Transkript
FASTEN
Kurz- und langfristige Anpassungen
Auswirkungen des Fastens auf den Stoffwechsel und den Körper
Reinhard Imoberdorf
Fasten führt zu einer Reihe von physiologischen Umstellungen und Stoffwechseländerungen. Diese Anpassungsmechanismen sorgen dafür, dass die Produktion der Energie für den Zellstoffwechsel aller vitalen Organe sichergestellt wird. Normalgewichtige Menschen haben Reserven für 50 bis 70 Tage, sofern auf eine gute Hydrierung geachtet wird.
Reinhard Imoberdorf
Energiezufuhr
Die grössere Effizienz (Kalorien pro Gramm) der Energiespeicherung von Fett gegenüber Kohlenhy– draten und Proteinen spielt bei Tieren, die sich bewegen müssen, eine entscheidende Rolle. Der Mensch hat als Jäger und Sammler überlebt, und auch bei ihm war die Mobilität ein kritischer Faktor im Konkurrenzkampf mit wilden Tieren. Die Energiespeicherung in Form von Triglyzeriden im Fettgewebe war für das Überleben des Menschen zwingend erforderlich (1, 2). Die erste Priorität beim Essen ist das Bereitstellen von Energiesubstraten für die metabolischen Bedürfnisse unter Einsparung der endogenen Brennstoffe. Die zweite Priorität besteht im Aufbau der bescheidenen Glykogenreserven in Leber und Muskulatur und um die seit der letzten Mahlzeit abgebauten Proteine zu ersetzen. Die dritte Priorität ist die Umwandlung der zu viel aufgenommenen Kalorien, egal ob sie aus Kohlenhydraten, Proteinen oder Fett stammen, in Triglyzeride und die Speicherung dieser Energie im Fettgewebe.
Fastenstoffwechsel
Tabelle 1:
Energiereserven bei einem 70 kg schweren Mann (2)
Kilogramm Kilokalorien
Fettgewebe Triglyzeride 12
Muskelprotein
Kohlenhydrate Glykogen Muskel Glykogen Leber Blutglukose
6
0,40 0,07 0,02
110 000 24 000
1600 280 80
Total
135 960
Hauptziele der metabolischen Anpassungen
Gemäss Suter (4) sind es 3 wichtige Ziele: 1. Sicherstellung der Verfügbarkeit von Glukose 2. Minimierung des Proteinkatabolismus 3. Optimierung der Stoffwechsellage zur adäquaten Energieproduktion.
Beim Fasten sind diese Prioritäten umgekehrt. Der Stoffwechsel schaltet von «äusserer» auf «innere» Ernährung um (3). Dabei bezeichnet man als Nüchternzustand (= der basale oder postabsorptive Zustand) den Zeitpunkt, ab dem alle Nährstoffe und Energieträger der letzten eingenommenen Mahlzeit absorbiert sind und die Energieproduktion von endogenen Energiereserven abhängt (4). Aufgrund der grossen Energiereserven (Tabelle 1) und der metabolischen Anpassungen kann ein normalgewichtiger Mensch 50 bis 70 Tage ohne Nahrungszufuhr überleben. Ein 27-jähriger Mann ist Rekordinhaber der wahrscheinlich längsten, gut dokumentierten Fastenperiode mit einem initialen Körpergewicht von 207 Kilogramm, der über eine Zeitdauer von 382 Tagen ununterbrochenen Fastens 60% seines Körpergewichts verlor (5).
