Transkript
Entzündungen sind überall
EDITORIAL
Liebe Leserinnen und Leser
Aus heutiger Sicht mutet es befremdlich an, auch wenn es historisch nachvollziehbar ist: Bis in die 1980er-Jahre war der Fokus der ernährungswissenschaftlichen Forschung darauf ausgerichtet zu ermitteln, welche Inhaltsstoffe von Lebensmitteln in welcher Menge erforderlich sind, um die Körperfunktionen sicherzustellen und Mangelerscheinungen zu vermeiden.
Dass Ernährung und Gesundheit nicht nur im Sinne einer Mangelvermeidung miteinander verbunden sind, sondern auch mit Blick auf die langfristige Gesundheit und die Prävention von Erkrankungen, ist inzwischen unstrittig. Dabei ist es in den vergangenen Jahrzehnten gelungen, die Beziehungen zwischen der Ernährungsweise und unterschiedlichsten chronisch-degenerativen Erkrankungen aufzuzeigen sowie deren Ätiologie und Pathogenese besser zu verstehen.
Betrachtet man den derzeitigen Kenntnisstand, dann fallen mehrere Dinge auf: 1. Inzidenz und Prävalenz typischer «Zivilisations-
krankheiten» (z. B. Typ-2-Diabetes, kardiovaskuläre Erkrankungen, bösartige Neubildungen, neurodegenerative Veränderungen) steigen mit zunehmendem Alter an. 2. Übergewicht und Adipositas begünstigen zahlreiche dieser Erkrankungen. 3. Weitere Faktoren (körperliche Aktivität, intestinales Mikrobiom, Schlafverhalten, chronischer Stress, Exposition gegenüber Xenobiotika und chronische Infektionen) modulieren das Erkrankungsrisiko.
Wesentliches Verbindungselement zwischen all diesen Einflussgrössen bildet das Immunsystem. Im Normalfall trägt es – funktionell eng mit endokrinem und neuronalem System verzahnt – zur physiologischen Homöostase bei. Fehlfunktionen hingegen steigern nicht nur die Infektanfälligkeit, sondern auch die Entwicklung chronischer Erkrankungen.
Diese Ausgabe der SZE gibt einen kleinen Überblick darüber, welche Rolle in diesem Kontext Entzündungen spielen und wo sich nutritive Ansatzpunkte für Prävention und Therapie ergeben.
Svenja Nolte und Karsten Krüger zeigen in ihrem Beitrag auf, welchen Veränderungen das Immunsystem im Alter unterliegt, wie dies durch Lebensstilfaktoren und bereits bestehende Erkrankungen beeinflusst wird und weshalb die Immunseneszenz proinflammatorische Prozesse begünstigt. Mit einer Entzündung gehen auch alle Autoimmunkrankheiten einher. Olaf Adam erläutert in seinem Beitrag, wie Autoimmunerkrankungen entstehen, wie sie mit anderen entzündungsassoziierten Erkrankungen in Beziehung stehen und welche Möglichkeiten sich in Bezug auf die Ernährungstherapie ergeben. Der Artikel von Andreas Hahn, Wiebke Jonas und Isabel Behrendt beschäftigt sich mit der Bedeutung des Fettgewebes für die Entstehung einer chronischen systemischen Inflammation und ihren Konsequenzen, vor allem mit Blick auf die Entwicklung einer Insulinresistenz.
Inflammatorische Prozesse sind tatsächlich (fast) überall und verstärken sich gegenseitig. Auch wenn dieses Heft allenfalls elementare Grundlagen des Themenkreises aufgreifen kann, so wird doch die zentrale pathogenetische Bedeutung von Entzündungen deutlich. Und die Notwendigkeit, den Einfluss von einzelnen Lebensmittelinhaltsstoffen wie auch der gesamten Ernährungsweise hierauf besser zu verstehen. Weit jenseits der Vermeidung von Nährstoffdefiziten.
Prof. Dr. Andreas Hahn Leibniz Universität Hannover Institut für Lebensmittelwissenschaft und
Humanernährung E-Mail: hahn@nutrition.uni-hannover.de
Andreas Hahn
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 3|2023 1