Transkript
MALNUTRITION
GLIM-Kriterien in der ärztlichen Praxis
Was bringen die neuen Diagnosekriterien der Mangelernährung im Alltag?
Natasha A. Müller, Roxana Wimmer, Carla Wunderle, Pascal Tribolet, Philipp Schütz und Nina Kägi-Braun
Neu wurden für die Diagnose der Mangelernährung die GLIM-Kriterien (Global Leadership Initiative of Malnutrition) definiert. Sie sollen helfen, bei erfassten Risikopatienten, ein differenziertes Assessment des Ernährungsstatus durchzuführen. Nun sollen diese neuen Kriterien in der Praxis auf ihre Aussagekraft überprüft werden.
Natasha A. Müller Nina Kägi-Braun
Bei zahlreichen Erkrankungen gibt es international anerkannte und standardisierte Leitlinien, um die Krankheit zu diagnostizieren und entsprechend die geeignete Therapie einzuleiten. So sind beispielsweise Elektrokardiogramme und Herzenzymmessungen essentiell für die Diagnose eines Myokardinfarktes und im diagnostischen Algorithmus bei Patienten mit Thoraxschmerzen nicht mehr wegzudenken. Für die Diagnosestellung der Mangelernährung hingegen gab es international bis vor kurzem weder einen einheitlichen diagnostischen Algorithmus noch klar definierte diagnostische Kriterien. Zur Identifikation von Patienten, welche ein erhöhtes Risiko für das Vorliegen einer Mangelernährung aufweisen sowie zur Erkennung einer manifesten Mangelernährung wurden bisher stattdessen unterschiedliche Screening- und Assessmenttools angewendet. Dabei sollten die Screeningtools primär Patienten identifizieren, welche ein erhöhtes Risiko haben, eine Mangelernährung zu entwickeln oder bereits mangelernährt sind. Im Anschluss sollte bei diesen Risikopatienten ein genaueres Assessment des Ernährungsstatus stattfinden, welches anthropometrische Parameter (Körpergrösse, Körpergewicht, BMI, usw.), die Körperzusammensetzung sowie diverse Biomarker beinhaltet. Zudem wird die täglich benötigte Energiezufuhr bestimmt (z. B. durch indirekte Kalorimetrie) und/oder berechnet (z. B. durch die Haris-Benedikt-Formel) und der Proteinbedarf anhand des Körpergewichts abgeschätzt. Dieses Assessment diente als Grundlage für die eigentliche Diagnosestellung und in Folge für die Therapie einer Mangelernährung (1). Die Anwendung dieser Tools erleichtern im klinischen Alltag das Erkennen von Risikopatienten für das Vorliegen einer Mangelernährung. Allerdings stellt diese Vielfalt an Möglichkeiten des Screenings ein Problem bezüglich Standardisierung dar, insbesondere auch was weitere Forschung anbelangt – war doch eine internationale Vergleichbarkeit von Studien und mangelernährten Patientenkollektiven anhand dieser unterschiedlichen diagnostischen Massnahmen nicht ohne weiteres möglich. Gleichzeitig ist auch die korrekte finanzielle
Abgeltung für mangelernährte Patienten mit nachgewiesen höherem Risiko für einen schwereren Krankheitsverlauf nicht einfach, solange es keine einheitliche Diagnose des Krankheitsbildes gibt. Deshalb hat sich vor einigen Jahren ein internationales Expertenkomitee zusammengeschlossen und im Jahre 2018 die Global Leadership Initiative of Mal nutrition (GLIM)-Diagnosekriterien (GLIM-Kriterien) für Mangelernährung vorgeschlagen (2). Diese GLIM-Kriterien sollten den ersten Schritt bilden zu einer international anerkannten standardisierten Mangelernährungsdiagnose.
