Transkript
Unsicherheit bei Diagnostik und Therapie
Kuhmilchproteinallergie – ein praktischer Approach
UPDATE ERNÄHRUNG
Petra Martel, Corinne Légeret, Julia Eisenblätter
Wie wird eine Kuhmilchproteinallergie (KMPA) in der Schweiz diagnostiziert und therapiert? Ist das Verfahren evidenzbasiert und einheitlich? Eine Masterthese der Berner Fachhochschule (BFH) ging dieser Frage erstmals nach und befragte Ärztinnen und Ärzte sowie Ernähr ungs berater und Ernährungsberaterinnen (ERB) in der gesamten Schweiz.
Die KMPA ist die häufigste Nahrungsmittelallergie bei Säuglingen und Kleinkindern. Eltern vermuten eine entsprechende Allergie weitaus häufiger, als dies durch eine orale Exposition objektiviert werden kann. Dennoch scheint eine echte KMPA im ersten Lebensjahr eine Prävalenz von 2–3% (1) zu haben und dann im Verlauf auf < 1% bei Kindern über 6 Jahren zu sinken (2). Die klinische Präsentation reicht von chronischem Eisenmangel über Husten, Essensverweigerung, Obstipation bis zur Anaphylaxie (3). Die KMPA ist eine immunvermittelte Reaktion auf das Kuhmilchprotein und kann ätiologisch in IgE-vermittelt, nicht-IgE vermittelt und gemischt unterteilt werden. Sofortige Reaktionen zeigen sich innerhalb von Minuten bis zu 2 Stunden (spricht eher für IgE-vermittelt), während verzögerte Symptome bis zu 72 Stunden oder sogar erst eine Woche nach Milchingestion auftreten. Ein späteres Auftreten von allfälligen Symptomen deutet eher auf eine nicht-IgE-vermittelte Allergie hin, differentialdiagnostisch gilt es zu bedenken, dass toxische oder pharmakologische Reaktionen eine KMPA imitieren können. schen IgE das Vorliegen einer KMPA ausschliessen. Insgesamt zeigte sich eine geringe Involvierung der ERB im diagnostischen und therapeutischen Prozess: 54% der PÄ involvieren die ERB zur Instruktion der diagnostischen Eliminationsdiät und nur in 28% wird die ERB in die Diskussion/Beratung der Ersatzmilch involviert. Bezüglich der Ersatzmilch gaben 11% der PÄ an, eine partiell hydrolysierte Formula (pHF), 7% eine sojabasierte Säuglingsmilch, 30% eine aminosäurenbasierte Formula (AAF) und der Rest eine e xtensiv hydrolysierte Formula (eHF) initial zu empfehlen. Obenstehende Antworten zeigen ein uneinheitliches Vorgehen, auch innerhalb derselben Berufsgruppe, was möglicherweise am Plethora der verschiedenen Leitlinien (europäisch (ESPGHAN), britisch (NICE, BSACI und MAP), irisch (IFAN), amerikanisch ( NIAID) usw.) liegen kann. Bei grosser klinischer Relevanz stellen wir im Folgenden einen praktischen Approach der Thematik dar, der bei grosser Übereinstimmung aus mehr als vier internationalen Leitlinien hervorgeht. Diagnostik der KMPA Unsicherheit bezüglich der Diagnose und Therapie bei den Grundversorgern Obschon die KMPA im ersten Lebensjahr häufig ist, besteht bei Grundversorgern eine grosse Unsicherheit bezüglich der nötigen Diagnostik und der folgenden Therapie. Dies konnte Petra Martel, MSc Ernährung und Diätetik, im Rahmen ihrer Masterarbeit an der BFH eindrücklich darstellen: Im Frühjahr 2022 hat sie schweizweit eine online-Umfrage bei Kinderärz tinnen und Kinderärzte und ERB durchgeführt. Insgesamt 141 Ärztinnen und Ärzte (80% Pädiatrie (PÄ), 15% Allergologie, 5% Assistenzärzte) und 81 ERB haben den Fragebogen komplettiert und folgende Antworten gegeben: Zur Diagnosestellung bestimmen 11% der PÄ IgG-Antikörper, 57% bestimmen die spezifischen IgE-Antikörper und 30% machen immer einen Prick-Test. 20% der PÄ und 26% der ERB gaben an, dass sie mittels negativen spezifi- Als ersten Schritt empfehlen alle Leitlinien eine allergiebezogene Anamnese (3–11). Besteht aufgrund der Anamnese der Verdacht auf eine IgE-vermittelte KMPA, ist zusätzlich die Bestimmung spezifischer IgE-Antikörper bzw. ein Prick-Test indiziert (3–11). NICE (3) und ESPGHAN (7) sehen die Kombination von spezifischem IgE und Prick-Test explizit als nicht erforderlich an. Ein positives Ergebnis zeigt die Sensibilisierung auf das Kuhmilchprotein (KMP), aber nicht deren klinische Relevanz. Diagnostische Verfahren wie die Bestimmung der IgG (3–9) oder der Atopie Patch-Test (3–5, 7) werden nicht empfohlen. Abbildungen 1 und 2 zeigen die empfohlene Diagnostik bei IgE- und nicht-IgE-vermittelter KMPA sowie die Therapie bei nicht-IgE-vermittelter KMPA in Anlehnung an die britische MAP-Leitlinie. Für den Nachweis der nicht-IgE-vermittelten KMPA fehlen spezifische diagnostische Tests. Entsprechend besteht die weitere Diagnostik ausschliesslich aus Petra Martel Corinne Légeret Julia Eisenblätter Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 3|2023 19 UPDATE ERNÄHRUNG Abbildung 1: Symptomatik einer Kuhmilchproteinallergie (KMPA) im 1. Lebensjahr. modifiziert nach Fox A et al. (11) AAF: Aminosäurebasierte Formula; eHF: extensiv hydrolysierte Formula; KMP: Kuhmilchprotein; KMPA: Kuhmilchproteinallergie einem Auslassversuch. Die Dauer der Eliminationsphase unterscheidet sich zwischen der IgE- und der nicht-IgE-vermittelten Nahrungsmittelallergie. Gemäss ESPGHAN (7) genügen bei einer IgE-vermittelten Sofortreaktion 3 bis 5 Tage, während bei Spätreaktionen je nach Leitlinie 1 bis 6 Wochen empfohlen werden (3, 7, 10). Bestehen Symptome bei (ausschliesslich) gestillten Kindern, erfolgt der Auslassversuch bei der stillenden Mutter (4–7, 10). In der Eliminationsphase wird empfohlen, die ERB hinzuzuziehen, welche die Eltern instruiert und die Ernährung überwacht (3, 6, 7, 10). Im Anschluss sollte zwingend eine orale Exposition mit KMP erfolgen (3–10). Während ältere Leitlinien wie ESPGHAN und DRACMA in allen Fällen eine überwachte, idealerweise doppelt verblindete orale Provokation vorsehen (5, 7), schlägt die MAP-Leitlinie bei Kindern mit milder bis moderater nicht-IgE-vermittelter KMPA eine Re-Introduktion zu Hause vor (10, 11). Schwere IgEoder nicht-IgE-vermittelte KMPA erfordern aber unbedingt die Überweisung an die pädiatrische Allergologie und ERB. Erst wenn die Symptome im Rahmen der erneuten Exposition wieder auftreten, gilt die Diagnose als gesichert. Therapie der KMPA Die Therapie der KMPA besteht aus dem Meiden von KMP (3–10). Nahezu alle untersuchten Leilinien empfehlen eine familiäre Begleitung durch die ERB (3–10), die ESPGHAN empfiehlt dies sogar dringend (7). Die stillende Mutter soll über die Elimination von KMP und die Wichtigkeit einer genügenden Einnahme von Calcium und Vitamin D (evtl. mit Supplementen) informiert werden. Bei Kindern, die eine Säuglingsnahrung erhalten, ist die Auswahl einer geeigneten Spezialnahrungen ein zentraler Bestandteil der Therapie. Dabei sollte das Alter des Kindes, der Schweregrad der Allergie und die Zusammensetzung der Nahrung berücksichtigt werden (5, 7–10). Eine eHF ist zur Therapie der