Transkript
UPDATE ERNÄHRUNG
Lebensqualität, Wohlbefinden, Ernährung und Lebensstil
Endoskopischer und laparoskopischer Schlauchmagen im Vergleich
Patricia Brandenberger, Lara Hostettler, Andreas Melmer, David Fäh
Ungebrochener Anstieg der Adipositasprävalenz, explodierende Gesundheitskosten, Fach kräftemangel – es braucht neue Therapieansätze: Was taugt der über die Speiseröhre durch geführte Schlauchmagen im Vergleich zur etablierten Operationstechnik mit Schlüsselloch chirurgie? Eine Bachelorarbeit an der Berner Fachhochschule soll Einblicke gewähren.
Patricia Brandenberger
Adipositas hat sich in den vergangenen Jahren zu einer Volkskrankheit entwickelt. In der Schweiz sind mittlerweile 42% der Erwachsenen übergewichtig, wovon 11% von Adipositas betroffen sind – Tendenz steigend (1). Nebst einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen, Diabetes mellitus oder Erkrankungen des Bewegungsapparats werden auch einige Krebsarten mit Adipositas in Verbindung gebracht (2). Aber damit nicht genug: Für das Jahr 2012 wurden die Kosten von Übergewicht und Adipositas in der Schweiz auf rund 8 Milliarden Franken geschätzt. Diese Kosten entstehen direkt aus Interventionen zur Reduktion des Körpergewichts und indirekt aus Folgeerkrankungen sowie aus Produktivitätsausfällen und Invalidität (3). Übergewicht und Adipositas stellen somit das bereits wackelige Gesundheitssystem vor eine weitere grosse Herausforderung (1). Angesichts der seit Jahren ungebremst steigenden Prävalenzraten muss auch der Nutzen heutiger präventiver und therapeutischer Massnahmen hinterfragt werden.
Konservative, pharmakologische, chirurgische und endoskopische Therapie
Neben der konservativen und pharmakologischen Therapie bieten bariatrische Eingriffe eine weitere Option zur Behandlung der Adipositas. In Bezug auf eine nachhaltige Gewichtsreduktion sowie eine Verbesserung von Komorbiditäten und der Lebensqualität sind bariatrische Eingriffe vor allem bei höhergradiger Adipositas effektiver als einzeln oder in Kombination eingesetzte Ernährungs-, Bewegungs-, sonstige Verhaltens- und Pharmakotherapien (4). In der Schweiz erfolgt zurzeit der grösste Teil der bariatrischen Interventionen invasiv. Der am häufigsten vorgenommene Eingriff ist der Magenbypass, bei dem der Magen stark verkleinert wird und wichtige Teile des resorptiven Darms umgangen werden, gefolgt von der laparoskopischen Sleeve-Gastrektomie (LSG), bei welcher der Eingriff mithilfe der sogenannten Schlüssellochchirurgie durch die Bauchdecke stattfindet (5).
Im Jahr 2013 wurde erstmals über eine minimalinvasive endoskopische Sleeve-Gastroplastie (ESG) berichtet. Diese zielt darauf ab, eine möglichst ähnliche Magenvolumenreduktion zu erreichen wie die LSG (für eine Gegenüberstellung siehe Tabelle) (6). Mit dem Aufkommen von neuen Interventionen stellt sich die Frage, ob die chirurgische Bariatrie in Zukunft von den neuen pharmakologischen und minimalinvasiven Therapien abgelöst werden kann.
Laparaskopisches versus endoskopisches Verfahren
Sowohl die ESG als auch die LSG limitieren die Nahrungszufuhr über eine Reduktion des Magenvolumens und die Beeinflussung des entero-humoralen Regelkreislaufs. Dabei wird unter anderem die Sekretion des vorwiegend im Magenfundus vorkommenden Hungerhormons Ghrelin vermindert. Die Auswirkungen auf die gastrointestinalen Funktionen sind für die ESG und LSG somit vergleichbar (7). In der Tabelle sind die Unterschiede zwischen der ESG und LSG aufgelistet.