GLIM-Diagnosekriterien – Definition
Die Diagnosestellung der Mangelernährung gemäss GLIM-Kriterien erfolgt in einem 2- bzw. 3-stufigen Vorgehen (2). Zunächst erfolgt ein Screening, um Patienten zu identifizieren, welche ein erhöhtes Risiko haben, dass überhaupt eine Mangelernährungssituation vorliegt. Dabei kann jedes validierte beziehungsweise anerkannte Screeningtool angewendet werden (Abbildung). In einem zweiten Schritt soll anschliessend bei allen im Screening detektierten Patienten anhand der Anwendung der GLIM-Kriterien überprüft werden, ob tatsächlich eine Mangelernährungssituation vorliegt. Die Abbildung zeigt eine Übersicht über die einzelnen Bestandteile der GLIM-Kriterien. Diese setzen sich aus 3 phänotypischen (ungewolltem Gewichtsverlust, niedrigem BMI und reduzierter Muskelmasse) und 2 ätiologischen Kriterien (reduzierter Nahrungsaufnahme oder Malassimilation und Inflammation oder hoher Krankheitsschwere) zusammen. Um die Diagnose einer Mangelernährung zu stellen, muss jeweils ein phänotypisches und ein ätiologisches Kriterium erfüllt sein. In einem dritten Schritt erfolgt anhand der Ausprägung der phänotypischen Kriterien die Schweregradeinteilung der Mangelernährung in eine moderate oder eine schwere Mangelernährung. Nach erfolgreich gestellter Mangelernährungsdiagnose muss ein adäquates und angemessenes Therapiekonzept in
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einem interdisziplinären Team erstellt werden. Dazu können die ä tiologischen Kriterien zuhilfe gezogen werden (2). Das GLIM-Komitee hat bei der Publikation der GLIM-Kriterien dazu aufgerufen, diese vorgeschlagenen Kriterien in klinischen Studien anzuwenden und mit den bisherigen Assessmenttools zu vergleichen, um die GLIM-Kriterien zu validieren und gegebenenfalls im Verlauf optimieren zu können.
GLIM-Kriterien im medizinischen Alltag: Stärken und Schwächen
Seit Bekanntgabe der GLIM-Kriterien wur-
den diese in vielen retro- und prospektiven
Studien angewendet. So wurde z. B. in einer
Sekundäranalyse einer grossen randomisiert
kontrollierten Mangelernährungsstudie der
GLIM-Status retrospektiv berechnet und die
Studienpopulation entsprechend in
GLIM-positiv und GLIM-negativ stratifi-
ziert (3). Es handelte sich hierbei um eine
Patientenpopulation von positiv auf Mangel-
ernährung gescreenten (NRS-2002) medizi-
nischen, stationären Patienten aus 8 ver-
schiedenen Schweizer Krankenhäusern. Von
diesen erfüllten 62% die GLIM-Diagnose-
kriterien, was mit Resultaten von anderen
Studien gut übereinstimmt (4, 5). Im Ver-
gleich zu den GLIM-negativen Patienten
hatten die GLIM-positiven ein 1,6-fach er-
höhtes Risiko für ein unerwünschtes klini-
sches Ereignis und ein 2,4-fach erhöhtes
Risiko, in den ersten 30 Tagen zu versterben. Somit wurden durch die GLIM-Diagnose-
Abbildung: Diagnosealgorithmus gemäss GLIM-Kriterien
kriterien diejenigen identifiziert, die einen
schlechteren Krankheitsverlauf hatten. In
sollte ein solches diagnostisches Werkzeug auch eine
der zweiten Fragestellung ging es darum, ob die Aussage über das Therapieansprechen machen