KMPA grundsätzlich geeignet (3, 5, 7–10) und wird besonders bei weniger schwerwiegenden Symptomen initial empfohlen (5, 7–10). Erst bei schwerer Symptomatik soll auf eine AAF gewechselt werden (4, 5, 7–10), da diese einerseits geschmacklich schlechter toleriert wird und auch doppelt so teuer wie eine eHF ist. Falls die Symptome unter eHF bestehen bleiben, soll ebenfalls auf AAF gewechselt werden (3–5, 7, 10). pHF kann aufgrund 20 Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 3|2023 UPDATE ERNÄHRUNG Abbildung 2: Management einer mild bis moderaten non-IgE-Kuhmilchproteinallergie modifiziert nach Fox A et al. (11). AAF Aminosäurebasierte Formula; eHF: extensiv hydrolisierte Formula; KMP: Kuhmilchprotein; ERB: Ernährungsberatung; KMPA: Kuhmilchproteinallergie der enthaltenen grösseren KMP-Bestandteile noch Reaktionen hervorrufen und ist daher kein geeigneter Ersatz (6–9). Vom Einsatz anderer Tiermilchen wird abgeraten (4–7, 9). Obwohl Säuglingsnahrungen auf Sojabasis aufgrund des Geschmacks oftmals besser akzeptiert werden, gelten sie insbesondere während der ersten sechs Monate nicht als erste Therapieoption (5, 7, 9, 10). Folgende Gründe werden dafür genannt, einerseits reagieren 10–15% der Kinder mit KMPA auch auf Soja, andererseits ist der Gehalt an Phytat, Aluminium und Phytoöstrogenen zu bedenken (7–9). Studien weisen darauf hin, dass Reishydrolysate bei Kindern mit KMPA eine gute Wirksamkeit und Verträglichkeit aufweisen sowie eine normale Gewichtszunahme sichern (12). Auch entspricht der Arsengehalt bisher untersuchter Reishydrolysate dem von Kuhmilch (12). Bisher wird es weder in gastroenterologischen noch allergologischen Guidelines primär offiziell empfohlen. Mit der Einführung der Beikost müssen die Eltern befähigt werden, geeignete Lebensmittel auszuwählen. Dafür ist es notwendig, Informationen auf Lebensmittelverpackungen zu lesen und KMP in Lebensmitteln identifizieren zu können (4–6, 9). Ein weiterer Bestandteil der Therapie ist der Ersatz von Kuhmilch und die Gewährleistung einer bedarfsgerechten Nährstoffzufuhr. Hierbei steht eine ausreichende Kalziumzufuhr im Vordergrund. Falls nötig, können Supplemente verordnet bzw. das Kalzium auf einem anderen Weg zugeführt werden (5, 7, 9, 10). Nicht nur die betroffenen Familien, sondern sämtliche Personen im Umfeld des Kindes, sollen bezüglich der KMPA entsprechend informiert und gegebenenfalls instruiert werden (3–5, 8–10). Das Wachstum, wie auch der Ernährungszustand sollen in regelmässigen Abständen überprüft werden (3–5, 7, 9). Besonders bei diesen Punkten kommt es gemäss der Umfrage zu Doppelspurigkeit zwischen PÄ und ERB. Damit die Einschränkungen in der Ernährung der Betroffenen nicht länger als unbedingt notwendig eingehalten werden müssen, soll die Diagnose in regelmässigen Abständen – Zeitintervalle gemäss der Schwere der Symptomatik – überprüft werden (5, 7–10). Die Wiedereinführung von Kuhmilchprotein sollte schrittweise erfolgen (5–8, 10) beispielsweise gemäss der Milchleiter der MAP-Leitlinie (10). Implikationen für die Praxis Eine gute Zusammenarbeit von PÄ und ERB kann die Versorgung von Kindern mit KMPA verbessern. Dafür wäre eine gemeinsam entwickelte Leitlinie/Behandlungspfad, wie er im vereinigten Königreich (UK) mit der MAP-Leitlinie besteht, hilfreich, damit Schnittstellen zwischen PÄ und ERB besser