Transkript
Herausforderung in der Langzeitpflege
Dysphagie nicht verpassen
KONGRESSBERICHT
Viele Bewohnerinnen und Bewohner von Langzeitpflegeeinrichtungen weisen eine Dysphagie auf. Diese führt häufig zu Komplikationen und ist mit einer erhöhten Mortalität assoziiert. Wie gross die Herausforderung ist, auf welche Zeichen man achten soll und welches die wichtigsten Punkte der Behandlung sind, erläuterte Prof. Dorothee Volkert, FriedrichAlexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Deutschland. Sie rief dazu auf, dem Krankheitsbild mehr Beachtung zu schenken.
Die Anzahl Menschen in Langzeitpflegeeinrichtungen hat in den letzten Jahren zugenommen. Wie viele Menschen pro 100 000 Einwohner in einer solchen Einrichtung leben, zeigt die Abbildung 1. Dort wird auch ersichtlich, dass die Häufigkeit in verschiedenen Ländern sehr unterschiedlich ist, dass sie aber in praktisch allen Ländern zwischen 2013 und 2018 angestiegen ist. Aufgrund der demografischen Entwicklung wird der Bedarf an Langzeitpflege weiter zunehmen. Die Langzeitpflege steht vor grossen Herausforderungen. Die Bewohner sind im Durchschnitt über 85 Jahre alt und haben meist mehrere chronische Krankheiten, funktionelle und kognitive Einschränkungen sowie eine altersbedingte Anorexie. Die betagten Menschen bekommen ihr Essen aus einer Gemeinschaftsküche, die nur selten den persönlichen Vorlieben oder Bedürfnissen angepasst wird. Zudem sind die Menschen in der Langzeitpflege beim Essen und Trinken oft auf Hilfe angewiesen, bei einem knappen Personalbestand bleibt das eine Herausforderung. Weiter sind die Kenntnisse und das Bewusstsein für die Belange der Ernährung in vielen Institutionen verbesserungsbedürftig.
Dysphagie bei älteren Personen
Bei älteren Menschen sind Schluckstörungen häufig. Im Alter kann der Schluckakt auf verschiedenen Ebenen durch altersbedingte Veränderungen beeinträchtigt sein (Presbyphagie), zu schweren Störungen kommt es nach einem Stroke oder im Rahmen einer neurodegenerativen Krankheit, zum Beispiel bei Demenz oder bei Morbus Parkinson (2). Die Dysphagie hat eine Reihe negativer Auswirkungen, die sich gegenseitig verstärken können. So führt die Dysphagie zu einer reduzierten Nahrungs- und Flüssigkeitsaufnahme, was Malnutrition und Dehydratation zur Folge hat. Malnutrition führt häufig zu Frailty, verbunden mit vermehrten Hospitalisationen und einer erhöhten Mortalität. Gefürchtet ist als Komplikation die Aspirationspneumonie, die in kurzer Zeit zum Tod führen kann.
Awareness für Dysphagie
Um die Awareness für die Ernährungssituation von Pflegeheimbewohnerinnen und Pflegeheimbewohnern zu steigern, wurde 2007 das Projekt «nutritionDay in Pflegeeinrichtungen» gestartet (siehe Kasten). Von Anfang an wurde nach einer Dysphagie gefragt. Im ersten Jahr beteiligten sich 38 Pflegeheime/Langzeitpflegeeinrichtungen aus Deutschland und Österreich mit etwas über 2000 Bewohnern. Damals wurde die Häufigkeit der Dysphagie mit 16% beziffert (3)
und damit1al0s r.1ele0v1an6te/sjT.hjaemmadeark.a2n0nt2. D2a.s0P7ro.0jek0t9. Epub ahead of print. PMID:
hat sich weiterentwickelt, 2021 beteiligten sich bereits
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Ländern zeigen ebenso stark divergente Resultate. In einer Metaanalyse von 14 Studien fand sich beispiels-
Long-term care beds in nursing and residential care facilities, 2013 and 2018 (per 100 000 inhabitants)
1500 1250 1000 750 500 250
0
Schweden) Niederlande
Belgien) Finnland Luxemburg)
Malta Deutschland
Slovenien Frankreich
Estland Österreich
Ungarn Spanien Slovakei Dänemark Litauen Tschechien
Irland Italien Lettland Kroatien Rumänien Polen Griechenland Bulgarien Grossbritanien Schweiz Liechtenstein Norwegen Island Serbien Türkei Nord-Mazedonien
Notiz: Zypern und Portugal nicht verfügbar.