Die Phasen des Fastens
Für eine detaillierte Darstellung verweise ich auf das Kapitel «Physiologie des Fastens» von Françoise Wilhelmi de Toledo (3). Sie unterscheidet 4 Phasen des Fastens (Tabelle 2). Diese greifen ineinander und weisen unterschiedliche Energiesubstrate auf. Wenn wir nur die Nutzung der Brennstoffquelle betrachten, können wir 3 Phasen unterscheiden: die postabsorptive, die glukoneogenetische und die proteinsparende Phase (Abbildung). Ist die Glukose aus der Ernährung in den ersten 24 Stunden des Fastens vollständig aus dem Magen-Darm-Trakt absorbiert, sinkt die Blutzuckerkonzentration um ca. 10 bis 15% (4). Das signalisiert den Abfall der Insulin- und die Zunahme der Glukagonkonzentration im Blut. Glukagon stimuliert die Freisetzung von Glukose aus den Glykogen-
6 Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 5|2022
FASTEN
speichern der Leber. Durch den Abfall der Insulinkonzentration wird der Transport von Glukose in die Skelettmuskulatur und Fettgewebe reduziert, so steht genügend Glukose für den Hirnstoffwechsel zur Verfügung (6). Bei einem Fastenzustand von mehr als 3 Wochen tragen nicht nur die Leber, sondern auch die Nieren bis zu 50% zur Glukoneogenese bei. Nach weitgehendem Verbrauch des Glykogens werden verstärkt freie Fettsäuren aus dem Fettgewebe freigesetzt. Daraus resultiert eine gesteigerte Ketonkörperproduktion. Ketonkörper (Acetessigsäure, β-Hydroxybuttersäure und Aceton) werden in der Leber gebildet, wenn die β-Oxidation, das heisst der Abbau der Fettsäuren, über dem Bedarf der Leber liegt (4).
Tabelle 2:
Die 4 Phasen des Fastens (modifziert nach Wilhelmini de Toledo F [3])
Phase I oder Frühphase
Ia: Glykogenverbrauch 24 – 48 Stunden Ib: Substratgemisch aus ca. 75% Fett und 25% Glukose
Phase II oder Eiweisssparphase
Phase III oder Spätphase
Reduzierung des Proteinverbrauchs bis zu einem Substratgemisch von 95% Fett und 5% Glukose
Schneller Proteinkatabolismus während einiger Stunden (prämortaler Proteinverlust)
Phase IV oder Aufbau
Progrediente Wiederzufuhr von Nahrung (mindestens 4 Tage)
Fett – der Hauptbrennstoff des Fastenstoffwechsels
Die Lipolyse und damit die Ketogenese beginnt sehr früh, und ab dem 2. Tag des Fastens stellt Fett den Hauptbrennstoff dar. Die Skelettmuskulatur, der Herzmuskel und die Nierenrinde sind sofort in der Lage, ihren Energiebedarf vor allem durch die Oxidation von Fettsäuren und Ketonkörpern zu decken (3). Im Gegensatz dazu benötigen die glukoseabhängigen Gewebe wie Hirn, Nervengewebe, Erythrozyten und Nierenmark längere Zeit, um ihren Stoffwechsel auf Ketonkörperverbrennung umzustellen. In Tabelle 3 ist der quantitative 24-Stunden-Substrat-Umsatz eines normalen Mannes nach kürzerem und längerem Fasten dargestellt (2). Nach 5 bis 6 Wochen des Fastens erreichen die Ketonkörperkonzentrationen ein Plateau, und das Hirn braucht vorzugsweise Ketonkörper als Brennstoff und reduziert entsprechend den Glukoseverbrauch auf etwa 40 Gramm. Der Nettoeffekt ist, dass der Körper mehr und mehr die Glukoneogenese reduziert und somit die Muskulatur deutlich weniger glukoneogenetische Aminosäuren wie Glutamin und Alanin mobilisieren muss (1, 2). Die Stickstoffausscheidung reduziert sich von 12 Gramm auf 3 bis 4 Gramm pro 24 Stunden. Das bedeutet, dass der Proteinabbau von täglich 75 Gramm auf 12 bis 20 Gramm abnimmt. Würde der Proteinabbau unverändert täglich 75 Gramm wie zu Beginn betragen, wäre eine Fastendauer von mehr als 4 Wochen lebensgefährlich (3). So kann der Körper bei einer Fastenperiode weiterhin die reichlich vorhandene Energie aus dem Fett nutzen, während er das notwendige Protein spart.