GLIM-Kriterien auch die Personen identifizieren, die können? Da es wie bereits erwähnt für Letzteres keine
am besten von einer individualisierten Ernährungs- gute Evidenz gibt, ist eine Erweiterung und Verbesse-
therapie profitieren. Und tatsächlich konnten in der rung der Mangelernährungsdiagnostik ein wichtiges
GLIM-positiven Gruppe mehr unerwünschte Ereig- Thema für die Zukunft: Als Erstes wäre es sinnvoll, das
nisse durch die Ernährungstherapie verhindert werden Screening zu präzisieren. Da die Autoren keine Vor-
als in der GLIM-negativen. Diese Resultate waren je- gaben machen, welches Screeningtool zur Detektion
doch nicht statistisch signifikant und somit lässt sich von Risikopatienten zu verwenden ist, werden die
diese Frage nicht abschliessend beantworten. Eine re GLIM-Kriterien mit den verschiedenen Screening-
trospektive Studie aus China kam zu einer ähnlichen tools kombiniert und angewendet. So liegt die Prä-
Schlussfolgerung, dass bei einer Diagnostik mittels valenz der Mangelernährung gemäss GLIM-Kriterien
GLIM-Kriterien nicht alle Patienten erfasst werden, und in Abhängigkeit des verwendeten Mangelernäh-
welche von einer Ernährungstherapie profitieren wür- rungs-Screeningtools bei 61,6% (NRS-2002) [7],
den (6). Somit sind die GLIM-Kriterien sicherlich spe- 52,9% (MNA [short-form]) (8) sowie bei 42,4%
zifischer für mangelernährte Patienten/-innen mit (MUST) (9). Eine weitere Studie untersuchte die
schlechtem Verlauf – es besteht aber die Gefahr, dass sie Übereinstimmung der GLIM-Kriterien und somit der
zu wenig sensitiv sind und somit Patienten verpasst Mangelernährungsdiagnosestellung in Abhängigkeit
werden, welche von e iner Therapie profitieren könnten. des zuvor verwendeten Screeningtools (NRS 2002,
MST, MUST und PG-SGA) im gleichen Patienten-
Ausblick und Optimierung
kollektiv (10). Dabei zeigte sich, dass in d ieser Studi-
der GLIM-Kriterien
enpopulation je nach verwendetem Screeningtool
10–24% der Patienten als mangelernährt eingestuft
Nun stellt sich die Frage: Reicht es, wenn ein Diagno- wurden, davon 3–8% mit schwerer Mangelernährung
setool die Prognose einer Krankheit voraussagt, oder (10). Diese Ergebnisse zeigen, dass ein doch klinisch
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relevanter Unterschied in der Spezifität und Sensitivität der Mangelernährungsdiagnose anhand der GLIM-Kriterien in Abhängigkeit zum verwendeten Mangelernährungs-Screeningtools besteht. Weiterhin verzichteten einige Studien sogar auf das von der GLIM empfohlene vorgängige Mangelernährungs-Screening und wendeten die GLIM-Kriterien beim gesamten Studienpatientenkollektiv an (11, 12). Dies macht deutlich, dass es zur Interpretation der GLIM-Kriterien essenziell ist, diese immer unter Berücksichtigung des jeweils verwendeten Screeningtools zu betrachten. Es bleibt abzuwarten, ob sich in der Zukunft beziehungsweise durch die aktuelle Validierungsphase, in welcher sich die GLIM-Kriterien zurzeit befinden, ein Screeningtool speziell etablieren wird.