2013 2018
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2018. Anzahl Patienten pro 100'000 Einwohner. Quelle: Eu
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KONGRESSBERICHT
Wann an Dysphagie denken?
Abbildung 2: Die Dysphagie ist bei bestimmten Subgruppen von Bewohnern von Pflegeeinrichtungen häufiger zu finden (Volkert et al. [6]).
weise eine Häufigkeit von 7 bis 40% (4). Die Unterschiede beruhen darauf, dass die Assessments unterschiedlich sind und die Definition nicht einheitlich. So kann eine Feststellung einer Dysphagie nur auf der Beantwortung einer Ja/Nein-Frage auf einem Formular beruhen (5), was nur eine grobe Schätzung erlaubt.
Diagnose Goldstandard oder mit beschränkten Mitteln
Mittels eines Screening-Tests sollte bei Bewohnern der Langzeitpflegeeinrichtungen Hinweise auf eine Dysphagie gesucht werden. Bei einem positiven Screening sollte die Diagnose durch eine vertiefte klinische Untersuchung bestätigt und die Lokalisation und Schwere bestimmt werden. Inzwischen stehen grundsätzlich für die Objektivierung der Diagnose die Videofluoroskopie oder die fiberoptische Endoskopie zur Verfügung. In Langzeitpflegeeinrichtungen sind solche Untersuchungsmöglichkeiten nicht verfügbar. Es müssen einfache, unter anderem auch nicht standardisierte Tests herangezogen werden, die auch bei bettlägerigen Patienten durchgeführt w erden können. Eine grosse Rolle kommt in diesem Setting der Logopädie zu.
www.rosenfluh.ch/qr/nutrition-day
Kasten nutritionDay in nursing homes ist das Projekt einer Arbeitsgruppe, die 2007 gegründet wurde und zum Ziel hat, Daten zur Ernährungssituation in Pflegeheimen zu erheben und die Kenntnisse über die Mangelernährung und assoziierte Faktoren wie Dysphagie zu erhöhen und die Aufmerksamkeit für dieses Thema zu erhöhen. Das Projekt ist ein Teil des nutritionDay worldwide. Der nächste nutritionDay findet am 10.11. statt. Aber man kann auch später noch teilnehmen. www.nutritionDay.org
Die Dysphagie wird immer noch verpasst. In einer Analyse der nutritionDay-Daten von 2007 bis 2014 fand sich bei 23 549 Heimbewohnern in 19 Ländern eine Häufigkeit der Dysphagie von 13,4% (5). In einer multivariablen Analyse fand man verschiedene mit Dysphagie assoziierte Faktoren: Kauprobleme, kognitive Einschränkungen, Bettlägerigkeit waren besonders häufig gleichzeitig mit einer Dysphagie vorhanden, aber auch Infektionen, die eine Antibiotikagabe nötig machten, sowie neurologische und gastrointestinale Krankheiten (5). Die Arbeitsgruppe nutritionDay untersuchte anhand der Daten von 2007 bis 2021 ebenfalls, in welchen Subgruppen eine Dysphagie häufiger vorkommt (siehe Abbildung 2). In mehr als 40% der Patienten mit Dysphagie finden sich zusätzlich Kauprobleme. Überdurchschnittlich häufig ist eine Dysphagie bei Bewohnern mit Malnutrition oder Dehydratation, einem erniedrigten BMI, Demenz unterschiedlichen Grades und bei Bettlägerigkeit zu beobachten (6).