Lebensqualität, Wohlbefinden und Adhärenz oft vernachlässigt
Die weichen Outcomes wie die gastrointestinale Lebensqualität, das körperliche und psychische Wohlbefinden und die Einhaltung von Ernährungs- und Lebensstilempfehlungen werden bei neuen bariatrischen Interventionen oft erst nach den harten Out comes wie Mortalität, Gewichtsverlust und Kosten untersucht. Das Ziel des «EndoFood-Projekts», das im Rahmen einer Bachelorarbeit im Studiengang Ernährung und Diätetik an der Berner Fachhochschule durchgeführt wurde, lag darin, eine erste Übersicht der bereits genannten weichen Outcomes zu erarbeiten. Während des EndoFood-Projekts befragte die Ärzteschaft des Inselspitals Bern sieben ESG- und acht LSG-Patientinnen und Patienten. Die Erhebungen fanden vor sowie ein und drei Monate postoperativ
Lara Hostettler Andreas Melmer
David Fäh
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statt und erfolgten mithilfe von drei validierten Fragebogen, die dem Setting angepasst wurden (14, 15, 16). Aufgrund der kleinen Stichprobe und des zeitlich limitierten Beobachtungsfensters wurde auf statistische Tests verzichtet. Auf das Ethikgesuch trat die kantonale Ethikkommission nicht ein (Entscheid: KEK Bern, ID 2021-02143).
Unterschiedliche Interventionen, vergleichbare Outcomes
Oft besteht die Annahme, dass sich die gastrointestinale Lebensqualität nach einem bariatrischen Eingriff verschlechtert. Dies konnte im EndoFood-Projekt
weder bei der ESG noch bei der LSG festgestellt werden. Vielmehr besteht die Vermutung, dass die gastrointestinale Lebensqualität nach beiden Interventionen gleichbleibend ist oder sogar verbessert wird. Zu diesem Schluss kam auch die Studie von Fiorillo et al. (2020), die keinen statistisch signifikanten Unterschied zwischen den zwei erwähnten Interventionen feststellt (11). Aufgrund des EndoFood-Projekts könnte man vermuten, dass die minimalinvasive ESG einen besseren Outcome bezüglich gastrointestinaler Lebensqualität aufweist als die invasivere LSG. Ein weiterer wichtiger Aspekt nach einer bariatrischen Intervention ist das subjektive Wohlbefinden der Patientinnen und Patienten. Im EndoFood-Pro-
Tabelle:
Unterschiede zwischen der endoskopischen Sleeve-Gastroplastie (ESG) und der laparoskopischen Sleeve-Gastrektomie (LSG)
Endoskopische Sleeve-Gastroplastie (ESG)
Laparoskopische Sleeve-Gastrektomie (LSG)
Verfahren der bariatrischen Interventionen
Abbildung 1: Magen während einer ESG (8)
Abbildung 2: Magen nach einer LSG (9)
Methode und Operationstechnik
Bei einer ESG wird der Magen mithilfe eines über
Bei der LSG werden durch kleine Schnitte in der Bauchdecke
die Speiseröhre eingeführten Endoskops und der
Trokare eingeführt, durch welche die benötigten Instrumente
sogenannten Overstitch-Nahttechnik eingenäht.
eingebracht werden. Ein Grossteil des Magens wird während des
Dabei bleibt der Magen vollständig erhalten.
Eingriffs mit einer Klammernaht abgetrennt und entfernt (9).
Im Vergleich zur LSG wird kein Teil des Organs entfernt (8). Dabei resultiert eine vertikale Resektion der grossen Kurvatur
des Magens unter Einschluss des Fundus (4). Während der
Fundus entfernt wird, bleibt der Pylori-Sphinkter intakt (10).
Restmagenvolumen
Ca. 30% (8)
Ca. 20% (9)
Dauer Eingriff
46 Minuten (11)
99 Minuten (11)
Dauer Spitalaufenthalt
1–2 Tage (8)
3–5 Tage (9)
Medizinisches Fachgebiet
Gastroenterologie
Bariatrische Chirurgie
Betreuung
Durch ein multidisziplinäres Team gemäss
den SMOB-Richtlinien (7)
Komplikationen
Ambulante Klinikbesuche innerhalb
32% (12)
18% (12)
30 Tagen post-OP
Total unerwünschte Ereignisse
5% (12)
3% (12)
Nahtinsuffizienz
0,1% (12)
0,1% (12)
Gastrointestinale Blutung
0,3% (12)
0,1% (12)
Postoperative GERD
0% (11)
30,7% (11)
Gewichtsverlust (13) Gewichtsverlust 1 Monat post-OP Gewichtsverlust 3 Monate post-OP Remission Komorbiditäten (12) Diabetes mellitus Dyslipidämie Hypertonie
9,8% 17,1%
64% 66% 51%
6,6% 23,6%
82% 64% 36%
Gastroesophageal reflux disease (GERD/gastroösophagealer Reflux) Swiss Society for the Study of Morbid Obesity and Metabolic Disorders (SMOB)
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jekt scheint es, als würde sowohl die ESG als auch die LSG eine Verbesserung des körperlichen und psychischen Wohlbefindens erreichen. Die Studien Mehta et al. (2021) und Fezzi et al. (2011) zeigen ebenfalls einen positiven Effekt der untersuchten Interventionen auf das Wohlbefinden auf (17,18). Eine nicht spürbare oder nicht zu erwartende Adhärenz stellt eine Kontraindikation für eine bariatrische Intervention dar (7). Das EndoFood-Projekt legt die Vermutung nahe, dass die untersuchten Interventionen ähnliche Outcomes bezüglich der Einhaltung von Ernährungs- und Lebensstilempfehlungen aufweisen. Studien, die ausserhalb der Schweiz durchgeführt wurden, weisen insgesamt eine tiefere Adhärenz nach bariatrischen Interventionen auf als das EndoFood-Projekt (16, 19). Es ist denkbar, dass sich die perioperative Betreuung durch ein multidisziplinäres Team, wie sie von der Schweizer SMOB-Richtlinie zur operativen Behandlung von Übergewicht (2021) verlangt wird, positiv auf die Adhärenz auswirkt (7).