Fastenketose – nicht zu verwechseln mit der diabetischen Ketoazidose
Auch bei normaler Nahrungszufuhr werden geringe Mengen Kentonkörper gebildet. Die Plasmakonzentration ist allerdings kaum messbar (≤ 0,1 mmol/l). Von einer Fastenketose wird arbiträr gesprochen, wenn die Plasmakonzentration von Acetessigsäure auf 1 mmol/l und diejenige von β-Hydroxybuttersäure auf 2 bis 3 mmol/l ansteigen, was typischerweise am 2. bis 3. Fastentag der Fall ist (7). Ketonkörper können
Abbildung 1: Brennstoffquellen (modifiziert nach Palmer BF et al. [6])
über die Lungen und den Urin ausgeschieden werden. Der süssliche Acetongeruch kann in der Ausatemluft nach 3 bis 4 Tagen des Fastens wahrgenommen werden, und mittels Urinstix kann man vor allem bei kohlenhydratrestriktiven Diäten die Ketonurie nachweisen und so die Diätadhärenz abschätzen. Wenn gesunde Personen längere Zeit fasten, steigt die Plasmakonzentration der Ketonkörper selten über 6 bis 8 mmol/l an, da durch die zunehmende Ammoniakbildung in den Nieren die Säureausscheidungskapazität erhöht wird und der zunehmende Ketonkörperverbrauch in den Nervenzellen als weiterer
Tabelle 3:
Quantitativer Substrat-Turnover in 24 Stunden bei einem normalen Mann (modifiziert nach Cahill [2]).
Fasten
3 bis 4 Tage
5 bis 6 Wochen
Komponente
Menge (g)
Menge (g)
Hirn-Glukose-Verwendung Hirn-Ketonkörper-Verwendung Splanchnikus-Glukose-Output Muskelproteolyse Fettgewebelipolyse Splanchnikusketogenese
100 50 150 75 180 150
40 100 80 20 180 150
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 5|2022 7
FASTEN
Tabelle 4:
Fastenketose und diabetische Ketoazidose
Blutzucker
Fastenketose Tief normal
Insulinkonzentration
Physiologisch tief
Volumenstatus Ketonkörperkonzentration
Normale Hydrierung Leicht erhöht
Diabetische Ketoazidose Schwere Hyperglykämie
Schwer vermindert Starke Volumendepletion Stark erhöht
Kompensationsmechanismus dient. Solange die Flüssigkeitszufuhr gewährleistet ist, bleibt das SäureBasen-Gleichgewicht erhalten, und es kommt nicht zu einer gefährlichen Azidose (3, 7). Allerdings gibt es geschlechtsspezifische Unterschiede. Bei Frauen entwickelt sich die Fastenketose schneller als bei Männern. Wahrscheinlich ist dieser Unterschied hormonell bedingt, da Östrogene die Lipolyse fördern. Zudem wird die Lipolyse bei Frauen über β-adrenerge Rezeptoren mediiert, während bei Männern nicht nur die β-adrenergen, sondern auch die a-adrenergen Rezeptoren stimuliert werden, was die Lipolyse abschwächt (6). Die diabetische Ketoazidose ist eine durch Insulinmangel verursachte lebensbedrohliche Entgleisung des Stoffwechsels, die zu einer Übersäuerung des Blutes führt und vor allem bei Patienten mit Typ-1 Diabetes auftritt. Dabei kann die Plasmakonzentration der Kentonkörper bis auf 20 mmol/l ansteigen (8). Die Hyperglykämie verursacht eine osmotische Diurese mit schwerem Flüssigkeits- und Elektrolytverlust. Tabelle 4 stellt die Fastenketose und die diabetische Ketoazidose gegenüber.