Was tun bei Dysphagie
Bei Schluckstörungen muss man dafür sorgen, dass trotzdem eine adäquate Ernährung gewährleistet ist und dass die Dysphagietherapie unterstützt wird. Ausserdem sollte man alles versuchen, um Komplikationen wie eine Aspirationspneumonie zu vermeiden. Je nach Art und Schwergrad der Schluckstörung kann die Ernährungstherapie peroral, allenfalls enteral oder selten parenteral erfolgen. Bei der oralen Ernährung können die Nahrungsmittel angedickt und gleichzeitig mit den benötigten Nährstoffen verstärkt werden. Weil das Krankheitsbild so unterschiedlich ist, sollte die Ernährung individualisiert erfolgen und regelmässig adaptiert werden, da sich das Krankheitsbild immer wieder ändern kann und von Komorbiditäten abhängt. Wichtig ist hier ein interprofessionelles Team, das vor allem die Logopädie einschliesst. Eine Studie untersuchte die Ernährungsstrategien bei über 3000 Heimbewohnern mit Dysphagie. In 83% der Fälle konnte die Ernährung peroral erfolgen. Bei 16% war eine enterale Ernährung, das heisst eine Sondenernährung, notwendig, die bei gut der Hälfte dieser Patienten noch mit peroraler Ernährung kombiniert war. In weniger als 2% der Fälle wurde eine parenterale Ernährung durchgeführt (5).
Dysphagie erhöht Mortalität
Die Dysphagie ist ein unabhängiger Risikofaktor für die Mortalität bei Heimbewohnern. In einer Studie mit über 10 000 Heimbewohnern war die Mortalität mit Dysphagie doppelt so hoch als ohne: 25% versus 12%. Bei 15% der Dysphagiepatienten wurde eine Sondennahrung gegeben. Man konnte aber keinen Unterschied in der 6-Monate-Mortalität bei Patienten mit und ohne enterale Ernährung feststellen (7). Diese Zahlen wurden von der kürzlich publizierten
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KONGRESSBERICHT
Studie Shelter-Project mit 3451 Patienten in 8 europäischen Ländern und Israel bestätigt. Auch hier war die Mortalität bei Patienten mit Dysphagie knapp doppelt so hoch: 31% versus 17%. Weiter konnte zwischen den Patienten mit einer texturmodifizierten oralen Ernährung (90% der Patienten) und einer enteralen Sondenernährung (10% der Patienten) kein Unterschied in der Mortalität festgestellt werden (8). In der nutritionDay-Analyse (5) untersuchte man die unterschiedlichen oralen Ernährungstherapien und fand grosse Unterschiede in der Strategie, nicht alle Patienten erhielten eine texturmodifizierte Ernährung (5). Zusammenfassung • Dysphagie ist ein relevantes klinisches Symptom
in der Langzeitpflege. • Dysphagie führt zu Malnutrition, Dehydratation
und einem schlechten Verlauf. • Die Strategien der Ernährungstherapie sind sehr
vielfältig und müssen individuell von einem multidisziplinären Team festgelegt werden.
Aufruf zum Handeln
Kürzlich hat eine japanische Arbeitsgruppe zum Handeln bei Patienten mit Dysphagie aufgerufen (9). Die relevanten klinischen Syndrome sollten erfasst werden, denn sie führen häufig zu Malnutrition, Dehydratation und einem schlechten Verlauf. Hier sollte eine Ernährungstherapie einsetzen. • Die Schluckfunktion und der Ernährungszustand
sollten von einem multidisziplinären Team erfasst werden. • Im Zentrum sinnvoller Ernährungsmassnahmen stehen Mahlzeiten, die in ihrer Textur der Schluckstörung angepasst, mit Nährstoffen angereichert und optisch attraktiv sind. • Die Intervention sollte den individuellen Bedürfnissen angepasst sein.