Einflussfaktor Wunschgewicht
Bei der Wahl einer bariatrischen Intervention spielen neben dem BMI, Alter und Geschlecht auch das Vorliegen von Komorbiditäten sowie die Erwartungen der Patientinnen und Patienten beispielsweise bezüglich der zu erreichenden Gewichtsreduktion eine entscheidende Rolle. Alle Teilnehmenden des EndoFood-Projekts erreichten die von der ESPEN-Guideline (2020) vorgeschlagenen Richtwerte zur Reduktion von Komorbiditäten von 5–10% Gewichtsverlust bei einem BMI von 30–35 kg/m2 und von 10–30% bei einem BMI > 35 kg/m2(20).
Fazit: Alternativen zum laparoskopischen Schlauchmagen haben Potenzial
In Bezug auf die allgemeine gastrointestinale Lebensqualität, das körperliche und psychische Wohlbefinden sowie die Adhärenz von Ernährungs- und Lebensstilempfehlungen konnte das EndoFood-Projekt keinen Unterschied zwischen der ESG und LSG feststellen. Diese Ergebnisse lassen vermuten, dass die ESG eine potenzielle Alternative zur LSG darstellen könnte. Da jedoch nur wenige Teilnehmende involviert waren, der Befragungszeitraum verhältnismässig kurz war und keine statistischen Tests und Power berechnungen vorliegen, sind die Ergebnisse mit Vorsicht zu interpretieren und nicht generalisierbar. Die vorgestellten Resultate werfen ausserdem weiterführende Fragen bezüglich Anerkennung und Nachhaltigkeit der ESG als bariatrische Therapieoption auf. Mit der Revision des Krankenversicherungsgesetzes fordert der Bund von den Gesundheitsberufen die Stärkung der Qualität und Wirtschaftlichkeit von Interventionen (21). Bevor die ESG als obligatorische Leistung der Krankenversicherung anerkannt werden kann, sind also stichhaltige Beweise im Bereich der Wirksamkeit, Kosteneffizienz und Zweckmässigkeit notwendig. Das multidisziplinäre Team könnte für diesen Nachweis beispielsweise einen Fragebogen ein-
Abbildung 3: Ergebnisse über den ganzen Zeitraum des EndoFood-Projekts, dargestellt in Liniendiagrammen (als mediane Punktzahl der Fragebogen, nESG=7, nLSG=8) ESG = Endoskopische Sleeve-Gastroplastie, LSG = Laparoskopische Sleeve-Gastrektomie
setzen, der im EndoFood-Projekt verwendet wurde. Neben den durch die Klinik erhobenen direkten Kosten (Verweildauer im Spital, Medikamente, stationäre und ambulante Behandlung) und indirekten Kosten (Invalidität, Absenzen, Produktivität) könnten damit auch die intangiblen Kosten (z. B. Verbesserung der Lebensqualität) erfasst werden.
Autorinnen und Autoren: Patricia Brandenberger* und Lara Hostettler*, des. Ernährungsberaterinnen BSc BFH, Andreas Melmer, PD Dr. med. et Dr. phil. David Fäh, Prof. Dr. med. *geteilte Erstautorenschaft
Korrespondenzadresse: Prof. Dr. med. David Fäh, Master of Public Health, FMH, Prävention und Gesundheitswesen, NDS Humanernährung ETH, Berner Fachhochschule, Departement Gesundheit/ Ernährung und Diätetik Finkenhubelweg 11, 3008 Bern E-Mail: david.faeh@bfh.ch
Die Autorinnen und Autoren haben keine Interessenskonflikte.
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Literatur: 1. Bundesamt für Gesundheit. Übergewicht und Adipositas. Published
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