Körpergewicht
Mit einer Nulldiät, also totalem Fasten, kann der Gewichtsverlust bei Männern in den ersten 5 bis 10 Tagen bis zu 1,1 Kilogramm pro Tag betragen. Der Gewichtsverlust nimmt mit der Dauer des Fastens ab und stabilisiert sich bei etwa 0,4 Kilogramm pro Tag am Ende des ersten Monats. Mit sogenannten Semi starvation-Diäten mit einer Zufuhr von 400 bis 800 Kilokalorien pro Tag beträgt der Gewichtsverlust
lediglich 50% bis 80% im Vergleich zum totalen Fasten (9). Männer verlieren etwa 30% mehr Gewicht als Frauen und adipöse, schwerere Individuen mehr als leichtere. Während der ersten 2 Wochen ist der Gewichtsverlust vor allem durch einen hohen Wasserverlust bedingt, prozentual tragen der Proteinverlust 6 bis 10% und der Fettverlust 30 bis 50% zum Gewichtsverlust bei. Diese initial schnelle Mobilisierung von Wasser, vor allem aus dem Extrazellulärraum, mit starker Zunahme der Diurese, ist teilweise bedingt durch die fehlende nutritive Natriumzufuhr und durch die fallende Insulinplasmakonzentration, welche zu einer Abnahme der renalen tubulären Natriumresorption führt. Die langsamere Gewichtsabnahme in der Stabilisierungsphase ist ausserdem auf den sich vermindernden Energieumsatz zurückzuführen. Der Ruheenergieumsatz sinkt nach längerem Fasten um 25% bis 35% (10).
Körperliche Auswirkungen des Fastens
Die Leere des Magens und der Blutzuckerabfall lösen schon nach wenigen Stunden im Hypothalamus eine sympathikotone Stimulation mit Adrenalinausschüttung aus. Diese sympathikoadrenerge Phase dauert etwa 2 bis drei 4, bei nicht freiwilligem Fasten, also ungewolltem Hungern, länger. Daran schliesst sich eine parasympathisch betonte Phase an, mit allgemeiner Beruhigung, Pulsverlangsamung und Blutdruckverminderung (3). Gesunde normalgewichtige Menschen können längere Zeit fasten, ohne grössere Symptome zu entwickeln. Entscheidend für die Bestimmung einer angemessenen Fastendauer ist die richtige Einschätzung der substanziellen und vitalen Energiereserven (Tabelle 1). Je drastischer die Kalorienreduktion ist und je länger das Fasten dauert, desto häufiger muss mit Nebenwirkungen gerechnet werden. Der starke Wasserverlust führt dann über eine Verminderung des Plasmavolumens zu einer potenziell gefährlichen orthostatischen Hypotonie. Wenn das Fasten länger als 2 Monate dauert, können sich eine normochrome, normozytäre Anämie und eine Neutropenie entwickeln. Die häufigsten Nebenwirkungen bei einer sehr stark kalorienreduzierten Fastendiät sind
Tabelle 5:
Körperliche Symptome und Befunde bei Anorexia nervosa (modifiziert nach Kamber [11])
Haut Mund / Rachen
Trockene, schuppige Haut, brüchige Nägel, Haarausfall, Lanugobehaarung, Hypothermie, Cutis marmorata, Akrozyanose, gelbliches Hautkolorit, Ödeme
Cheilitis, Karies, Sialadenitis, Parotisschwellung
Kardiovaskulär
Hypotonie, Bradykardie, verlängerte QT-Zeit, linksventrikuläre Hypotrophie
Gastrointestinal Endokrinologisch Gynäkologisch Muskuloskeletal
Magenentleerungsstörung, verminderte Darmmotilität, Obstipation Low-T3-Syndrom, hypogonadotroper Hypogonadismus Oligo-, Amenorrhö Osteopenie, Osteoporose
8 Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 5|2022
FASTEN
Hypotension, Kälteintoleranz, Euphorie, Verstopfung oder Durchfall, trockene Haut, dünnes Haar, Anämie, Menstruationsstörungen und eine Tendenz zum längeren Schlafen (7). Diäten zur gewollten Gewichtsreduktion können vor allem bei jungen Frauen der Einstieg in eine chronische Essstörung sein und in einer Anorexia nervosa enden. Hier kommt es zu einem enormen Gewichtsverlust, und die körperlichen Symptome sind in der Regel umso stärker ausgeprägt, je tiefer der Body-Mass-Index ist (Tabelle 5). Deshalb müssen wie bei jeder anderen medizinischen Disziplin die Kontraindikationen für das Fasten berücksichtigt werden (Tabelle 6).
