem verringern einige Stoffe in Pflanzen, wie pflanzliche Enzyminhibitoren, Tannine und Phytate, die Aufnahme von Eiweissen im Darm. Dies ist bei gekochtem oder fermentiertem Gemüse und Hülsenfrüchten weniger stark ausgeprägt. Auch haben Kinder einen kleineren Magen und sind früher satt. Eine sehr voluminöse, aber energiearme Ernährung kann ein Problem sein. Das ist eine häufige Beobachtung in der Sprechstunde. Verlässliche Zahlen dazu gibt es leider nicht. Die Eiweissaufnahme ist bei Säuglingen und Kleinkindern für das Wachstum sehr wichtig. Beim Säugling ist das Stillen sehr wünschenswert, wenn die M utter ausreichend supplementiert ist. Bei Säuglingsnahrung sollte man eine Milch auf Sojabasis wählen. Lange gab es die Befürchtung, dass in Sojaprodukten vorhandene Isoflavone einen ungünstigen Effekt haben (verfrühte Pubertät). Dies wurde nicht bestätigt und so werden die industriellen Sojaprodukte heute empfohlen. Hingegen
wird von Säuglingsmilch auf Reisbasis in der Schweiz abgeraten, da der Arsengehalt zu hoch sein kann. Auf keinen Fall sollte man die Säuglingsmilch selbst zubereiten, da gerade bei diesen meist nicht optimal zusammengesetzten Trinknahrungen am häufigsten Mangelerscheinungen bei Säuglingen gesehen wurden. Beim Zufüttern mit fester Nahrung sollte deren Eiweissgehalt um 20–30% erhöht werden. Bei Kindern über 6 Monate gibt es Daten über den Wachstumsverlauf. Die Kinder wachsen meist kontinuierlich, wenn auch entlang einer niedrigeren Perzentile (2–5). Omega-3-Fettsäuren Während Alpha-Linolensäure (ALA) vor allem in pflanzlichen Ölen vorkommt (Leinsamen, Soja, Raps), finden sich Eicosapentaensäure (EPA) und Docosahexaensäure (DHA) in Fischen und anderen Meeresprodukten. Beim Erwachsenen ist die Konversion von ALA in EPA und DHA möglich, wenn genügend Kalzium, Zink und Eiweiss vorhanden ist. Beim Kind weiss man dies nicht sicher. Da bei Veganern die wichtigste Quelle der Omega-3-Fettsäuren entfällt, kann eine Supplementierung nützlich sein (2–4, 7). Eine Supplementierung bei veganer Ernährung ist besonders bei schwangeren und stillenden Frauen sowie Kindern wichtig. Dies ist teilweise auch mit angereicherten Ölen, wie Leinsamen- oder Algenöl, gegeben. Vitamin D 80–90% des Vitamin D werden in der Haut synthetisiert. Dafür braucht es einen ausreichenden Sonnenkontakt, was bedeutet, dass Beine und Arme zweimal wöchentlich während 5–30 Minuten zwischen 10 und 15 Uhr der Sonne ausgesetzt werden müssen. Sonnencremes verringern die Sonnenexposition. In der Schweiz wird eine Supplementierung mit Vit amin D für alle Kinder unter 3 Jahren empfohlen. Die Compliance ist allerdings nur etwa 45% (9, 10). Die Kalziumabsorption ist stark vom Vitamin-D-Spiegel abhängig. 15–20% der Schweizer Adoleszenten (11–16 Jahre) haben einen ungenügenden VitaminD-Spiegel < 30 nmol/l (8). Wird der Spiegel von 50 auf 70 mmol/l erhöht, wird die Kalziumaufnahme von 45–65% gesteigert.