Literatur: 1. https://ec.europa.eu/eurostat/statistics-explained/index.php?title=-
File:Long-term_care_beds_in_nursing_and_residential_care_ facilities,_2013_and_2018_(per_100_000_inhabitants)_Health20.png 2. Wirth R, Dziewas R, Beck AM, Clavé P, Hamdy S, Heppner HJ, Langmore S, Leischker AH, Martino R, Pluschinski P, Rösler A, Shaker R, Warnecke T, Sieber CC, Volkert D. Oropharyngeal dysphagia in older persons – from pathophysiology to adequate intervention: a review and summary of an international expert meeting. Clin Interv Aging. 2016 Feb 23;11:189-208. doi: 10.2147/CIA.S97481. PMID: 26966356; PMCID: PMC4770066. 3. Valentini L, Schindler K, Schlaffer R, Bucher H, Mouhieddine M, Steininger K, Tripamer J, Handschuh M, Schuh C, Volkert D, Lochs H, Sieber CC, Hiesmayr M. The first nutritionDay in nursing homes: participation may improve malnutrition awareness. Clin Nutr. 2009 Apr;28(2):109-16. doi: 10.1016/j.clnu.2009.01.021. Epub 2009 Mar 5. PMID: 19264381. 4. Namasivayam AM, Steele CM. Malnutrition and Dysphagia in longterm care: a systematic review. J Nutr Gerontol Geriatr. 2015;34(1):121. doi: 10.1080/21551197.2014.1002656. PMID: 25803601. 5. Streicher M, Wirth R, Schindler K, Sieber CC, Hiesmayr M, Volkert D. Dysphagia in Nursing Homes-Results From the NutritionDay Project. J Am Med Dir Assoc. 2018 Feb;19(2):141-147.e2. doi: 10.1016/j. jamda.2017.08.015. Epub 2017 Oct 10. PMID: 29030310. 6. Volkert D, Galicia Ernst I, Sulz I, Hiesmayr M. Dysphagie prevalence in resident subgroups: nutritionDay in nursing homes 2007–2021 (unpublished). 7. Wirth R, Pourhassan M, Streicher M, Hiesmayr M, Schindler K, Sieber CC, Volkert D. The Impact of Dysphagia on Mortality of Nursing Home Residents: Results From the nutritionDay Project. J Am Med Dir Assoc. 2018 Sep;19(9):775-778. doi: 10.1016/j. jamda.2018.03.016. Epub 2018 May 31. PMID: 29778638. 8. Dell’Aquila G, Peladic NJ, Nunziata V et al. Prevalence and management of dysphagia in nursing home residents in Europe and Israel: the SHELTER Project. BMC Geriatr 22, 719 (2022). https://doi. org/10.1186/s12877-022-03402-y 9. Ueshima J, Shimizu A, Maeda K, Uno C, Shirai Y, Sonoi M, Motokawa K, Egashira F, Kayashita J, Kudo M, Kojo A, Momosaki R. Nutritional Management in Adult Patients With Dysphagia: Position Paper From Japanese Working Group on Integrated Nutrition for Dysphagic People. J Am Med Dir Assoc. 2022 Aug 17:S15258610(22)00550-3. doi: 10.1016/j.jamda.2022.07.009. Epub ahead of print. PMID: 35985419.
Zum Schluss betonte Dorothee Volkert, dass es immer noch zu wenig verlässliche Daten gebe und dass die Forschung den Nutzen verschiedener oraler Ernährungsformen bei verschiedenen Ausprägungen der Dysphagie vertieft untersuchen sollte.
Barbara Elke
Quelle: 44th ESPEN Congress on clinical nutrition and metabolism, 3. bis 6. September in Wien. Session: NutritionDay: Current challenges in clinical practice . «Dysphagia in long-term care», Prof. Dorothee Volkert, Institut für Biomedizin des Alterns, Lehrstuhl für Innere Medizin (Geriatrie), Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Nürnberg, Deutschland.
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