Tabelle 6
Kontraindikationen für das Fasten (modifiziert nach Lützner [12])
Absolute Relative
• Konsumierende Erkrankungen (aktive Tuberkulose, bösartige Erkrankung) • Erschöpfungszustände, postoperative Mangelsituationen • Aktive Psychosen • Schwangerschaft und Stillzeit
• Fehlende Gewichtsreserve • Immobilität (körperlich und geistig-seelisch) • Depressionen (Major Depression) • Fortgeschrittene koronare Herzkrankheit • Antikoagulation mit Marcumar (nur unter strenger klinischer Kontrolle möglich) • Rezidivierendes Ulcus ventriculi oder duodeni
Psychologische Auswirkungen desFastens
Wie Brunnhuber und Somburg in einem sehr lesenswerten Artikel schreiben (13), wird Fasten durch das bewusste Erleben einer Veränderung in der Kontrolle der Nahrungsaufnahme zu einer spezifisch menschlichen Erfahrung. Fasten ist ein tief greifender innerer Vorgang, eine innere Erfahrung, auch dann, wenn Anpassungsleistungen versagen. Otto Buchinger nannte diesen Vorgang «zu-sich-selbst-kommen» (14). Fasten kann die Schlafqualität, die Konzentrationsfähigkeit, die Stimmung, das Schmerzerleben, die Leistungsfähigkeit, die Wachheit oder die kognitiven Reserven bei neurodegenerativen Erkrankungen verbessern. Zudem wirkt Fasten anxiolytisch, antidepressiv sowie positiv auf das Körperschema (13). Das klingt sehr schön. Aber es kann auch grosse Probleme geben. Im wohl berühmtesten Semistarvation-Experiment von Ancel Keys in Minnesota, bei dem 36 körperlich und geistig gesunde junge Männer einem kontrollierten Hungerexperiment ausgesetzt wurden, wurden die Auswirkungen eines Gewichtsverlusts von 25% auch auf die Psyche detailliert beschrieben. Die Männer berichteten von extremer Depression, Reizbarkeit, einem Gefühl der Entbehrung, und sie verloren jegliches Interesse an Aktivitäten. Ein Proband schnitt sich beim Holzhacken 3 Finger von seiner linken Hand ab. Er konnte anschliessend nicht erklären, ob das eine vorsätzliche Selbstverletzung war, möglicherweise um den Hungerschmerz zu überwinden, oder ob es das Ergebnis einer Unfähigkeit war, normale Aufgaben mit unzureichender Nahrung auszuführen (15). Es ist also sehr wichtig, kontrolliertes Fasten medizinisch zu überwachen und zu begleiten.
Noch etwas zur Hyperurikämie beim Fasten
Beim Fasten kann die Harnsäure-Clearance um bis zu 50% sinken, und die Harnsäurekonzentration in Blut kann sehr stark ansteigen. Erfahrungsgemäss führen diese hohen Harnsäurekonzentrationen im Blut nur selten zu Gichtanfällen oder zur Bildung von Nierensteinen (3). Warum? Der Urin-pH-Wert sinkt
in den frühen Stadien des Fastens, da die entstehende Azidose die H+-Sekretion im distalen Nephron stimuliert. Das erhöht das Risiko für die Ausfällung von Harnsäure, da die Löslichkeit von Harnsäure in saurem Urin abnimmt. Das Risiko für Gichtattacken wird im Verlauf des Fastens allerdings durch mehrere Faktoren reduziert. Erstens nimmt das Urinvolumen durch die initial stark erhöhte Diurese zu und trägt so dazu bei, dass die Harnsäurekonzentration unter ihrem Löslichkeitsprodukt liegt. Zweitens, wenn die β-Hydroxybuttersäure-Konzentration ansteigt, nimmt die Ausscheidung der Harnsäure in den Urin ab, da beide Substanzen kompetitiv um die gleichen Transportsysteme in der Niere kämpfen. Schliesslich führt die Abnahme der Na+-Ausscheidung im Urin, begleitet von einem gleichzeitigen Anstieg der NH4+-Ausscheidung, zu einem weniger sauren Urin (6). Trotzdem kann es beim Fasten zu Gichtattacken und Nierensteinen kommen, vor allem wenn die Ausgangswerte der Harnsäure erhöht sind. In diesem Fall muss möglicherweise präventiv medikamentös behandelt werden.