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Definition Zielwert Vitamin D3: • Ziel > 75 nmol/l • Mangel < 50 nmol/l. Jod Eigentlich sollte mit jodiertem Salz für die ganze Bevölkerung einem Jodmangel vorgebeugt werden. Es ist jedoch darauf zu achten, dass oft nicht jodiertes Salz verwendet wird, wie zum Beispiel Fleur de sel. Eisen Ein Eisenmangel ist auch bei nicht veganer Ernährung möglich und es sollte darauf geachtet werden. Vitamin B12 – das Schlüsselvitamin Die grössten Befürchtungen bei vegan ernährten Kindern ist ein potentieller Vitamin-B12-Mangel. Ohne Supplementation können hämatologische und neurologische Komplikationen auftreten, wie Anämie, periphere Neuropathie und Degeneration des Rückenmarks (1). Vitamin B12 kommt nur in tierischen Nahrungsmitteln vor. Eine inaktive Form in Algen und Pilzen kann im menschlichen Körper nicht aktiviert werden. Für die Aufnahme von Vitamin B12 wird der Instrinsic Factor notwendig. Er ist jedoch nur ausreichend wirksam, wenn das Vitamin-B12-Aufnahme regelmässig zu den Mahlzeiten verabreicht wird. Da Vit amin B12 jedoch bei Erwachsenen gut in der Leber gespeichert wird, kann es auch als Bolus verabreicht werden (2–4, 11). Vitamin B12 sollte regelmässig kontrolliert werden. Es gelten folgende Grenzwerte: • Holo-Transcobalamin II: > 35 pmol/l • Methylmalonsäure (im Spoturin):
< 3,6 mmol MMA/mol Kreatinin.
In den Schweizer Empfehlungen sind alle Dosierungen zur Erhaltungstherapie zu den Mahlzeiten oder die maximale Tagesdosis bei einem Mangel für verschiedene Patientengruppen aufgelistet (2). Wird der Säugling gestillt, sollte die Mutter das Supplement erhalten. Kalzium Die Absorption des Kalziums ist abhängig von Vit amin-D-Spiegel. Sie kann aber auch durch Phytate und Oxalat aus Gemüse reduziert werden (2–4). Die empfohlene Kalziumzufuhr für verschiedene Altersgruppen ist in den Schweizer Empfehlungen zu finden (3). 150 ml Kuhmilch sind eine gute Kalziumquelle und enthalten 180 mg Kalzium. Bei veganer Ernährung wäre gleich viel Kalzium durch native pflanzliche Lebensmittel mit 400 g grünem Gemüse (Brokkoli, Rucola, grüne Bohnen), 600 g Orangen, 50 g Tofu oder 70 g Mandeln zu erreichen. Dies ist einem Kind schwieriger zu verabreichen. Glücklicherweise gibt es heute angereicherte pflanzliche Drinks, die gleich viel Kalzium enthalten. Auch kalziumhaltiges Mineralwasser ist eine gute Kalziumquelle. Der Kalziumgehalt der verschiedenen Mineralwasser findet sich unter einer Liste via Link oder QR-Code in der Seitenspalte.
Welche Mikronährstoffe können bei vegan ernährten Kindern am ehesten fehlen?
Nährstoff
Diversifizierte Diät
Vegetarische Diät
Vegane Diät
Vitamin D
X X X
Jod
X X X
Eisen X X
Zink (X) X
Omega-3-FS X X
Vitamin B12 (X) X
Kalzium X
Eiweiss X
Vitamin B2 (Riboflavin)
X
Quelle: Handlungsanweisungen vegetarische und vegane Ernährung im Säuglings- und Kleinkindesalter 2020 (3)
Zink Zink ist ebenfalls ein kritischer Mikronährstoff. Zink stammt vorwiegend aus tierischen Quellen. Das Zink aus pflanzlichen Quellen kann auf grund von Phytaten schlecht aufgenommen werden. Die Fermentation der pflanzlichen Nahrung erhöht die Aufnahme des Zinks.
Beratung der Familie
Viele Familien sind sehr ernährungsbewusst und die meisten haben gute Kenntnisse über die verschiedenen Nahrungsmittel. Manchmal ist es trotzdem nützlich nachzufragen, woher die Familie ihre Informationen bezieht, ob aus wissenschaftlich fundierten Quellen oder «Blogs». Die meisten Familien wünschen eine kollaborative Beratung. Wichtig ist es, die Eltern für die konsequente Supplementierung, regelmässige Wachstumskontrollen und jährliche Screenings der Kinder zu gewinnen, gemäss den Schweizer Empfehlungen (3). Die Familie sollte auch für eine Ernährungsberatung motiviert werden, um die Ernährung weiter zu optimieren.
Zusammenfassung
• Wachstumskurve überwachen • Limitieren des rohen Gemüses bei kleinen Kindern • kritische Nährstoffe periodisch überprüfen, v.a. Vit
amin B12, Eisen, Kalzium, Jod, Zink, Omega-3-Fettsäuren • fixe Supplementation von Vitamin B12 • systematische Supplementation von Vitamin D bis 3 Jahre, dann periodische Einnahme empfehlen • jährliches Blutscreening ab dem 1. Lebensjahr • gewisses veganes Junkfood, industriell gefertigte Nahrungsmittel mit Emulgatoren und Stabilisatoren, nicht besser abschneiden als tierisches Junkfood.