definiert sind und entsprechend Doppelspurigkeiten in Diagnostik und Behandlung vermieden werden. Die aktuelle Diagnostik und Therapie einer KMPA lässt bei den betroffenen Familien Fragen offen. So macht gemäss der Umfrage knapp die Hälfte der befragten ERB die Erfahrung, dass sich Betroffene von sich aus zur ERB melden, was als Zeichen unzureichender Aufklärung bezüglich einer Ernährung ohne Kuhmilchprotein gedeutet werden kann. PÄ begleiten Patientinnen und Patienten mit KMPA im therapeutischen Prozess signifikant häufiger als die ERB. Im Hinblick auf die Überlastung von PÄ (13, 14) macht eine effizientere Aufgabenverteilung durchaus Sinn. Die ERB ist grundsätzlich in der Lage, mehr Verantwortung in der Diagnostik und Therapie einer KMPA zu tragen, das zeigt die Masterarbeit deutlich auf. Die Beurteilung des Ernährungszustandes wie auch die Überprüfung von Wachstum und Gewicht gehören zu den Kernkompetenzen der ERB. Vieles Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 3|2023 21 UPDATE ERNÄHRUNG Kasten: Exkurs Spezialnahrungen Partiell hydrolysierte Formula (Partially Hydrolysed Formula, pHF): enthält noch grössere KMP-Bestandteile (Peptide). Diese Nahrungen werden auch als «hypoallergene» oder «HA»-Nahrungen bezeichnet. Sie wurden ursprünglich zur Allergieprävention entwickelt, aber von der Ernährungskommission der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie aufgrund ungenügender Evidenz nicht mehr empfohlen (12). Auch wenn einzelne Kinder mit KMPA pHF vertragen, wird sie nicht zur Therapie der KMPA empfohlen. Extensiv hydrolysierte Formula (Extensively Hydrolyzed Formula, eHF): Das Kuhmilchprotein (Molke oder Casein) ist in kleine Peptide hydrolysiert. Deshalb wird sie auch als Peptidnahrung bezeichnet. Diese Nahrung wird von den meisten Kindern mit KMPA (per Definition 90%) gut vertragen. Aminosäurebasierte Formula (Aminoacid Formula, AAF): Enthält ausschliesslich freie Aminosäuren und ist die beste Option für Kinder, die auf eHF reagieren. Standardnahrung Hypoallergene Nahrung zur Allergieprävention Langkettige Parziell hydrolysierte Milchproteine Milchproteine Spezialnahrung Spezialnahrung bei KMA bei schwerer KMA Hoch hydrolysierte Einzelne Milchproteine Aminosäuren Quelle: www.nestlehealthscience.de/gesundheitsmanagement/nahrungsmittelallergien/kuhmilcheiproteinallergie-hcp/unsere-spezialnahrungen Referenzen: 1. Rona RJ et al.: The prevalence of food allergy: a meta-analysis. J Allergy Clin Immunol. 2007 ;120: 638–46. 2. Host A et al.: Clinical course of cow’s milk protein allergy/intolerance and atopic diseases in childhood. Pediatr Allergy Immunol. 2002;13 (suppl 15): 23–8. 3. Walsh J et al.: Diagnosis and assessment of food allergy in children and young people in primary care and community settings: NICE clinical guideline. British Journal of General Practice. 2011; 61: 473-475. 4. 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Corinne Légeret, Oberärztin Gastroenterologie Universitäts-Kinderspital beider Basel (UKBB), Basel Prof. Julia Eisenblätter, Dozentin Fachbereich Ernährung und Diätetik, Fachhochschule Gesundheit, Bern Korrespondenzadresse: Petra Martel MSc Ernährung & Diätetik (SVDE) Praxis für Ernährungsberatung Blumenfeld Rosenweg 10 4528 Zuchwil Internet: www.ernaehrung-zuchwil.ch 22 Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 3|2023