Abschliessende Gedanken
Ich habe mich in diesem Artikel vor allem auf physiologische Vorgänge beim Fasten konzentriert. Das Fasten ist aber auch ein komplexer psychologischer Vorgang und zugleich ein mentaler Prozess (vgl. Psychologische Auswirkungen des Fastens [13]). Wie Brunnhuber und Somburg treffend formulieren, wird die spezifisch menschliche Aktivität des Fastens erst erlebbar und zu einer essenziellen Erfahrung, wenn die psychologischen gemeinsam mit den physiologischen Mechanismen wirken.
Korrespondenzadresse: Dr. med. Reinhard Imoberdorf Klinik für Innere Medizin Kantonsspital 8401 Winterthur reinhard.imoberdorf@ksw.ch Tel. 052 266 23 16
Interessenkonflikt: Der Autor hat, bezogen auf den Artikel, keine finanziellen Abhängigkeiten. Referenzen in der Online-Verson des Beitrags unter www.sze.ch
Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 5|2022 9
FASTEN
Referenzen 1. Cahill GF Jr: Starvation in man. Clin Endocrinol Metab. 1976;5:397-415. 2. Cahill GF Jr: Starvation. Presidents Address. Trans Am Clin Climatol
Assoc. 1983;94:1-21. 3. Wilhelmi de Toledo F: Physiologie des Fastens. In: Stange R, Leitzmann
C (Hrsg.). Ernährung und Fasten als Therapie. Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018. https://doi.org/10.1007/978-3-662-54475-4_14 4. Suter PM: Checkliste Ernährung. Thieme Verlag 2008. 3. Auflage. S 1517. 5. Stewart WK, Fleming LW: Features of a successful therapeutic fast of 382 days' duration. Postgrad Med J.1973;49:203-209. 6. Palmer BF et al.: Starvation ketosis and the kidney. Am J Nephrol. 2021; 52:467-478. 7. Hoffer LJ: Metabolic consequences of starvation. In: Ross AC, Caballero B, Cousins RJ, Tucker KL, Ziegler TR (eds.). Modern Nutrition in Health and Disease. pp 660-677. Wolters Kluwer / Lippincott Williams & Wilkins.11th ed. 2014. ISBN 978-1-60547-461-8. 8. Puchalska P et al.: Metabolic and signaling roles of ketone bodies in health and disease. Annu Rev Nutr. 2021; 41: 49-77. 9. Fisler JS et al.: Starvation and semistarvation diets in the management of obesity. Annu Rev Nutr. 1987;7:465-484. 10. Drenick EJ: The effects of acute and prolonged fasting and refeeding on water, electrolyte, and acid-base metabolism. pp 1481-501. In: Maxwell MH, Kleeman CR (eds.). Clinical Disorders of Fluid and Electrolyte Metabolism New York: McGraw-Hill 1980. 11. Kamber V: Essstörungen – nicht nur ein psychiatrisches Problem. Schweiz Med Forum. 2005;5:1195-1202. 12. Lützner H: Fasten als Erlebnis, medizinische Prävention und Therapie Grundlagen und Methodik. In: Stange R, Leitzmann C (Hrsg.). Ernährung und Fasten als Therapie. Springer-Verlag GmbH Deutschland 2018. https://doi.org/10.1007/978-3-662-54475-4_14 13. Brunnhuber S et al.: Psychologie des Fastens. zkm 2018;2:56-62. 14. Buchinger O: Das Heilfasten. 1. Aufl. Stuttgart: Hippokrates; 1935. 15. Ancel Keys et al.: The Biology of Human Starvation. Copyright 1950 by the University of Minnesota.
10 Schweizer Zeitschrift für Ernährungsmedizin 5|2022