Barbara Elke
Quelle: 7. Frühjahrskongress der SGAIM, 10.–12. Mai 2023. Hauptvortrag GESKES: L’alimentation vegane chez les enfants. Dr. Laetitia-Marie Petit, Fachärztin pädiatrische Gastroenterologie, Hôpital de la Tour, Meyrin, und Hôpitaux Universitaires de Genève.
Kalziumgehalt der verschiedenen Mineralwasser.
www.rosenfluh.ch/qr/mineralwasser.
Referenzen in der Online-Version des Beitrags unter www.sze.ch
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Referenzen: 1. Roed C, Skovby F, Lund AM: Svaer vitamin B12-mangel hos spaedbørn
brysternaeret af veganere [Severe vitamin B12 deficiency in infants breastfed by vegans]. Ugeskr Laeger. 2009 Oct 19;171(43):3099-101. Danish. PMID: 19852900. 2. Lemale J, Mas E, Jung C, Bellaiche M, Tounian P: French-speaking Pediatric Hepatology, Gastroenterology and Nutrition Group (GFHGNP). Vegan diet in children and adolescents. Recommendations from the French-speaking Pediatric Hepatology, Gastroenterology and Nutrition Group (GFHGNP). Arch Pediatr. 2019 Oct;26(7):442-450. doi: 10.1016/j.arcped.2019.09.001. Epub 2019 Oct 12. PMID: 31615715. 3. Handlungsanweisungen vegetarische und vegane Ernährung im Säuglings- und Kleinkindesalter 2020. https://www.paediatrieschweiz.ch/handlungsanweisungen-vegetarische-vegane-ernaehrung/ file:///C:/Users/surf/Downloads/2020.03.11-DE_Handlungsanweisungen_vegetarische_vegane-Ernährung.pdf 4. Fewtrell M, Bronsky J, Campoy C, Domellöf M, Embleton N, Fidler Mis N, Hojsak I, Hulst JM, Indrio F, Lapillonne A, Molgaard C: Complementary Feeding: A Position Paper by the European Society for Paediatric Gastroenterology, Hepatology, and Nutrition (ESPGHAN) Committee on Nutrition. J Pediatr Gastroenterol Nutr. 2017 Jan;64(1):119-132. doi: 10.1097/MPG.0000000000001454. PMID: 28027215. 5. Baroni L et al.: J Acad Nutr Diet 2018 Baroni L, Goggi S, Battino M. VegPlate: A Mediterranean-Based Food Guide for Italian Adult, Pregnant, and Lactating Vegetarians. J Acad Nutr Diet. 2018 Dec;118(12):2235-2243. doi: 10.1016/j.jand.2017.08.125. Epub 2017 Nov 21. Erratum in: J Acad Nutr Diet. 2018 Nov;118(11):2189. PMID: 29170002. 6. Kersting M et al.: Vegetarische Kostformen in der Kinderernährung? Dtsch. Med Wochenschr 2018; 143(04): 279-286 7. Eberli F: Acides gras omega 3 une mode depourvue d’evidence FMC 2023 ;23(179):1026-1030. 8. Ginty F, Cavadini C, Michaud PA, Burckhardt P, Baumgartner M, Mishra GD, Barclay DV: Effects of usual nutrient intake and vitamin D status on markers of bone turnover in Swiss adolescents. Eur J Clin Nutr. 2004 Sep;58(9):1257-65. doi: 10.1038/sj.ejcn.1601959. PMID: 15054442. 9. Taylor, James A., Leah J. Geyer, Kenneth W. Feldman: «Use of supplemental vitamin D among infants breastfed for prolonged periods.» Pediatrics 125.1 (2010): 105-111. 10. https://www.blv.admin.ch/blv/de/home/das-blv/organisation/kommissionen/eek/vor-und-nachteile-vegane-ernaehrung.html 11 Benham AJ, Gallegos D, Hanna KL, Hannan-Jones MT: Vitamin B12 Supplementation Adequacy in Australian Vegan Study Participants. Nutrients. 2022; 14(22):4781. https://doi.org/10.3390/nu14224781
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