Offene Fragen
Weiterhin bleibt offen, welche Methode für die Messung der Muskelmasse am besten geeignet ist, da die Messungen im klinischen Alltag oft sehr aufwändig sind. Zur Evaluation der Muskelmasse als phänotypisches Kriterium empfehlen die GLIM-Kriterien die Messung mittels Dual-Energy-Absorptionsmessung (DEXA) oder die Anwendung anderer validierter Messmethoden zur Bestimmung der Körperzusammensetzung wie bioelektrische Impedanzmessung, Ultraschall sowie CT oder MRI (2). Da diese Messmethoden nicht global verfügbar sind, können auch die Umfangsmessung von Oberarm oder Unterschenkel zuhilfe gezogen werden zur Bestimmung der Muskelmasse. Ausserdem ist noch unklar, ob und wie man die Messungen für adipöse Patienten anpassen sollte. Es läuft momentan eine Debatte darüber, ob die Werte für das Gewicht oder den BMI adjustiert werden müssten. Weiterhin offen ist, wie die Muskelmassengrenzwerte für verschiedenen Ethnien festgelegt werden. In Situationen, in welchen die Muskelmasse nicht bestimmt werden kann, kann als alternative Methode die Muskelfunktion mittels Messung der Faustschlusskraft als Indikator für die Muskelkraft erfasst werden (2). Für die Faustschlusskraft konnte gezeigt werden, dass diejenigen mit sehr tiefen Faustschlusskraft werten bei Spitaleintritt deutlich besser von einer Ernährungstherapie profitieren (13). Dieses Kriterium könnte somit allenfalls genutzt werden, um die GLIM-Kriterien zu verbessern. Auch bei den ätiologischen Kriterien sind noch nicht alle Fragen geklärt. Vor allem beim zweiten Punkt mit der Inflammation gibt es noch Spezifizierungsbedarf. So empfehlen die GLIM-Autoren, die Einteilung aufgrund der zugrundeliegenden Krankheit zu machen, gleichzeitig erwähnen sie aber auch das C-reaktive Protein (CRP) als möglichen supportiven Parameter. Hierzu gibt es aber ebenfalls noch keine Richtlinien beziehungsweise Grenzwerte. Es scheint jedoch so, dass Patienten mit einer sehr starken Inflammation (CRP ≥ 100 mg/l) eher weniger von einer Ernährungstherapie profitieren im Vergleich zu Patienten mit normwertigen oder leicht erhöhtem CRP (14). Somit stellt sich die Frage, ob eine entsprechende Einteilung
gemäss CRP bei den ätiologischen Kriterien sinnvoll wäre.
Fazit
Die GLIM-Kriterien sind ein weltweites Konzept mit dem Ziel, die komplexe Diagnosestellung einer Mangelernährung zu vereinheitlichen. Um sich im klinischen Alltag zu etablieren, spielen die Anwendbarkeit auf eine breite Patientenpopulation und auch die vereinfachte Umsetzung und klare Therapiekonsequenz eine wichtige Rolle (15). Derzeit wird die Validierung der GLIM-Kriterien verfolgt und es zeigt sich bereits, dass der prognostische Wert der GLIM-Kriterien hoch ist. Noch unklar bleibt, ob die Sensitivität der GLIM-Kriterien genug hoch ist, um alle Patienten zu identifizieren, die auch von einer Ernährungstherapie profitieren. Ziel für die Zukunft sollte eine weitere Vereinheitlichung und die Prüfung weiterer Faktoren zur Schärfung der GLIM-Diagnosekriterien sein.
Autoren: Natasha A. Müller 1, 2, Roxana Wimmer 1, 2, Carla Wunderle MSC 1, 3, Pascal Tribolet MSC 1, 4, 5, Philipp Schütz Prof. Dr. med. 1, 2, 6, Nina Kägi-Braun MD 1, 6 1Medizinische Universitätsklinik, Allgemeine Innere und Notfallmedizin, Kantonsspital Aarau 2Medizinische Fakultät der Universität Basel 3Institut für Ernährungswissenschaften, Justus-LiebigUniversität Giessen 4 Departement Gesundheit, Fachhochschule Bern 5 Department Ernährungswissenschaften and Research Platform Active Ageing, Universität Wien 6 Medizinische Universitätsklinik, Kantonsspital Aarau Korrespondenzadresse: Dr. med. Nina Kägi-Braun Kantonsspital Aarau Medizinische Universitätsklinik Kantonsspital Aarau Tellstrasse 25 5001 Aarau E-Mail: nina.kaegi@ksa.ch
Referenzen in der Online-Version des Beitrags unter www.sze.ch
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Referenzen: 1. Cederholm T et al.: ESPEN guidelines on definitions and terminology
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